Retrospektive Digitalsemester: gesammelte Statements der HFD-Community

Retrospektive Digitalsemester: gesammelte Statements der HFD-Community

03.08.20

Von digitalen Erstiwochen, über #SemesterHacks und Online-Diskussionen zur Entwicklung neuer Formate und Fähigkeiten, bis hin zu digitalen Prüfungen: Nahezu alle Bereiche der Hochschullandschaft wurden innerhalb kürzester Zeit zum Experimentierfeld und ihre Akteure durch Engagement und Solidarität zu #SemesterChampions. Das erste digitale Semester geht zu Ende und gibt damit Anlass für eine Zwischenbilanz. Wir haben die HFD-Community zu Statements aufgerufen. Welche Experimente waren erfolgreich, welche bereits im Versuchsaufbau fehlerhaft und was nehmen wir für die kommenden Semester mit? Wir sammelten die Antworten in Tweet-Länge und sechs ausführlicheren Expert*innen-Statements. Deutlich wird: Präsenz ist im Studium, der „Lebensphase des Kollektiven, unverzichtbar. Es gilt daher herausfinden, inwiefern hybride Lösungen auch langfristig möglich werden können. Erste Ansätze hierzu zeigen, dass der Erfahrungsschatz bereits nach den ersten Monaten in der digitalen Lehre enorm gewachsen ist.

Noch vor einem Jahr habe ich darauf hingewiesen, dass das Bildungssystem reif für eine Disruption ist und man eben niemals weiß, was diese Disruption auslösen wird. Auf einen Virus hätte ich sicherlich nicht gewettet.

Das Positive zuerst: ein voll digitales Semester, das geht! Vorlesungen, Praktika, Projektbesprechungen, Planung von Abschlussarbeiten und zuletzt Prüfungen – all das funktioniert online. Während ich schon vorher viel mit digitalen Medien gearbeitet habe, waren elektronische Prüfungen bislang stets tabu für mich. Nun war ich gezwungen, elektronische Prüfungen zu gestalten. Das ging viel besser als vermutet. Vieles Undenkbare ist möglich geworden. Statt Vorlesungen gab es Videos und Online-Beratungstermine.

In Zukunft gilt für mich: alles Standardisierte geht online ins Netz und wird jederzeit verfügbar sein. Die Veranstaltungen mit Studierenden werden dafür individueller und improvisierter. Doch es gab auch Einschränkungen. Die Zusammenarbeit der Studierenden in Teams und das Nutzen haptischer Materialien war schwerer. Der informelle Austausch, die zufälligen Begegnungen auf dem Flur, das schnelle Nachfragen – all das fehlte in diesem Semester. Für mich sind auch das Vermissen und die Wertschätzung der Präsenzlehre eine weitere positive Erkenntnis. Wir sind unfreiwillig Teil eines großen Digitalisierungs-Experiments geworden. Wir haben gelernt, was online genauso gut, besser, oder eben doch bzw. noch nicht so gut geht.

Die letzten Monate waren ein Notbetrieb. Und Not macht erfinderisch. Bei aller Anstrengung war dieses Semester auch befreiend, weil man sich von alten Annahmen und eingespielten Prozessen lösen durfte. Daher: Lassen Sie uns in den Kreativbetrieb übergehen! Präsenzlehre wird im Winter nur in Kleingruppen, Blockveranstaltungen und einer engen Verzahnung mit digitalen Lernräumen möglich sein. Aus diesen Experimenten müssen wir lernen. Gerade wegen der vielen negativen Auswirkungen von Corona müssen wir uns das Versprechen abringen, die Krise als Chance zu nutzen.

„So viel wie in diesem Semester habe ich noch nie gelernt“ solche und ähnliche Sätze höre ich aktuell von den Lehrenden unserer Hochschule immer wieder. Die sehr kurzfristige Umstellung von nahezu reiner Präsenz auf vollständige Online-Lehre war (und bleibt) eine Herausforderung – für Lehrende und Studierende. Gleichzeitig haben wir – durch das richtige Mindset aller Beteiligten – in der kurzen Zeit viel ausprobiert und konnten unseren Studierenden ein vollständiges Lehrangebot bieten. Auch in den anderen Bereichen der Hochschule sind viele neue und gute Arbeitsabläufe implementiert worden.

Genau hier haben wir mit unserem Festival der Errungenschaften angesetzt und hochschulweit gesammelt, welche neuen „Good Practices“ in den verschiedenen Bereichen entstanden sind. Wir haben viele Rückmeldungen, sowohl von den Beschäftigten als auch von den Studierenden, erhalten.

Mir ganz persönlich, zum Beispiel, wurde wieder klar, wie wichtig Räume für kreative Gedanken sind, als ich am Anfang der Corona-Zeit die notwendigen Präsenztermine nach draußen verlegt habe. Andere berichten von dem großen Gewinn für die Lehre und das Lernen durch die Möglichkeiten der Online-Kollaboration und vermeintliche Kleinigkeiten, wie die digitale Unterschrift, erleichtern das Leben enorm. Schön sind auch die wöchentlichen fachbereichsweiten Meetings, in denen sich alle Lehrenden über neue Methoden, Tools und Erfahrungen in der Online-Lehre austauschen. Auch unsere Studierenden sind nicht untätig geblieben. Sie haben extra einen Discord Server aufgesetzt, um sich auch weiterhin, jetzt online, mit ihren Lerngruppen zu treffen.

Unser Ziel an der HRW ist es, aus Corona zu lernen. Wir wollen diese guten und sinnvollen Praktiken, die jetzt entwickelt wurden, uns auch für die Zukunft erhalten.

Im zurückliegenden Sommersemester haben sehr viele von uns, vielleicht mehr als zuvor, im Internet nach bestehenden Lehr- und Lernmedien gesucht, die man „auf die Schnelle“ für die Online-Lehre einbinden konnte. Dabei blieben quasi alle Materialien auf der Strecke, die nicht offene Bildungsressourcen mit einer entsprechenden Nutzungslizenz (beispielsweise CC BY 4.0) waren. Man sollte also eigentlich vermuten, dass dies die große Stunde für Open Educational Resources (OER) war.

… leider weit gefehlt, denn wir haben anscheinend (immer noch nicht) die notwendige Einstellung dazu, gute, offene Lehr- und Lernmaterial der Kolleginnen und Kollegen zu nutzen. Stattdessen verzichten wir (aus welchen Gründen auch immer) lieber auf den Einsatz der OER-Materialien oder bauen uns unsere eignen Lehr- und Lernmedien.

Für das kommende Wintersemester würde ich mich sehr freuen, wenn wir gemeinsam daran arbeiten würden, diesen (Neudeutsch) Mindset abzuändern. Konkret fände ich es sehr lohnenswert, wenn der bereits vorhandene OER-Inhalt einmal von Expertinnen und Experten aus dem jeweiligen Fach kuratiert und unter Qualitätsgesichtspunkten bewertet würde. In Anlehnung an die Stiftung Warentest, die vielen von uns nutzen, wenn sie privat Dinge anschaffen, wäre eine „Stiftung Lehr- und Lerntest“ eine Aktivität, deren Ergebnisse sich für uns alle bereits im kommenden Wintersemester positiv auszeichnen würden.

Anfang des Jahres haben wir uns als DigitalChangeMaker gefragt, wie wir neue Akteur*innen dafür gewinnen können, sich mit der digitalen Lehre auseinander zu setzen. Dann kam das digitale Semester an die Universitäten und es gab kaum noch jemanden, der oder die nicht damit beschäftigt war, auf die digitale Lehre umzustellen. Haben wir also neue Akteur*innen gewonnen? Geht es nach Corona positiv weiter?

Ich weiß nicht. Denn in Bezug auf das Wintersemester geht es schon wieder mehr darum wie man – zumindest ein bisschen – in Präsenz zurückkehren kann, als darum, digitale Lehre didaktisch zu verbessern. Das digitale Semester hat aufgezeigt, wie viel weniger selbstverständlich ist, wenn wir uns nicht mehr auf die Alltagskompetenzen von allen Beteiligten verlassen können und wie nötig es gewesen wäre, frühzeitig digitale Kompetenzen bei allen Akteur*innen zu schulen.

Gruppenfindung, die im analogen Raum auf Blickkontakt und erste Eindrücke untereinander funktioniert, gestaltet sich schwierig, Gruppenarbeit erst recht. Die Sprechkompetenzen von allen werden auf die Probe gestellt, wenn man durch ein Mikro spricht. Denn plötzlich gibt es viel mehr Kriterien, auf die man achten muss. Didaktik, die Dozenten sich über Jahre angewöhnt und kaum mehr reflektiert haben, fällt in sich zusammen, weil sie nicht aufs Digitale übertragbar ist. Die Unsicherheit und Überforderung, die das Warten auf Antworten und Entscheidungen mit sich gebracht haben, wurden zu oft nach unten durchgereicht.

Das Resultat sind Klüfte. Zwischen Lehrenden, die wahnsinnig gute Arbeit machen und sich total reinhängen und denen, die ihre eigene Überforderung an Studierende weiterreichen. Zwischen Studierenden, die mitkommen und weiter studieren und denen, die Module abbrechen. Zwischen Motivation und Frustration. Was ich gelernt habe ist, dass wir die Frage zu Beginn des Jahres falsch gestellt haben. Wir müssen Lehrende nicht für digitale Lehre begeistern, sondern für digitale Didaktik. Dafür digitale Kompetenzen zu lernen und zu lehren.

Universitäten sind agil. In wenigen Wochen haben Lehrende, Studierende und Mitarbeiter*innen in Administration und Technik unter den Bedingungen einer Jahrhundertpandemie ein flächendeckend digitales Semester auf die Beine gestellt. Wer hätte das im Februar für möglich gehalten? Entscheidend dafür waren Improvisationstalent, unermüdlicher Einsatz und eine pragmatische Herangehensweise. Auch wenn es die Organisationen und ihre Mitglieder stellenweise an ihre Grenzen geführt hat: Das Pandemiesemester macht Mut für die Zukunft. Drei Beobachtungen nach dem Kraftakt:

Erstens: Digitale Lehre hat sich bewährt. Über das gesamte Fächerspektrum hinweg ist sie für bestimmte Bausteine des Lehrangebots keine Notlösung, sondern kann gegenüber Präsenzlehre sogar Vorteile bieten. Es hat sich, zweitens, bestätigt, was bereits den vorpandemischen Konzepten und Projekten der Universitäten zugrunde lag: Digitale Lehre ist da besonders gut, wo nicht der Versuch gemacht wird, analoge Formate nachzubilden, sondern wo die Eigenlogik digitaler Medien angemessen berücksichtigt und didaktisch sinnvoll genutzt wird. Dass beispielsweise Online-Vorlesungen mehr sein sollten als Powerpoint-Folien mit Audiokommentar – solche Erkenntnisse haben den universitären Lehrkörper im Sommersemester 2020 tiefer durchdrungen als in den Jahren zuvor. Drittens ist am Ende des Semesters die Sehnsucht nach Präsenzlehre und persönlicher Begegnung spürbar. Universitäten sind lebendige Orte; sie leben vom direkten Austausch, aus dem Geistesblitze und neue Ideen hervorgehen, in Frage gestellt und neu entworfen werden. Im gemeinsamen Lernen und Forschen haben Freundschaften und Partnerschaften ihren Ursprung. All dies, was eine Universität ganz wesentlich ausmacht, lässt sich digital nicht adäquat nachbilden. Vor diesem Hintergrund stimmt der Blick auf eine Universität unter Pandemiebedingungen auch melancholisch – bei allem Stolz auf die Widerstandskraft, mit der sie der Corona-Pandemie ihren Forschungs- und Lehrbetrieb abtrotzt.

Was also bleibt? Ein klares Bewusstsein für die Chancen der Digitalisierung und für den Wert universitärer Präsenzkultur. Stolz, Sehnsucht – und Zuversicht.

Um es kurz zusammenzufassen, nutze ich die Worte von René Rahrt, eines der studentischen ChangeMaker des HFD: „Die ad Hoc digitalisierte Lehre ist nicht das digitale Lehren und Lernen der Zukunft!“.

Nach meiner Ansicht können die deutschen Universitäten stolz darauf sein, dass es ihnen gelungen ist, ihr Lehrangebot in so kurzer Zeit umzustellen. Auch wenn es eine turbulente Reise war: Das Engagement und der Wille es möglich zu machen, waren auf allen Ebenen der Universität spürbar. Und das nicht nur in Göttingen. Das hat mich tief beindruckt und in dieser Intensität auch ein wenig überrascht. Machen wir uns nichts vor, hätten Sie dies letztes Jahr für möglich gehalten? Seminare über Videokonferenzen, Online-Prüfungen, mit Studierenden chatten etc., waren für viele an den deutschen Hochschulen eine ebenso exotische, neue Erfahrung wie die vielen Einblicke in die häuslichen Arbeitsplätze.

Doch wo stehen wir nun, am Ende des Sommersemesters? War das digitale Sommersemester erfolgreich? Und bei dieser Frage stoßen wir auf eine alte Wahrheit. Das Lehrangebot ist nur ein Teil – allerdings ein sehr wichtiger Teil – des Ganzen. In letzter Konsequenz gilt die Frage “Wie erfolgreich war der Lernprozess der Studierenden?“ Wie bewerten wir also, dass Studierende mit dem digitalen Angebot viel zufriedener sind als mit der Umsetzung ihrer eigenen Semesterziele?  Oder, dass Lehrende es als viel schwieriger empfinden die Studierenden in den Videokonferenzen aktiv einzubinden als im Seminarraum? Warum verschieben viele Studierende ihre Prüfungen auf das nächste Semester?

Und auch hier stoßen wir auf eine bekannte Wahrheit: Digitales Lehren ist keine einfache Fortführung der üblichen Lehre nur auf einem anderen Kanal. Digitales Lehren und Lernen braucht angepasste didaktische Konzepte, die auf die Besonderheiten des Faches und der Medien eingehen und die Studierenden motivieren. Neu ist hingegen, dass wir mit dem digitalen Sommersemester über einen unglaublichen Erfahrungsschatz verfügen, aus dem es viel zu lernen gibt. Wir müssen uns nur die Zeit dafür nehmen und nicht vorschnell urteilen auf dem Weg zum digitalen Lehren und Lernen der Zukunft.

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