Interview Katrin Schillinger – Expertin für Lernraumentwicklung HAW Hamburg

Interview Katrin Schillinger – Expertin für Lernraumentwicklung HAW Hamburg

11.08.21

Portrait der Autorin. Text: Interview. "Der Lernort soll ein Ort der Kooperation und Partizipation zwischen Studierenden, Lehrenden und Unternehmen sein." Katrin Schilling von der HAW Hamburg.

Die Erfahrungen der Corona-Pandemie werfen ein ganz neues Licht auf Lehr-, Lern- und Arbeitsräume in Hochschulen. Nach drei Digitalsemestern wünschen sich zwar viele Studierende sowie Lehrende Präsenzmöglichkeiten zurück. Doch es zeigen sich auch viele Vorteile und Mehrwerte aus der digitalen Hochschullehre. Für Lernraumgestalter*innen ist dies eine interessante Zeit. Katrin Schillinger, Expertin für Lernraumentwicklung an der HAW Hamburg, teilt im Gespräch mit HFD-Mitarbeiterin Anne Prill ihre Perspektiven zum Thema zukunftsfähige Lernraumentwicklung. 

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Anne Prill: Frau Schillinger, Sie sind 2019 als Referentin für Lernraumentwicklung an der HAW Hamburg gestartet. Das ist sicher keine “Standard-Stelle” an einer Hochschule. Welche Aufgaben sind mit dieser Position verbunden und welche Expertisen können sie hier besonders gut einsetzen?

Katrin Schillinger: Diese Beobachtung ist völlig zutreffend und genau genommen gab es diese Stellenbezeichnung zu Beginn auch nicht. Meine Einstiegsfrage 2019 lautete: Was fordert und ermöglicht der digitale Wandel für Studium und Lehre? In einem zuvor erfolgten Design Thinking-Prozess wurden vier Prototypen erarbeitet und meine Aufgabe bestand zu Beginn darin, diese weiterzuentwickeln und zu validieren. Neben Co-Working, kollaborativem Lernen und Wissenstransfer war Lernraumgestaltung einer der vier Prototypen.

Es geht darum, weniger zu dozieren und mehr zu moderieren. Weniger zu sagen, mehr zu fragen, zu beobachten und hinzuhören.

Die HAW Hamburg war mir bereits bekannt durch meine Tätigkeit als Gastdozentin für agiles Projektmanagement im Masterstudiengang Digitale Kommunikation. Mich reizte der offen formulierte Projektauftrag, der mir viel Gestaltungsspielraum ermöglichte. Im zunehmenden Projektverlauf erkannte ich, dass eine Fokussierung notwendig war. Unsere Wahl fiel auf Lernraumentwicklung, weil wir den Eindruck gewonnen hatten, dass in diesem zugegeben komplexen Thema besonders viel Potenzial steckt.

In einem derart lebendigen und dynamischen Feld baue ich auf folgende Expertisen:

  • Umgang mit Komplexität
  • Vernetztes Denken
  • Begleitung von Innovations- und Veränderungsprozessen

In meinem Selbstverständnis geht es jedoch gar nicht darum, die Intelligenteste bzw. Top-Expertin in allen Themen zu sein, sondern viel mehr die Intelligenz und Expertise der anderen zu moderieren. Es geht darum, weniger zu dozieren und mehr zu moderieren. Weniger zu sagen, mehr zu fragen, zu beobachten und hinzuhören.

Zusammengefasst hat sich meine Rolle als Referentin Lernraumentwicklung entwickelt und ist in weiterer Entwicklung. So habe ich mich seit April 2021 weiter fokussiert auf den Schwerpunkt hybride Lernräume und verstehe mich folglich als Gestalterin für Lernumgebungen der Zukunft. Ich freue mich, in dieser neuen Rolle einen aktiven Beitrag zu leisten, die Digitalisierungsstrategie der HAW Hamburg mit Leben zu füllen.

AP: Welche Lernraumprojekte haben Sie an der HAW Hamburg begleitet und welche Veränderungen haben sich daraus bereits ergeben? 

KS: Ich habe mich seit 2019 in verschiedenen Lernraumprojekten zu unterschiedlichen Fragestellungen und in unterschiedlicher Intensität engagiert. Dabei wurde mir bewusst, dass Lernraumentwicklung einen strategischen Rahmen braucht.

Als eine der ersten deutschen Hochschulen haben wir eine Lernraumstrategie entwickelt. Dafür haben wir ein interdisziplinäres Redaktionsteam gebildet mit der Vizepräsidentin für Studium und Lehre sowie Gleichstellung, der Leitung Didaktik, der Teamleitung Baumanagement und mir. In kurzen Schreib-Sprints haben wir bewusst eine Beta-Version formuliert, d.h. eine vorläufige Version, die schrittweise im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) überarbeitet wird.

Auf Initiative der Dekanin der Fakultät Wirtschaft und Soziales (W&S) haben wir eine fakultätsoffene AG Raum und Didaktik gestartet. An dieser Fakultät stehen verschiedene Umbaumaßnahmen und Raumveränderungen an. So haben wir gemeinsam wesentliche Grundfragen zur Raumentwicklung diskutiert. Es ging u.a. um die Aspekte: Werte bei der Raumentwicklung, Kooperation mit den Bibliotheken, Ausstattung und Verortung von PC Pools sowie Lernräume als Experimentierräume. Mit diesem regelmäßigen Vernetzungsformat haben wir eine Plattform zum Austausch und zur Diskussion geschaffen und die vorhandenen Akteure zusammengebracht.

Der Lernort soll ein Ort der Kooperation und Partizipation zwischen Studierenden, Lehrenden und Unternehmen sein.

Als konkretes Raumprojekt nenne ich den Lernort Digitale Umformtechnik an der Fakultät Technik und Informatik (TI), bei dem es darum ging ein vorhandenes Labor für Umformtechnik in einen Lern- und Begegnungsort weiterzuentwickeln. Als Hochschule für angewandte Wissenschaften sind Labore bei uns ein zentraler Bestandteil von Lehre und Lernen. Weiterhin gibt es zwischen der Fakultät Technik und Informatik (TI) und der Fakultät Life Sciences (LS) inhaltliche-fachliche Schnittmengen, so dass damit auch ein Wissenstransfer zwischen den Fakultäten möglich wird.

Der Lernort soll ein Ort der Kooperation und Partizipation zwischen Studierenden, Lehrenden und Unternehmen sein. Dieser persönliche Interaktionsort ist ein Orientierungspunkt für die jeweilige Peergroup: Studierende untereinander, Lehrende untereinander, Studierende und Lehrende miteinander und die damit verbundene Lehr-Lernbeziehung.

Ein solcher räumlicher Kontext kann maßgeblich dazu beitragen, die Selbstlernfähigkeit aufrecht zu erhalten, Lernerfolge sicher zu stellen und Lernprozesse in Reflexionsprozessen selbst erfahrbar zu machen. Damit gelingt es neben sozialem Lernen ebenso Verstehen und Können zu fördern. Die gemeinsamen Erfahrungen und Erkenntnisse aus diesem Lernraumprojekt haben wir in einem Artikel zusammengefasst.

AP: Mit welchen wichtigen, internen wie externen, Stakeholdern arbeiten Sie zusammen und wie gestalten Sie die Zusammenarbeit?

KS: Wir sind überzeugt davon, dass ein Schlüssel für die Nachhaltigkeit unserer Initiativen in der kontinuierlichen Beteiligung der jeweiligen Nutzer*innen, Expert*innen sowie Stakeholder liegt: „People own what they help create“.

Konkret sind dies Lehrende, Forschende und Studierende sowie Hochschulleitung, Hochschulverwaltung, IT- und Infrastrukturabteilungen, Bibliotheken, Medien- und Didaktikzentren. Zusätzlich stehe ich im lebendigen Austausch mit Expert*innen von anderen Hochschulen aus dem DACH-Raum und Skandinavien.

Außerdem ist unsere Hochschule Mitglied eines europaweiten Netzwerks, aus dem wir Impulse beziehen. Weitere Expertise liegt dadurch vor, dass die HAW Hamburg seitens der Fakultät Design, Medien und Information (DMI) am Projekt „Lernwelt Hochschule“ beteiligt war und sich auch beim Folgeprojekt „Lernwelt Hochschule 2030“ einbringt.

Die Art der Zusammenarbeit ist vielfältig und geht von einem 1:1-Austausch, Projektarbeit bis hin zu den zuvor genannten Vernetzungsformaten. Uns liegt viel daran, dass der Fokus dabei nicht nur auf dem Raum an sich oder der IT-Ausstattung liegt, sondern auf den diversen Bedarfen der beteiligten Akteur*innen.

Abschließend noch ein Hinweis bzw. Erfahrungswert zum Thema Stakeholder als solches. Bei einer europäischen Konferenz haben wir mit einem Poster zu Lernraumentwicklung teilgenommen und dazu auch folgenden Cartoon eingesetzt, um zu verdeutlichen, dass es neben Stakeholder-Beteiligung auch die Nutzersicht bedarf.

Comic mit zwei gezeichneten Panels. Panel 1, Überschrift "Stakeholder": Zwei Erwachsene schauen in eine Kinderkrippe, über der ein Mobile mit vier Stofftieren hängt und kommentieren dieses mit "I love it". Panel 2, Überschrift "Users": Die Betrachtenden nehmen die Perspektive des Babys in der Krippe ein, das nur die Hinterteile der Tiere im Mobile sieht.

AP: Wie hat sich das Thema Lernraumentwicklung durch die Corona-Pandemie aus Ihrer Perspektive verändert? Gibt es neue Fragestellungen oder sind die bestehenden drängender geworden?  

KS: Die Hochschulen stehen heute mehr denn je in der Verantwortung, die Studierenden für die digitale (Arbeits-) Welt vorzubereiten. Bei der Vermittlung sogenannter Future Skills stehen neue Studiengänge und die Weiterentwicklung bestehender Curricula, die Vermittlung von Data-Literacy-Kompetenzen sowie die Schaffung neuer Lernräume und agiler Innovationsräume im Einklang. Viele Hochschulen sind im Bereich Curriculum-Entwicklung und Data Literacy-Kompetenzen bereits gut aufgestellt. Dies ist nicht zwingend der Fall für Lernraumentwicklung, wie auch schon Ihre Einstiegsfrage beweist.

Der Anstieg der Mediennutzung und virtueller Inhalte ermöglicht weitgehend orts- und zeitunabhängiges Lernen. Zugleich wächst die Bedeutung physischer (Lern-)Räume. Auf diese Anforderungen sind die Hochschulen bisher ungenügend vorbereitet. So ist auch das Zusammenspiel von digitalen und physischen Lernräumen bislang wenig entwickelt, sondern führt zu Parallelentwicklungen.

Krisen sind nahezu zwangsläufig auch Innovationstreiber und bieten Chancen zur Transformation.

Die Corona-Pandemie wirkte wie ein Katalysator, d.h. die zuvor skizzierten Rahmenbedingungen und Anforderungen wurden „schmerzhaft“ deutlich. Damit sind solche Krisen nahezu zwangsläufig auch Innovationstreiber und bieten Chancen zur Transformation.

Wir orientieren uns dabei an der sog. Transformationspyramide von Dr. Holger Schmidt der TU Darmstadt. Diese wurde für den ökonomischen Kontext entwickelt und enthält vereinfacht gesprochen die drei Ebenen der Strategie, Management/Prozesse und Technologie. Speziell bei digitaler Lernraumentwicklung besteht die Tendenz, sich ausschließlich auf Fragen der Technologie zu konzentrieren. Die Pyramide unterstreicht, dass eine erfolgreiche Transformation der bisherigen Lernraumgestaltung auch eine strategische und prozesshafte Komponente beinhaltet.

Vor dem Hintergrund der Pandemie-Erfahrungen und ausgehend von einem Selbstverständnis als praxisbezogener Präsenzhochschule bilden für uns an der HAW Hamburg persönliche Begegnung und Auseinandersetzung den Kern von wissenschaftlich reflektierter Praxis. Dies gilt es mit den Chancen und Möglichkeiten von digitalen Lernräumen zu verbinden und schon sind wir beim Thema der hybriden Lernräume.

AP: Welche Empfehlungen können Sie anderen Lernraumgestalter*innen aus Ihren Erfahrungen mit auf den Weg geben? 

KS: Zukunftsfähige Lernräume zu entwickeln ist ein komplexes Unterfangen mit entsprechendem Zeithorizont. Gleichzeitig erfordert der vorhandene Platzmangel an Hochschulen schnelle und konkrete Lösungen. Ein Spannungsfeld, in dem es auch darum geht, Raum zum Experimentieren zu schaffen und neue Möglichkeiten zu erproben. Denn eine besondere Herausforderung besteht unseren Erfahrungen nach darin, dass es bei Fragen zur Entwicklung von modernen Lernräumen keine Experten*innen für die Zukunft gibt. Umso wichtiger ist uns deshalb der Raum zum Experimentieren und für Agilität, im Sinne von iterativem Vorgehen.

In unserem aktuellen Projekt („Hybride Lernräume im digitalen Wandel“) nähern wir uns mit agilen Projektmethoden den Projektzielen. Eine Herangehensweise ist beispielsweise „Fail Fast“. „Mit „Fail Fast“ oder „schnellem Scheitern“ wollen wir einzelne Projektansätze zügig erproben und uns dazu Feedback einholen. So können wir bei einem dynamischen Thema wie hybriden Raumstrukturen unmittelbar ableiten, welche Schritte im Projekt gut laufen oder optimiert werden müssen.

Die hochschulweite Beteiligung macht den Kerngedanken der (hybriden) Lernraumentwicklung aus.

Eine weitere Empfehlung lautet, die Idee von (hybriden) Lernräumen, von Anfang an ganzheitlich zu denken und die verschiedenen Bedürfnisse integriert zu betrachten. So arbeiten wir fakultätsübergreifend mit allen vier Fakultäten (DMI, LS, TI, W&S) zusammen, die durchaus sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Kulturen bezogen auf Lehren und Lernen haben. Diese hochschulweite Beteiligung macht den Kerngedanken der (hybriden) Lernraumentwicklung aus: Es ist ein Querschnittsthema und lebt von Vernetzung. Der Prozess mag dadurch zeitintensiver sein, doch wir bauen darauf, dass das Ergebnis umso nachhaltiger ist. Folglich ist Prozessgestaltung ein Schlüsselfaktor und diese Prozesse brauchen Zeit.

Wir haben zusätzlich die Erfahrung gemacht, dass es entscheidend ist, die Komplexität des Themas deutlich und gleichzeitig „begreifbar“ zu machen. In diesem Kontext nutzen wir die Metapher einer Zwiebel. Die äußere Hülle sind die learning outcomes ( „Was“). In der Mitte sind Lernprozesse und Aktivitäten („Wie“) und ganz innen lässt sich daraus die Raumidentität („Wozu“) ableiten. Dieses systematische Vorgehen hat sich bisher als nützlich erwiesen, da viele Beteiligte schnell auf die Ebene der Raum-Ausstattung „springen“, ohne vorab zu reflektieren, welche Lernaktivitäten u./o. learning outcomes der entsprechende Raum ermöglichen soll.

AP: Wie sieht Ihr persönlicher Campus der Zukunft aus und welche Mehrwerte muss er bieten? 

Mein persönlicher Campus der Zukunft bietet Lösungen und Antworten auf folgende zukunftsweisende Entwicklungen (siehe Visualisierung aus der Lernraumstrategie):

Grafische Darstellung mit sechs weißen Punkten, auf denen jeweils ein Symbol passend zu dem entsprechenden Text abgebildet ist. Die Schlüsselbegriffe lauten: Aufenthaltszeiten, kollaborativer Studienerfolg, Konkurrenz um Studierendenzahlen, Schlüssel- und Zukunftskompetenzen, Interdisziplinarität, Flexibilitätsoptionen

Für die einzelnen Akteur*innen heißt dies:

  • Studierende können sich auf diesem Campus und digital Kompetenzen aneignen, die sie befähigen die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen.
  • Lehrende nehmen vermehrt die Rolle als Lernbegleiter*innen wahr und bieten adaptierte Studieninhalte und Formate an.
  • Als Gesamtsystem Hochschule schaffen wir Freiräume und Orte der Begegnung, auch mit der beruflichen Praxis, damit Studierende und Lehrende gemeinsam den Campus der Zukunft gestalten.

Damit fungiert der Campus als Reallabor („living lab“) und hybride Lernraumentwicklung ist Treiber und Baustein für den Campus der Zukunft. Wir verstehen an der HAW Hamburg Digitalisierung dabei nicht nur als rein technologische Entwicklung, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Dimension.

AP: Und zum Schluss: Eine Frage, die ich Ihnen nicht gestellt habe, die Sie aber gerne beantworten würden?

KS: Vielen Dank, dann entscheide ich mich, die Frage aufzugreifen, mit welchen vielschichtigen Veränderungsprozessen das Thema Lernraumentwicklung einhergeht und damit verbunden noch einmal abschließend die Relevanz der Prozessbetrachtung zu betonen. So lautet ein elementares Ziel der Lernraumstrategie der HAW Hamburg: „Wir schaffen Hochschulprozesse und -strukturen zur systematischen und hochschulweiten Entwicklung und Evaluation von Raumkonzepten.“

Eng damit verknüpft sind elementare Herausforderungen für die jeweiligen Akteur*innen:

  • Hochschulleitung: Finanz- und Personalressourcen für die Lernraumentwicklung einrichten,
  • Organisationseinheiten: Über Organisationsgrenzen hinweg kooperieren,
  • Hochschullehrende: Lehr-Lernszenarien gestalten, die Aneignungsprozesse in Selbstverantwortung bei den Studierenden unterstützen und Rollenverständnis reflektieren,
  • Studierende: Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen und an der Lernraumentwicklung ebenso verantwortlich mitarbeiten. Und Lernorte aktiv und kreativ nutzen und dadurch täglich Zukunft „mitgestalten“.

Deutlich wird, dass dies nur gemeinsam und mit vereinten Kräften umzusetzen ist.

AP: Vielen Dank für das Gespräch!

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