Psychosoziale Inklusivität in Lehrveranstaltungen vorbereiten

Psychosoziale Inklusivität in Lehrveranstaltungen vorbereiten

05.09.24

Sharepic. Obere Hälfte: Links Grafik von zwei Frauen, die in Sitzsäcken sitzen, und beide einen Laptop auf dem Schoß haben. Eine Gehhilfe lehnt an dem Sticksack der linken Frau. Sie schaut zu der anderen Frau, die eine Brille trägt, hinüber. Zwischen den Frauen steht ein Hocker mit einer Wasserflasche und einem To-Go-Becher. Hintergrund: Farbverlauf Lila zu Orange. rechts oben: lila Blase mit Text: Teil 2 der Blogreihe Student Wellbeing. Untere Hälfte: Text: "Blog - Psychosoziale Inklusivität in Lehrveranstaltungen vorbereiten. Ein Blogbeitrag von Jan Schuhr aus der Blogreihe "Tool-Box zu Student Wellbeing im digitalen Zeitalter"" Unten rechts: Logo 10 Jahre Hochschulforum Digitalisierung.

Das Schaffen einer für das Wohlbefinden förderlichen Lehr- und Lernumgebung für Studierende und Lehrende ist sowohl Bedingung als auch Ziel einer erfolgreichen Hochschulbildung. Ein geeigneter Weg dafür kann die Förderung psychosozialer Inklusivität in (digitalen) Hochschulveranstaltungen sein. Dies bedeutet, psychologische und soziokulturelle Bedarfe und Perspektiven wertschätzend zu adressieren bzw. in der gegenseitigen Bezugnahme zu berücksichtigen. Diese Umgangsweise erfordert stetige Sensibilität, Empathie und Aufmerksamkeit. Eine weitere Hürde ist, dass innerhalb der digital-gestützten Steuerung und Organisation wesentlicher Studienabläufe durch Campus-Management-Systeme (z.B. Moodle oder Stud.IP), individuelle Anliegen und Eigenschaften weniger sichtbar sind als im persönlichen Austausch. Die Dialog-Vorlage im Anhang des Beitrags hilft Lehrenden, einen niedrigschwelligen Interaktionsrahmen zu initiieren, der Studierende und Lehrende bei der Festlegung der gemeinsamen Interaktionskonventionen während der Veranstaltung unterstützt.

Als besonders beziehungsreiche Orte bieten Seminare hohe Potentiale für bereichernde wie schädigende Interaktionserfahrungen. So werden individuelle Eigenschaften und Vorstellungen der Lehrenden und Studierenden oft schnell und in einem höherem Umfang sichtbar und können so leichter unterstützt oder blockiert werden. Dies lässt sich gleichermaßen in Online- wie Präsenzveranstaltungen beobachten, wenngleich die verschiedenen Formate bestimmte Qualitäten in unterschiedlicher Weise sichtbar machen oder verdecken (z.B. private Wohnumgebung vs. ausgeschaltete Kamera bei Online-Veranstaltungen, Cliquenbildung im Präsenzseminar). An den Hochschulen finden sich daher unterschiedliche Steuerungswege der Aushandlung und Festlegung für die Merkmale einer gelungenen Zusammenarbeit in Seminaren (z.B. Veranstaltungsdefinition i.R.d. Studienordnung, Leitbilder der Lehrgestaltung, Besprechung der Seminarorganisation zur ersten Sitzung). In unterschiedlichen Detaillierungen und Spezifika der lokalen Hochschulordnungen wird dort eine bedürfnisorientierte Studienumgebung zum Ziel und Modus von Lehrveranstaltungen erklärt. So heißt es bspw. in der „Gemeinsame[n] Erklärung von Lehrenden und Lernenden zur Bedeutung der aktiven und regelmäßigen Teilnahme für dialogorientierte Lernformen“ der sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Georg-August Universität Göttingen:  

„Seminare, Übungen, Kolloquien, Tutorien oder Lektürekurse sind dialogorientierte Veranstaltungsformen. Ihre Lehr- und Lernformen gründen in der Diversität der Bedürfnisse der Beteiligten“.

Ausgangspunkte in der Anwendung dieses und den vergleichbaren Konzepten (z.B. Unconditional Teaching) sind die Bestimmung von, und das Informieren über die jeweiligen Bedürfnisse. Situativ, also nicht über Veranstaltungsevaluationen oder Studierendensurveys, verfahren Dozierende hierbei erfahrungsgemäß durch das Signalisieren ihrer Ansprechbarkeit und informell-angelegten Vorstellungsrunden zu Beginn der ersten Sitzung . Ebenso wie über die oftmals abschließende Aufforderung  „Gibt es noch Fragen“ gelingt es anhand dieser Rituale scheinbar nicht oder nur eingeschränkt als Dozierende:r zu erfahren, was (alle) Studierende für die jeweilige Veranstaltung für ihre Teilhabe und Mitwirkung am Seminarverlauf benötigen.

Aus studentischer Perspektive lassen sich dafür zwei Ursachen benennen:

(1) Es fehlt an Handlungswissen darüber, welche Ressourcen und Bedingungen in Bezug auf die eigenen Bedarfe adressiert und verändert werden können. So wurde als einer der Hauptgründe, weshalb Studierende trotz Anspruchsberechtigung keinen Nachteilsausgleich beantragten oder trotz psychischer Belastung keine Hilfedienstleistung in Anspruch nehmen, das fehlende Wissen um die entsprechenden Angebote festgestellt (Poskowsky et al., 2018., Guenthner et al., 2023).

Anhand zwei weiterer Hauptgründe, der Angst vor einer Stigmatisierung und die Unsicherheit über eine Wirksamkeit in Folge der Veräußerung des eigenen Anliegens, wird die zweite Ursache für ein gehemmtes Mitteilungsverhalten von Studierenden gegenüber Dozierenden deutlich:

(2) Das Hervorbringen der eigenen Bedarfe gegenüber einer zunächst fremden Person oder Gruppe stellt, insbesondere wenn es um sensible Informationen geht, eine große Herausforderung dar, die Selbstsicherheit, Extraversion oder Mut erfordert. Dies gilt auch, wenn Dozierende bspw. durch Pronomen-Runden anstreben, einen sicheren Rahmen für eine gendergerechte Anrede zu initiieren, die ggf. in einem Outing oder Othering resultieren kann.  

So ergeben sich für die strategische Weiterentwicklung des (digitalen) Informations- und Kommunikationsraums vor und während des Seminares diese Handlungsziele:

  1. die Ausstattung von Studierenden mit wissensbezogenen Kompetenzen, welche ihnen die Organisation der Teilhabe nach ihren individuellen Bedarfen ermöglichen

  2. das Schaffen von Mitteilungswegen, über die Studierende spezifische Anliegen gegenüber den Seminarverantwortlichen äußern können, ohne unweigerlich mit diesen assoziiert zu werden

Für die Bearbeitung dieser Handlungsziele erscheint es sinnvoll, einen obligatorischen Studienkontext wie die Online-Campus-Management-Systeme (z.B. Stud.IP, Moodle, Opal) zu wählen. Ihre Nutzung wird für die Teilnahme an Veranstaltungen i.d.R. vorausgesetzt, weiterhin ist der Umgang seitens der Dozierenden (und ab einem höheren Fachsemester auch von den Studierenden) mit den Systemen erprobt und etabliert. Die entscheidenden Vorteile liegen jedoch insbesondere in den Möglichkeiten, anonym sowie zeit- und ortsunabhängig die individuellen Bedarfe und Parameter vorzustellen bzw. zu erfassen. So unterbindet der anonyme Zugang die Personalisierung des Anliegens, da Studierende ihren Bedarf mitteilen können, ohne annehmen zu müssen, dass sie über diesen im weiteren Seminarverlauf assoziiert oder sogar stigmatisiert werden. Auch erleichtert der vorläufige Kontakt den Überwindungsmoment, vor einer (fremden) Gruppe bzw. Statusperson über sich und die eigenen Anliegen zu sprechen, sodass das Eis nicht gebrochen werden muss, sondern „behutsam gelöst werden kann“.

Die unten angestellte Dialogvorlage bietet einen systematisierten Zugang, über den Studierende Anliegen und Informationen in  Bezug auf inklusive bzw. diskriminierungsfreie Sprache, Inhaltswarnungen („Trigger“), Nachteilsausgleich und psychosoziale Hilfen erhalten bzw. anonym an Dozierende übermitteln können. Die Vorlage ist modifikationsoffen und in ihrem Wirkungsgrad unbestimmt. Die Auswahl der Themenfelder leitet sich aus den Empfehlungen aktueller empirischer Studien zur Studierendengesundheit und Kommunikationsstandards in Bildungsräumen ab (Okanagan Charta, 2015; Guenthner et al., 2024; Schuhr u. Brock, 2024).  

Warum braucht es diese Vorlage?

Neben den o.g. gruppenstrategischen Problem- und Handlungsfeldern motivieren insbesondere die aktuellen Befunde über die weitreichende Verbreitung der gesteigerten Belastungs- und Stresslagen sowie Diskriminierungserfahrungen von Studierenden dazu, gesundheits- und teilhabefördernde Praxisstrategien zu erarbeiten und vorzustellen. Wenngleich sich eine intersektionale Betrachtung der prekären Lage der Studierenden in Deutschland durch Studien, Positionspapiere, Bekennungsschreiben etc. gegenwärtig in den Debatten und Hochschulprogrammen verstetigt, scheint der Bedarf an konkreten Arbeitsmitteln für den Transfer dieser Schreiben in den Studien- und Lehralltag weiterhin fortzubestehen. Für eine wahrscheinliche und sinnvolle Anwendung des (oder eines) Arbeitsmittels setzt der Gebrauch kein spezifisches Wissen (z.B. Genderkonventionen) von den Lehrenden und Studierenden voraus und ist als Umfrage-Format leicht in die typischen Funktionen und Nutzungsweisen von Campus-Management-Systemen integrierbar. Neben dem expliziten Anwendungsziel, der Rahmensetzung für eine informierte und inklusive Zusammenarbeit in Seminaren, bietet die Vorlage eine weitere Gelegenheit für die Weiterentwicklung einer personenzentrierten digitalen Hochschulkultur. Diese strebt danach, vermehrt Interaktionsweisen und -orte, in denen Bedarfe und Ideen der Nutzer:innen fokussiert werden, innerhalb der digital-gestützten Hochschulabläufe zu etablieren.

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2023) Die Studierendenbefragung in Deutschlad: 22. Sozialerhebung. Die Soziale und Wirtschaftliche Lage der Studierenden in Deutschland 2021 

Günthner, L., Baldofski, S., Kohls, E., Schuhr, J., Brock, T., & Rummel-Kluge, C. (2023). Differences in Help-Seeking Behavior among University Students during the COVID-19 Pandemic Depending on Mental Health Status: Results from a Cross-Sectional Survey. Behav. Sci., 13(885).

Poskowsky, J., Heißenberg, S., Zaussinger, S., Brenner, J. (2018) beeinträchtigt studieren – best2 Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit 2016/17. Deutsches Studentenwerk, Berlin.

 Schuhr, J., Brock, T. (2024) Gesundheitsstandort Hochschule: Welche Herausforderungen und Chancen bieten digitale Lehrräume für die psychosoziale Gesundheit und Diversität von Studierenden? In: Witt et al. (Hg) Diversität und Digitalität in der Hochschullehre. Transcript Verlag, Bielfeld. 85-102 (Erscheint am 27.08.2024)

Sommer, E., Thiessen, B. (2023). Zwischen Wertschätzung und Diskriminierung: Umgang mit Vielfalt am Campus. In: Mittertrainer, M., Oldemeier, K., Thiessen, B. (Hg.) Diversität und Diskriminierung. Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40316-4_7

 Sozialwissenschaftlichen Fakultät (Studiendekanat) der Georg-August-Universität Göttingen (2020) GEMEINSAME ERKLÄRUNG VON LEHRENDEN UND LERNENDEN ZUR BEDEUTUNG DER AKTIVEN UND REGELMÄßIGEN TEILNAHME FÜR DIALOGORIENTIERTE LERNFORMEN.

Tyll, Z., Pietsch, Z (2022). „Ressource anstatt Hürde sein: Wie Lehrende soziale Barrieren abbauen und Teilhabe fördern durch Unconditional Teaching.“ Diskussionspapier Nr. 17. Hochschulforum Digitalisierung.

Autor:innenverzeichnis

Jan Schuhr (er/ihm), Soziologe M.A. am Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung an der ehs Dresden. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt ENHANCE (Mental Health im Kontext von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen) und Lehrbeauftrager (obA) an der Evangelischen Hochschule Dresden. Zu den aktuellen Untersuchungsinteressen gehören Fragen der Gesundheits-, Organisations- und Digitalisierungssoziologie sowie Empirische Forschungsstrategien bei der Betrachtung sozialer Ungleichheiten.

Dieser Blogbeitrag ist Teil 2 der Blogreihe “Tool-Box zu Student Wellbeing im digitalen Zeitalter”. Diese ist in Kooperation des Projektes ENHANCE (Mental Health im Kontext von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen) an der EHS Dresden mit dem HFD-Thinktank Well-Being im digitalen Zeitalter an Hochschulen unter Leitung von Tina Basner entstanden. Teilen Sie gerne über die Kommentarfunktion mit uns und der HFD-Community Ihre Ideen oder kontaktieren Sie uns per E-Mail unter tina.basner@che.de.

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Ein Kommentar

  1. Judith sagt:

    Großes Danke für diesen Beitrag, er ermöglicht niederschwellig, dass Menschen ihre individuellen Bedürfnisse äussern, wie es z.B. durch Neurodivergenzen der Fall (sh. Link) sein kann!
    hochschulforumdigitalisierung.de/blog/hochschullehre-neurodivers/