Lernraumgestaltung im digitalen Wandel II – ein Interview mit Inka Wertz

Lernraumgestaltung im digitalen Wandel II – ein Interview mit Inka Wertz

03.06.19

Lernraumgestaltung hängt nicht nur von der Auswahl der Sofas ab.

Wie verändert Digitalisierung die Lernraumgestaltung in Hochschulen? Dieser Leitfrage widmet sich die aktuelle HFD-AG Lernarchitekturen. Denn digitale Hochschulbildung stellt neue Anforderungen an die Gestaltung physischer Lernräume in Hochschulen; vor allem aufgrund des zunehmenden Einsatzes von Bildungstechnologien und sich damit wandelnden Lehr-Lern-Settings. In einer Interview-Reihe zu Lernräumen kommen die Mitglieder der Arbeitsgruppe mit ihren verschiedenen Perspektiven aus Forschung, Pädagogik, Flächenplanung und Architektur auf das Thema Lernräume zu Wort. Das erste Interview der Reihe mit Prof. Dr. Richard Stang ist hier nachzulesen.

Student schläft mit Buch auf Couch.

Frau Wertz, Flächenplanung an Hochschulen ist ja per se kein neues Thema. Warum ist die Gestaltung von Lernräumen an Hochschulen so aktuell?

Durch die Möglichkeiten der Digitalisierung und die mit der Bologna-Reform verbundene Kompetenzorientierung verändern sich die Prozesse des Lehrens und Lernens. Das hat natürlich Auswirkungen auf den Raum- und Flächenbedarf. So findet Unterricht im Zuge kompetenzorientierter Lehre verstärkt in (Klein)Gruppen statt. Diskursive Prozesse stehen im Vordergrund, die klassische Frontallehre geht stark zurück. Für diese kommunikativen Arbeitsweisen braucht man aber andere Raumstrukturen als die, die derzeit üblicherweise vorhanden sind. Denken Sie nur an die klassischen Hörsäle mit ansteigendem Gestühl.

Auch in anderen Bereichen macht sich die Digitalisierung bemerkbar. So werden z. B. in den Natur- und Ingenieurwissenschaften mehr und mehr Versuche virtuell durchgeführt. Hier gibt es mittlerweile Kooperationen verschiedener Hochschulen, die gemeinsam virtuelle Labore bespielen und die Studierenden so auf die praktischen Anforderungen des Studiums vorbereiten. Auch das kann sich, je nach Konzeption, auf den Flächenbedarf der Lernräume auswirken.

Aus Ihrer Perspektive der baulichen Hochschulentwicklung: An welchen Punkten wird Digitalisierung relevant für die bauliche Infrastruktur?

Die Digitalisierung berührt und betrifft eigentlich alle baulichen Bereiche der Hochschule. Angefangen bei den klassischen Lehrräumen, über die Labore, Bibliotheken, individuellen Lernflächen bis zur Verwaltung. Unterstellt man, dass aus vermehrten diskursiven Prozessen und verstärkter Gruppenarbeit eine erhöhte Präsenz der Studierenden am Campus resultiert, sind sogar die Versorgungseinrichtungen indirekt betroffen.

Derzeit am relevantesten sind unserer Meinung nach aber die Lehr- und Lernflächen. Sie müssen Studierenden wie Lehrenden ermöglichen, die neuen kommunikativen, kreativen und kooperativen Arbeitsweisen auszuprobieren und umzusetzen.

Als Planer stehen wir vor der Herausforderung, die Entwicklungen, die zum Teil in den einzelnen Fachrichtungen und Hochschultypen sehr unterschiedlich ablaufen, ein Stück weit vorweg zu nehmen. Auch die Frage, wie mit dem Bestand umzugehen ist, treibt uns um. Wie passt man z. B. Hörsäle mit ansteigendem Gestühl den neuen Bedarfen an? Welchen Stellenwert nimmt der persönliche Kontakt zu den Lehrenden in Zukunft ein? Was bedeutet das für das Nutzungsverhalten?

Um auf all diese Herausforderungen flexibel reagieren zu können, bedarf es einer anpassungsfähigen Planung, die zum frühen Zeitpunkt „nur“ den Rahmen setzt und erst nach und nach im Planungsprozess differenzierter wird sowie einer entsprechenden räumlichen und technischen Infrastruktur.

Stuttgarter Bibliothek.

Lernräume: Flexibilität als zentrales Thema

Können Sie vielleicht schon Trends oder Entwicklungstendenzen nennen?

Wie schon erwähnt, ist Flexibilität ein ganz großes Thema. Räume müssen auf die unterschiedlichsten Arten nutzbar sein. Dazu bedarf es einer günstigen Raumstruktur, entsprechendem Mobiliar und flexibler Technik. Nur so wird die Dynamik möglich, die die neuen Lernprozesse benötigt.

Auch eine umfassende zeitliche und räumliche Zugänglichkeit der Lernräume muss gewährleistet werden. Es kann nicht sein, dass Studierende sich auf zugigen Gängen zum Lernen treffen müssen, da Lehrräume zwar leer stehen aber verschlossen sind.

Zudem müssen Studierende wie Lehrende in die Lage versetzt werden, die Potentiale der angebotenen Infrastruktur zu erkennen und zu nutzen. Dazu benötigen sie eine gewisse „Raumkompetenz“, also das Wissen um die Möglichkeiten und Chancen von Raumarrangements und um deren Wirkung. Diese muss aber erst einmal erworben werden, sei es durch Informationsveranstaltungen oder durch schlichtes Ausprobieren.

Insgesamt sollte das Thema Lernräume ganzheitlich betrachtet werden. Dazu gehören neben der erwähnten Infrastruktur und Zugänglichkeit auch Versorgungsaspekte und weitere weiche Standortfaktoren wie Aufenthaltsqualität und Service. Im Grunde ist der ganze Campus ein Lern- und Kommunikationsraum, ergeben sich aus zufälligen Begegnungen und interdisziplinärem Diskurs doch häufig interessante Impulse. Diese Interdisziplinarität sollte durch entsprechende Begegnungsflächen unbedingt gefördert werden.

Insgesamt kommt den Hochschulen als Anbieter für lebenslanges Lernen und Innovationsmotoren der Regionen künftig eine noch wichtigere und erweiterte Rolle zu. Sie müssen sich verstärkt nach außen öffnen und dafür auch ihr ein Stück weit elitäres Image ablegen. Sie sollten eine Willkommenskultur schaffen und die Impulse, die Studierende verschiedensten Alters, verschiedener Nationalitäten und Bildungshintergründe in die Hochschule tragen, als Chance zur Weiterentwicklung verstehen. Dafür müssen sie sich zeitlich und räumlich öffnen und ein attraktiver Ort des Verweilens, Diskutierens und kreativen Miteinanders werden.

Lernraumgestaltung hängt nicht nur von der Auswahl der Sofas ab.

Rückblickend auf Ihre Forschung baulicher Hochschulentwicklung: Welche Hürden oder Stolpersteine in der baulichen Planung haben Sie besonders beobachtet?

Den Verantwortlichen an den Hochschulen fehlt leider oft der Sinn für und der Mut zu Innovationen. So werden Lern- und Lehrräume häufig nach einem Standard-Schema eingerichtet, das zwar der klassischen Vorstellung von Lehre gerecht wird, das aber nicht mehr zukunftsfähig ist. Hier muss eine gewisse „Raumkompetenz“ erst noch erworben werden.

Auch die Bedeutung der Hochschule als Ort des kooperativen Lernens und als Institution die mehr als nur Fachwissen vermittelt, steht noch zu selten im Vordergrund. Hierfür bedarf es integrierter Entwicklungspläne, die sowohl formelle als auch informelle Lernplätze mit einbeziehen und die auch die künftige Rolle der Bibliotheken berücksichtigen. Viele Hochschulen sind hier aber schon auf einem guten Weg.

Auch die Dauer der Planungsprozesse erweist sich als schwierig. So werden Gebäude häufig erst 5-10 Jahre nach Beginn der Planungen bezogen. In Bezug auf die im Zuge der Digitalisierung sehr dynamisch gewordenen Entwicklungen in Forschung und Lehre sind dann die ursprünglich geplanten Nutzungen oft schon wieder überholt.

Insbesondere die im Planungsprozess frühzeitige Festlegung der Nutzungsarten der einzelnen Räume erweist sich unter dem Gesichtspunkt einer vermeintlichen Kostensicherheit zwar als verständlich, ist aber in Bezug auf flexible Nutzungsanforderungen eher hinderlich.

Welche Empfehlungen können Sie Hochschulleitungen mit auf dem Weg geben sich dem Thema “Lernraumplanung” nachhaltig anzunähern?

Zunächst einmal ist es wichtig, alle Akteure mit einzubeziehen: Im Grunde bräuchte jede Hochschule eine eigene Arbeitsgruppe Lernarchitekturen, besetzt mit Lehrenden und Studierenden, Mitarbeiter*innen der Verwaltung und der Hochschulleitung. Nur so wird gewährleistet, dass beim Thema Lernräume die Interessen und Bedürfnisse aller berücksichtigt werden.

Wie schon erwähnt, sollte das Thema ganzheitlich betrachtet werden und sich nicht nur auf die klassischen Raumarten wie Hörsäle oder Seminarräume beschränken. Auch Selbstlernflächen und informelle Begegnungsflächen wie z. B. interdisziplinäre Kommunikationszonen spielen eine Rolle. Der ganze Campus sollte als Lernraum gedacht werden, mit allen seinen Facetten. Da hinein spielen auch Themen wie Sicherheit, zeitliche und räumliche Zugänglichkeit, gastronomische Versorgung und Aufenthaltsqualität.

Zudem sollten die Hochschulen in Austausch und Diskussion miteinander treten. Was machen andere? Wie erfolgreich ist das? Welche Rückschlüsse lassen sich für meine Hochschule ziehen? Wo könnte man zusammenarbeiten? Auch die Nutzung von Synergien mit Anbietern aus der Wirtschaft und anderen Institutionen im Umfeld der Hochschule spielt eine große Rolle.

Und nicht zuletzt brauchen die Hochschulen: Mut zu Neuem und eigenen Ideen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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