Fakten, Fakes und Fiktion: Die wahre Herausforderung nach Corona

Fakten, Fakes und Fiktion: Die wahre Herausforderung nach Corona

15.10.20

Mann lesend vor Computer

Die Corona-Pandemie erschüttert die Welt. Hochschulen versuchen durch Online-Lehre den Studienbetrieb aufrechtzuerhalten. Doch ist die Umstellung von Präsenz- auf Online-Lehre die einzige Herausforderung, der sich die Präsenzhochschulen auf dem Weg ins digitale Zeitalter stellen müssen?

Junge Frau mit Laptop.

 

Die Antwort auf die einleitend gestellte Frage lautet: Nein, denn mit der Digitalisierung und der zunehmenden Technikunterstützung gibt es für die Hochschulen weit größere Herausforderungen als die Corona-bedingte Ad-hoc-Umstellung der Lehre auf Online-Angebote. In Zeiten zunehmender Informationsverfügbarkeit wird die wahre Herausforderung darin bestehen, zwischen Fakten, Fakes und Fiktionen unterscheiden zu können – wie im nachfolgenden Expert*inneninterview bestätigt wird. 
Die drei Fachhochschul-Professorinnen Doris Weßels, Inga Pollmeier und Anja Wiebusch haben mit drei Expert*innen über die Herausforderungen und Potenziale der Online-Lehre während der Corona-Krise gesprochen:

Expert*inneninterview

Von Fakten zu Fakes

Das in Auszügen dargestellte Interview verdeutlicht die unterschiedlichen Einstellungen der direkt und indirekt betroffenen Stakeholder zum Einsatz der Online-Lehre in Corona-Zeiten. Der gewonnene Eindruck entspricht jedoch nicht der Realität. Die Autorinnen dieses Beitrags haben die vorgestellten Personen weder interviewt, noch existieren diese Gesprächspartner und die von ihnen dargestellten Expertisen überhaupt.

Haben Sie beim Lesen des Interviews bemerkt, dass dort keine realen Personen geantwortet haben? Auf den ersten Blick sind die Ansichten und Aussagen durchaus plausibel und nachvollziehbar. Nur beim konzentrierten Lesen der vermeintlichen Antworten mag in Ausnahmefällen eine Täuschung erkannt worden sein.

Das gesamte Interview ist nicht real. Sowohl die Personen als auch die Antworten der fiktiven Expert*innen wurden mit wenigen Mausklicks über moderne Lösungen der Künstlichen Intelligenz (KI) generiert (Wang 2019). Ausgehend von einem selbst entworfenen Interviewleitfaden wurden die Fragen über das KI-gestützte Übersetzungstool des Kölner Start-ups DeepL (DeepL Translator 2020) zunächst in die englische Sprache übersetzt, bevor mit dem Textgenerierungstool Talk to Transformer (King 2019) auf der Basis von KI passende Antworten generiert wurden. Die mit DeepL ins Deutsche zurückübersetzten Antworten sind im Original im Interview wiedergegeben.

„Es könnte nur noch eine Frage von (kurzer) Zeit sein, bis KI in der Lage ist, wissenschaftliche Beiträge zu generieren, die sich nicht mehr von menschlichen Werken unterscheiden lassen.“

Die wahre Herausforderung für das System Hochschule

Das durchgeführte Experiment verdeutlicht, dass mithilfe von KI verfasste Texte zum jetzigen Zeitpunkt eher unspezifisch und nicht immer logisch konsistent formuliert sind. Bei fachlichen Zusammenhängen stößt die KI klar an ihre Grenzen, da das Domänenwissen Stand heute noch nicht vollständig abgebildet werden kann. Gleichwohl veranschaulicht das gewählte Vorgehen, dass es nur noch eine Frage von (kurzer) Zeit sein könnte, bis KI in der Lage ist, das Domänenwissen der Fachdisziplinen kompetent zu nutzen und dadurch wissenschaftliche Beiträge zu generieren, die sich dann nicht mehr von menschlichen Werken unterscheiden lassen (Writer 2019). Wenn sich die KI in den nächsten Jahren über Ansätze des Machine Learning vertiefendes Domänenwissen und einen erweiterten Wissenskorpus aus digitalen Quellen aufbauen sollte, ist absehbar, dass diese selbstlernenden Systeme in Konkurrenz zu den wissenschaftlichen Beiträgen der Hochschulen treten bzw. diese sogar ersetzen werden. Darüber hinaus ist denkbar, dass fiktive Personen als Fake Expert*innen in Erscheinung treten, die durch künstlich generierte Beiträge Einfluss auf den wissenschaftlichen Diskurs nehmen und so zur Wissens- und Meinungsbildung beitragen könnten. So zeigte ein Experiment von Microsoft bereits 2016, dass ein selbstlernender, als weiblicher Avatar auftretender Chatbot namens Tay außer Kontrolle geriet, da er innerhalb eines Tages eine sexistische und rassistische Haltung auf Twitter entwickelte (Beuth 2016). Diese Perspektiven führen zu Entwicklungen, die die Grundlage unserer Gesellschaft im Umgang mit wissenschaftlichen Werken an sich verändern werden.

Sollte KI so ausgereift sein, führt die digitale Disruption dazu, dass das in der jetzigen Form bewährte Hochschulwesen ins Wanken gerät. Nicht nur der uns bekannte Umgang mit wissenschaftlichem Fachwissen und Veröffentlichungen oder mit dem Urheberrecht wird dann beispielweise ein anderer sein müssen. Auch die Ausbildung der Studierenden im Allgemeinen und speziell im Hinblick auf die vermittelten Kompetenzen zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben werden überdacht werden müssen.

„Damit stellen viele Seminar- und Abschlussarbeiten , so wie sie Stand heute konzipiert sind, keine adäquate Form der Kompetenzüberprüfung mehr dar.“

Sofern eine ausgereifte KI zukünftig in der Lage ist, wissenschaftliche Arbeiten per Knopfdruck zu generieren, muss bei eingereichten schriftlichen Arbeiten generell angezweifelt werden, ob diese überhaupt eigenständig von den Studierenden verfasst wurden. In dem wichtigen Kompetenzfeld zum wissenschaftlichen Arbeiten wird die Eigenleistung der Studierenden damit nur schwer überprüfbar sein. Damit stellen viele Seminar- und Abschlussarbeiten, so wie sie Stand heute konzipiert sind, keine adäquate Form der Kompetenzüberprüfung mehr dar.

Junger Mann vor dem Computer

 

Unsere Empfehlungen

Wie können sich Hochschulen zukünftig neu ausrichten? Diese Fragestellung kann nur unter Berücksichtigung der durch den Bologna-Prozess vorgegebenen Zielsetzung der Output-Orientierung beantwortet werden. Aus Sicht der Autorinnen können folgende Handlungsempfehlungen formuliert werden, die im jeweiligen fachlichen Kontext und für jede Fachdisziplin naturgemäß unterschiedlich zu bewerten und zu nutzen sind.

  • Das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten wird auch weiterhin eine wichtige Kompetenz sein, die die Studierenden während ihrer Studienzeit erwerben sollten. Jedoch ist der Kompetenzerwerb nur noch dann sinnvoll überprüfbar, wenn rein deskriptive und synthetisierende, auf vorhandene Literaturquellen bezogene Arbeiten vermieden werden. Die Aufgabenstellungen für wissenschaftliche Arbeiten müssen zukünftig auf projekt- und problembasierte Fragestellungen ausgerichtet sein, die mehr kreative Eigenleistungen der Studierenden erfordern, welche nicht mehr durch KI gelöst werden können. Die Problemlösungskompetenz muss somit zukünftig noch stärker im Fokus stehen.
  • Sofern dies nicht möglich ist, sollten Prüfungsformen gewählt werden, die eine persönliche Überprüfung der zu erreichenden Kompetenzen in den Vordergrund stellen. Im Rahmen einer qualitativ hochwertigen Hochschulausbildung werden dann zeit- und betreuungsintensivere Prüfungsformen, z. B. mündliche Prüfungen und Präsentationen, einen höheren Stellenwert erhalten müssen.
  • Sozialkompetenzen sind Stärken, bei denen sich der Mensch klar von der KI abgrenzen kann. Somit sollten sie bei der Entwicklung zukünftiger Veranstaltungs- und Prüfungsformen im Fokus stehen. Projektarbeiten in (idealerweise interdisziplinär besetzten) Teams stellen eine Prüfungsform dar, die zukünftig einen höheren Stellenwert bekommen muss.
  • Modulübergreifend muss die Digital Literacy als eigenständiges Themenfeld zur Förderung der Digitalkompetenz in allen Studiengängen gestärkt werden. Ergänzend dazu sollten ethische und urheberrechtliche Aspekte in Hochschulmodulen stärker berücksichtigt werden. Die Einführung eines Verhaltens- und Ehrenkodexes, der in den Prüfungsordnungen fest verankert ist (inklusive Sanktionen wie der Exmatrikulation), und die Schaffung verantwortlicher Stellen in der Organisation werden dringend empfohlen, siehe auch die in den USA an einigen Hochschulen etablierten Offices of Research Integrity.
  • Bei allen Ansätzen ist der Rollenwechsel für Lehrende hin zu Lernbegleiter*innen und Coaches immer deutlicher zu erkennen. Dieser Rollenwechsel verlangt eine Anpassung der Lehrverpflichtungsverordnungen, da der aktuelle Fokus auf Präsenzlehre mit Deputatsabrechnungen über Semesterwochenstunden wie ein Relikt aus früherer Zeit bewertet werden muss. Solange der Zeitaufwand für moderne Lehrformen nicht adäquat im Lehrdeputat berücksichtigt wird, werden Lehrende unzureichend incentiviert, um ihre zeitlichen Ressourcen in die Weiterentwicklung kompetenzgerechter und zukunftsweisender Lehr- und Prüfungsformen zu investieren.

Unser Fazit

Grundsätzlich gilt festzuhalten, dass Hochschulen eine höhere Anpassungsgeschwindigkeit und mehr Sensibilität für die Plagiats- und Urheberrechtsfragen studentischer Seminar- und Abschussarbeiten im Zeitalter Künstlicher Intelligenzen entwickeln müssen.

Aus der rechtlichen Perspektive stellt sich bei der Entwicklung und dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz immer wieder die Frage nach stärkerer Regulierung und Reglementierung. Die gesellschaftliche Diskussion, ob es Zugriffsbeschränkungen für die KI bedarf und wie ein Missbrauch der KI vermieden und potenziellen Gefährdungen – nicht nur in der wissenschaftlichen Sphäre – effektiv begegnet werden können, wird weltweit geführt. Welche Gestaltungsmöglichkeiten bieten sich aber konkret für das System Hochschule? Welchen regulatorischen Lösungsansatz empfiehlt KI? Hier die zum Nachdenken anregende (und nicht ganz ernst zu nehmende) KI-generierte Antwort (King 2019):

„Damit das System der Hochschulbildung die KI berücksichtigen kann, sollte das Regulierungssystem jeder Universität als eine digitale globale Geschäftsorganisation mit autonomer Entscheidungsfindung im Dienste der gesamten Universität konzipiert werden.“

Wir hoffen sehr, dass wir mit diesem Beitrag die zwingend notwendige Diskussion in unserem Kreis der Hochschullehrenden zu den „wahren“ Herausforderungen der Lehre im digitalen Zeitalter weiter forciert und beim Lesen dieses Beitrags Ihre Kreativität beflügelt haben. In jedem Fall freuen wir uns sehr auf Ihr Feedback und die weiteren Diskussionen.

 

Literatur

Beuth, Patrick: Twitter-Nutzer machen Chatbot zur Rassistin. http://www.zeit.de/digital/internet/2016-03/microsoft-tay-chatbot-
twitter-rassistisch
, zuletzt aktualisiert am 24.03.2016 – Abruf am 17.05.2020.
DeepL Translator: DeepL GmbH, Köln. http://www.deepl.com/translator – Abruf am 17.05.2020.
King, Adam: Talk to Transformer. Toronto: Mitochrome Inc. talktotransformer.com/ – Abruf am 17.05.2020.
Wang, Phil: This Person Does Not Exist. http://www.thispersondoesnotexist.com/ – Abruf am 17.05.2020.
Writer, Beta: Lithium-Ion batteries: a machine-generated summary of current research, Springer, Cham, 2019.

Weiterführende Quellen

Foltýnek, Tomáš; Dlabolová, Dita; Anohina-Naumeca, Alla; Razı, Salim; Kravjar, Július; Kamzola, Laima; Guerrero-Dib, Jean;
Çelik, Özgür; Weber-Wulff, Debora: Testing of Support Tools for Plagiarism Detection. https://arxiv.org/abs/2002.04279
– Abruf am 23.05.2020.
Gamillscheg, Marie; Piegsa, Oskar: Die Arroganz vieler Ghostwriter empört mich. https://www.zeit.de/studium/2015-04/
betrug-ghostwriter-michael-hartmer-hochschulverband-verbot
– Abruf am 07.06.2020.
Grävemeyer, Arne: Jagd auf Abschreiber. In: c´t 2020, Heft 11, S. 142–145.
Otsuki, Grant Jun: OK computer: to prevent students cheating with AI text-generators, we should bring them into the classroom.
https://theconversation.com/ok-computer-to-prevent-students-cheating-with-ai-text-generators-we-should-bringthem-
into-the-classroom-129905
– Abruf am 17.05.2020.
Weßels, Doris: Original oder Plagiat? Hochschulen und wissenschaftliche Arbeiten im Zeitalter künstlicher Intelligenz(en).
In: Forschung & Lehre (Hrsg.: Deutscher Hochschulverband) Nr. 6, Jg. 27 (2020), S. 504–505. www.forschung-und-lehre.
de/management/zwischen-original-und-plagiat-2754/
– Abruf am 25.05.2020.
Weßels, Doris: Die unerträgliche Leichtigkeit des (wissenschaftlichen) Schreibens – mit Ghostwritern und Künstlicher Intelligenz
auf der Überholspur. Blogbeitrag für das Hochschulforum Digitalisierung. https://hochschulforumdigitalisierung.
de/de/blog/ghostwriter-und-kuenstliche-intelligenz
– Abruf am 26.06.2020.

 

Der Beitrag erschien zuerst in der Verbandszeitschrift „Die Neue Hochschule“ des Hochschullehrerbundes. Wir freuen uns den Beitrag auch auf unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.

Wer mehr zum Thema KI und Wissenschaftliches Schreiben erfahren möchte, empfehlen wir den Beitrag „Die unerträgliche Leichtigkeit des (wissenschaftlichen) Schreibens. Mit Ghostwritern und Künstlicher Intelligenz auf der Überholspur.“ von Frau Prof. Dr. Doris Weßels, der im Juni 2020 auf im Blog des Hochschulforums Digitalisierung veröffentlicht wurde.

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