Mental Health sichtbar machen

Mental Health sichtbar machen

28.08.24

Mentale Gesundheit im Studium gewinnt immer mehr an Bedeutung. Nach dem HFD-Blickpunkt „Student Mental Health im digitalen Hochschulstudium“ werden jetzt in einer Blogreihe weitere Tools vorgestellt, um die mentale Gesundheit von Studierenden stärker in den Fokus zu rücken. Jan Schuhr vom Projekt enhance diskutiert dazu in diesem ersten Beitrag Strategien zur Sichtbarmachung von psychischen Belastungen. Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung im Anhang des Beitrags soll als Anregung dienen, was bei der Planung und Durchführung einer Sichtbarkeitskampagne im Hochschulkontext zu beachten ist und wie man Studierende in deren Gestaltung mit einbezieht.

Anlass dafür bieten zahlreiche, repräsentative Erhebungen auf Bundes- und Landesebene (nach & während der Corona-Pandemie), welche eindrücklich zeigen, dass die Mehrheit der Studierenden in ihrem Studienalltag und in Folge von Studienanforderungen psychisch stark belastet sind (BMBF, 2023). Weiterhin stellen psychische Erkrankungen das häufigste Krankheitsbild von Studierenden dar. Gesamtgesellschaftlich stehen Ressourcen zur psychosozialen Versorgung dabei in einem unzureichenden Verhältnis gegenüber dieser Bedarfslage. Im Frühjahr 2024 macht sich dafür zunehmend auch ein Ausbau der Angebote und des Angebotsspektrums bemerkbar. Insbesondere digitale Angebote (z. B. virtuelle Sprechstunden oder Gesundheitsapps) ermöglichen vermehrt niedrigschwellige und flexible Hilfen. Der Bedeutungszuwachs der psychischen Gesundheit von Studierenden lässt sich ebenso anhand der Bemühungen bundesweiter Verbünde (z. B. Arbeitskreis Gesundheitsfördernde Hochschulen, Netzwerk Achtsame Hochschulen) sowie einzelner Akteur:innen auf verschiedenen Ebenen (z.B. Lisa Niendorf als „frauforschung“ via Instagram, TikTok und Youtube) nachvollziehen.

Warum wir (dennoch) über psychische Belastung als Stigma an Hochschulen sprechen …

…. wird mitunter in Anbetracht zentraler Narrative des Hochschulstudiums deutlich: Leistungsdruck gilt fortwährend, wenngleich als entscheidende Ursache für psychische Belastungen bei Studierenden bemessen, als Prinzip, Merkmal oder Voraussetzung für den Studienerfolg (BMBF, 2023; Ulrich, 2021). Dies unterstreichen z. B. Entscheidungen über verdichtete Prüfungs- und Studienleistungen an den Fakultäten sowie typische Glaubenssätze zur Studienbewältigung: „Man hat zu funktionieren und da gibt es nichts zu-, rum zu diskutieren, man hat da zu sitzen, man hat seine Aufgaben zu erfüllen“ (Rahel, 6. FS. Gesang, Sommersemester 2022);  „es ist übelst stressig und du gehst halt darin unter oder kannst untergehen. Aber so ist es halt. (…) Komm damit klar oder du kannst es halt nicht machen“ (Filou, 12. FS. Rechtswissenschaften, Wintersemester 2022/23)“ (Qualitative Studierendenbefragung in Sachsen, vgl. Schuhr u. Brock, 2024). Das Relativieren, Bagatellisieren oder in einigen Zusammenhängen sogar Glorifizieren von übermäßigem Druck im Studium ermöglicht, dass das daraus hervorgehende Belastungserleben normalisiert und die Problematisierung und Legitimität des eigenen Unwohlbefindens in Frage gestellt wird.

Insofern erscheinen auch die Befunde hinsichtlich der eingeschränkten Gesundheitskompetenz (also dem unzureichenden Verstehen, Beurteilen und Anwenden von Gesundheitsinformationen) bei Schricker et al. (2020) bei 58,5% von 996 befragten Studierenden bzw. der digitalen Gesundheitskompetenz bei  Dadaczynski et al. (2022) für 35,1%-42,3% (n=14 916) wenig überraschend. Im konkreten Bezug auf psychosoziale Hilfen konnten Günthner et al. (2023) weiterhin feststellen, dass 37,0% von 5474 Studierenden keine Kenntnis über das Vorhandensein psychologischer Beratungsangebote an ihren Hochschulen besaßen. Diese und weitere Studien haben darüber hinaus signifikante Zusammenhänge zwischen einem reduzierten Gesundheitswissen und einer erhöhten Krankheitswahrscheinlichkeit sowie zwischen einem Hilfe-vermeidenden Verhalten und einer verschlechterten psychologischen Resilienz von Studierenden erhoben (ebd., Reick u. Hering, 2018). Bei der Folgerung der Erkenntnisse über einen dringenden Bedarf nach Ausbau psychoedukativer Maßnahmen an Hochschulen geht es also um kulturtechnische Aspekte wie den Abbau gesundheitsbezogener Stigmata und direkte Krankheitsprävention. Für beide Zusammenhänge spielt die soziale Ungleichheit von Studierenden und die damit verbundene ungleiche Verteilung zeitlicher und ökonomischer Ressourcen zur Bewältigung des Studiums eine entscheidende Rolle.

Denn, auch das scheint wenig überraschend,  ein selteneres bzw. geringfügigeres Erleben von Leistungsdruck im Studium und das Verfügen über eine verbesserte Gesundheitskompetenz ist an sozioökonomische Privilegien gekoppelt (Schricker et al., 2020, BMBF, 2023). Indessen wird die Systematisierung der Studienorganisation weiterhin am problemstiftenden Narrativ eines studentischen Idealtypus ausgerichtet. Ein Interviewabschnitt unserer qualitativen Befragung an Sächsischen Hochschulen weist darauf hin: „es ist sehr vieles darauf ausgelegt, dass das junge, unabhängige Menschen sind, die einfach jederzeit und immer Zeit haben. Und ich finde, das ist oft nicht die Lebensrealität. (…) das macht es sehr schwer, das durchzuhalten“ (Nina, 5 FS. Psychologie, Sommersemester 2022, vgl. Schuhr u. Brock, 2024).

Wir sprechen von psychischer Belastung als Stigma an Hochschulen, da der Status von psychischer Belastung und der (im besonderen Maße) Belasteten konträr zu wesentlichen Zielen der Hochschulen (z.B. hohe Abschlussquoten) sowie den Bedingungen für das wahrscheinliche Erreichen dieser Ziele (z.B. finanzielle und zeitliche Unabhängigkeit), steht. Für die Veränderung der als problembehaftet-gekennzeichneten Studiennarrative scheint eine öffentlichkeitswirksame Differenzierung zum Belastungsverständnis unter Berücksichtigung der Studienanforderungen und -voraussetzungen notwendig.

How- and Where-To: lebenslagenorientiertes Sensibilisieren und Informieren

In Anbetracht der gegenwärtigen Belastungslage von Studierenden scheint es nicht mehr hinreichend zu sein, Gesundheitswissen und -ressourcen lediglich sichtbar zu machen. Vielmehr bedarf es einer  universellen Präsenz dieser Themen. Bislang werden Gesundheitsangebote und -informationen mehrheitlich in außercurricularen Formaten oder in Form langer PDF-Dokumente organisiert. Diese müssen von den Studierenden entweder zwischen den vielen Aushängen an den Fakultäten oder auf den bedingt-übersichtlichen Hochschulplattformen (z.B. Stud.IP, Moodle oder die hochschuleigene Webseite) gefunden werden. Ebenso erreichen Rundmails sowie Social-Media-Auftritte der Hochschulen zu Gesundheitsthemen vornehmlich diejenigen, die ein grundsätzliches Interesse an dem Outcome haben bzw. zum Zeitpunkt des Postings auf die entsprechenden Kanäle zugreifen, bevor die Inhalte durch neue Informationsreize verdrängt werden.

Um die Zeit- und Ortsabhängigkeit dieser Strategien zu reduzieren und Studierende in den verschiedensten Lebenslagen zu erreichen, kann die Orientierung an den für Studierende regulären und obligatorischen (virtuellen) Interaktionsräumen an Hochschulen zu einer verbesserten Erreichbarkeit von Studierenden in ihren verschiedenen Lebenslagen beitragen. Insbesondere, wenn psychische Belastungszustände dazu führen, dass die Betroffenen ihren Interaktionsradius auf das Nötigste reduzieren, erleichtert die Platzierung von Hilfen bzw. Hilfsinformationen innerhalb dieses Radius eine Inanspruchnahme. So scheinen z.B. Einführungsveranstaltungen und die Veranstaltungsordner auf den digitalen Hochschulplattformen ein geeigneter Kontext zu sein, um psychosoziale Angebote sichtbar zu machen und die Legitimation zu fördern, diese bei studienbezogenen Belastungen in Anspruch nehmen zu können. Dies setzt natürlich voraus, dass die Lehrenden mit den entsprechenden Informationen ausgestattet und zu diesem Vorgehen angehalten werden.

Das Zurverfügungstellen unterstützender Inhalte entbindet dabei  nicht von der Aufgabe, im fortlaufenden Dialog mit den Studierenden die Vorstellungen und Bedarfslagen zur Vereinbarkeit zwischen Studienanforderungen und mentaler Gesundheit zu erörtern. So verstehen sich die hier aufgeführten Vorschläge und Ausführungen als Anknüpfungspunkte, welche von Lehrenden und Lehrverantwortlichen aufgegriffen werden können, um diese gemeinsam mit den Studierenden weiterzudenken.       

Eine ausführliche Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie Sie eine Sichtbarkeitskampagne an Ihrer Hochschule durchführen können, finden Sie hier zum kostenlosen Download:

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2023). Die Studierendenbefragung in Deutschland: 22. Sozialerhebung. Die Soziale und Wirtschaftliche Lage der Studierenden in Deutschland 2021

 Dadaczynski, K., Messer, M., Rathmann, K., Okan, O. (2022). Digitale Gesundheitskompetenz von Studierenden während der COVID-19 Pandemie. Befunde zur Ausprägung und Assoziationen mit Informationszufriedenheit und psychischer Gesundheit. In: Rathmann, K., Dadaczynski, K., Okan, O., Messer, M. (Hg.) Gesundheitskompetenz. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit . Springer, Berlin, Heidelberg. doi.org/10.1007/978-3-662-62800-3_87-1

 Günthner, L., Baldofski, S., Kohls, E., Schuhr, J., Brock, T., & Rummel-Kluge, C. (2023). Differences in Help-Seeking Behavior among University Students during the COVID-19 Pandemic Depending on Mental Health Status: Results from a Cross-Sectional Survey. Behav. Sci., 13(885). https://doi.org/doi.org/10.3390/bs13110885

Reick S, Hering T. (2018) Gesundheitskompetenz Studierender – Ergebnisse einer Online-Befragung an der Hochschule für Gesundheit Bochum. Int J Health Prof 5:44–52

Schricker, J., Rathmann, K., Dadaczynski, K (2020) Soziale Unterschiede in der Gesundheitskompetenz von Studierenden: Ergebnisse einer Online-Studie an der Technischen Universität Dortmund. Präv Gesundheitsf 15, 8–14 doi.org/10.1007/s11553-019-00731-6

Schuhr, J., Brock, T. (2024) Gesundheitsstandort Hochschule: Welche Herausforderungen und Chancen bieten digitale Lehrräume für die psychosoziale Gesundheit und Diversität von Studierenden? In: Witt et al. (Hg) Diversität und Digitalität in der Hochschullehre. Transcript Verlag, Bielefeld. (Erscheint am 27.08.2024)

Ullrich, C. G. (2021). Die Wahrnehmung und Deutung von Leistung und Leistungsprinzip bei Studierenden. Beiträge zur Hochschulforschung, 43(3), 94-106

Autor

Jan Schuhr (er/ihm), Soziologe M.A. am Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung an der ehs Dresden. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt ENHANCE (Mental Health im Kontext von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen) und Lehrbeauftrager (obA) an der Evangelischen Hochschule Dresden. Zu den aktuellen Untersuchungsinteressen gehören Fragen der Gesundheits-, Organisations- und Digitalisierungssoziologie sowie Empirische Forschungsstrategien bei der Betrachtung sozialer Ungleichheiten

Dieser Blogbeitrag ist Teil 1 der Blogreihe “Tool-Box zu Student Wellbeing im digitalen Zeitalter”. Diese ist in Kooperation des Projektes ENHANCE (Mental Health im Kontext von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen) an der EHS Dresden mit dem HFD-Thinktank Well-Being im digitalen Zeitalter an Hochschulen unter Leitung von Tina Basner entstanden. Teilen Sie gerne über die Kommentarfunktion mit uns und der HFD-Community Ihre Ideen oder kontaktieren Sie uns per E-Mail unter tina.basner@che.de.

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