Zur Bedeutung von ChatGPT & der Notwendigkeit eines progressiven Umgangs mit neuen KI-Technologien im Hochschulbereich. Ein Zwischenstand in 6 Thesen

Zur Bedeutung von ChatGPT & der Notwendigkeit eines progressiven Umgangs mit neuen KI-Technologien im Hochschulbereich. Ein Zwischenstand in 6 Thesen

08.02.23

Auf der linken Seite ist eine Illustratino für ein neuronales Netzwerk zu sehen. Rechts steht der Titel des Blogbeitrags. Unten rechts ist das Logo des HFD abgebildet.

ChatGPT erfährt große Aufmerksamkeit in der Gesellschaft und der Hochschulwelt. Das ist nicht überraschend, denn der “Erstkontakt” mit diesem KI-Tool verläuft häufig nach dem gleichen Muster: Ungläubiges Staunen, Verängstigung und Faszination. Daher der wichtigste Appell vorweg: Bitte ausprobieren! Denn nur dann kriegt man ein Gefühl für die Wirkmächtigkeit und Grenzen dieses Systems. Grundsätzlich ist die Diskussion rund um ChatGPT keine neue. Immer wieder lösen neue Techniken ähnliche Reflexe aus. Erwartungsgemäß stellt sich die Frage, ob das neue Tool oder Format nun ein Indiz für Evolution oder Revolution ist. Anders als z.B. bei der MOOC-Diskussion aus dem Jahr 2013 gibt es heute allerdings bedeutend weniger Wahlmöglichkeiten: Die Technologie wird flächendeckend das Lernen und Prüfen beeinflussen, ob es uns gefällt oder nicht. Insofern kommt es jetzt entscheidend darauf an, wie und mit welcher Geschwindigkeit sich Hochschulen darauf neu einstellen. Denn: Technik ist nie per se schlecht oder gut. Zielführend ist es, danach zu fragen, wie und  unter welchen Rahmenbedingungen wir die Technik nutzen. Die Hochschulen müssen also neue Wege finden, mit KI-Tools wie ChatGPT umzugehen, sie gar zum Ausgangspunkt für Überlegungen machen, wie mit ihnen ein besseres Hochschulstudium ermöglicht werden kann. Hierzu haben wir mit Unterstützung des HFD-Kernteams 6 Thesen formuliert – sie sollen zur notwendigen Diskussion einladen und anregen, den eigenen Standpunkt zu finden bzw. zu überdenken. 

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Zukunftskompetenzen müssen (neu) ausgehandelt werden 

Expert:innen wie Doris Weßels von der FH Kiel sagen: “ChatGPT ist erst der Anfang!”

Die kommenden Jahre werden deutlich stärker davon geprägt sein, dass technologische Entwicklungen bisherige Praktiken und Selbstverständnisse in Studium und Lehre herausfordern. Eine zentrale Anforderung wird sein, sich (neu) zu verständigen, welche Kompetenzen Studierende in zehn Jahren (noch) brauchen werden und wie die Hochschule diese Kompetenzen fördert. Das ist keine leicht zu beantwortende Frage. So stellt ein KI-Tool wie ChatGPT vermutlich nicht grundsätzlich in Frage, dass Studierende auch Schreibkompetenzen (auch als “Denkwerkzeug”) erlangen sollten, aber was bedeutet das konkret vor dem Hintergrund, dass KI elaborierte Textpassagen liefert? Die Frage der Kompetenzen geht weit über die Frage der Schreibkompetenzen hinaus. Wir sehen, dass ChatGPT nicht automatisch verifizierte Fakten bzw. auch Fehler produziert. Da wir keine Aufschlüsselung über den Wissensursprung erhalten (ChatGPT und andere KI Sprachmodelle zitieren nicht), ist die Beurteilung des Ergebnisses schwierig und kritisches Denken umso wichtiger. Dies gilt nicht allein für ChatGPT, sondern eben für alle KI-Tools, deren Ergebnisse immer durch einen als Blackbox charakterisierbaren Algorithmus erzeugt werden. Da die Tools künftig Bestandteil vieler Berufe und des Alltags sein werden, ist eine disziplinübergreifende Kernanforderung, sich ein Urteil über den generierten Output der KI bilden zu können. Jetzt wird es wichtig sein, diese Aspekte bei der Studiengangs(weiter)entwicklung einfließen zu lassen.

ChatGPT ist ein Katalysator für eine neue Lern- und Prüfungskultur  

ChatGPT stellt was und wie wir lernen und prüfen grundlegend in Frage. Das Schreckgespenst, Studierende ließen ihre Hausarbeit jetzt von einer KI ghostwriten, führt an manchen Stellen zu der Überlegung, dass anstelle einer Hausarbeit mehr überwachte Vor-Ort Prüfungen (Stichwort Pen-&-Paper-Klausur) die Lösung sind. Sicher wird es weiterhin Settings geben, wo die “closed-book”-Klausur sinnvoll ist, aber Kurzschlussreaktionen wie diese zeigen auf, was an manchen Stellen falsch läuft. Zielführender wäre es, das Bewusstsein für die Chancen, die in der Nutzung von KI-Werkzeugen liegen, zu schärfen. Settings, die auf den reinen Remix von Wissen abzielen wie die deskriptive und auf vorhandene Literatur ausgerichtete Hausarbeit, waren schon vorher nicht mehr zeitgemäß. Aber durch ChatGPT und weitere KI-basierte Assistenzsysteme wird diese Form der Lern- und Prüfungskultur, die in Großteilen auf Wissensvermittlung und -abfrage abzielt, auf einen Schlag unbrauchbar. Selbstverständlich wird die Vermittlung und Abfrage von Wissen immer ein Teil der Hochschulbildung sein und bleiben (ohne Grundstock an Wissen kann ich meine Kompetenzen nicht anwenden). Die unverhältnismäßige Dominanz der Wissensabfrage wird nun aber zukünftig nicht mehr praktikabel. Wir brauchen einen Shift von der Quantität an Prüfungen hin zu einer qualitativen Ausrichtung (vgl. Reinmann 2022).  

Nun stellt sich die Frage, wie eine Lern- und Prüfungskultur aussieht, die KI-Tools einschließt, Qualität in den Vordergrund rückt und auf Zukunftskompetenzen abzielt. Eine solche Kultur verlässt die Sphären der reinen Wissensabfrage und legt den Fokus auf Lern- und Prüfszenarien, die auf das Anwenden, Machen, auf Kreativität und das kritische Denken zielen – also den Erwerb sogenannter Zukunftskompetenzen befördern. Somit wird das angestrebte Learning Outcome zum Ausgangspunkt einer jeden Prüfungs- und Lehrgestaltung und zu diesem Outcome gehört eben auch der Umgang mit KI-Tools (Budde et al. 2023). ChatGPT fordert also dazu heraus, veraltete Lern- und Prüfungsformate in Frage zu stellen und neue Ansätze gezielt weiterzuentwickeln.  

Digitalkompetenzen müssen in allen Studiengängen eine Rolle spielen

Künstliche Intelligenz und Digitalisierung begleitet uns mittlerweile stark im Alltag und in der Berufswelt. Tools wie ChatGPT werden nicht zuletzt durch die Ankündigung der Integration in Microsoft-Produkte eine starke Verbreitung finden. Auch ist ChatGPT nur ein Tool unter vielen. Generative AI-Tools (Stichwort LaMDA, DALL-E2, …) werden uns dauerhaft begleiten. Der Umgang mit diesen Tools muss erlernt, aber vielmehr noch kritisch reflektiert werden. Lehrende sollten ChatGPT gemeinsam mit den Studierenden ausprobieren und zu ihren Lernerfahrungen im Austausch sein. Der Anspruch sollte sein, dass Hochschulen als erstes Neuentwicklungen erproben und hinterfragen bzw. gemeinsam diskutieren. Das ist keine leichte, aber eine zunehmend bedeutsamere Aufgabe, die ein Umdenken erfordert. KI-Kompetenzen sind dabei nur eine Facette von Digitalkompetenzen. Wichtig ist beispielsweise auch, Daten- und Informationen kritisch zu reflektieren (Stichwort Data Literacy) und im wissenschaftlichen Kontext produktiv einsetzen zu können. Fakt ist im Februar 2023: Lehrende und Studierende haben noch längst nicht flächendeckend Digitalkompetenzen und KI spielt in der Lehre – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle. Hier besteht dringender Handlungsbedarf: Die (Weiter-)Entwicklung von Digitalkompetenzen muss in allen Studiengängen eine Rolle spielen.  

Wissenschaftliches Arbeiten wird bleiben, aber unter neuen Voraussetzungen

Es wird wichtig bleiben, sich Fachwissen anzueignen und darauf aufzubauen, um eigene Ideen abzuleiten. Wissenschaftliches Arbeiten sollte dafür künftig aber stärker als bisher den problemorientierten Ansatz verfolgen und mehr kreative Eigenleistungen der Studierenden einfordern. Nicht zuletzt, weil genau dies eine Kompetenz ist, die auch später im Berufsleben eine zentrale Rolle spielen wird. Der Stellenwert menschlicher Kreativität sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden. Ihre Bedeutung wird durch den Abgleich mit den Fähigkeiten der KI nur noch einmal unterstrichen. Auch wenn es so scheint, als wäre die KI uns in puncto Kreativität ebenbürtig, weil sie beispielsweise neue Bilder (Kunstwerke) auf Knopfdruck erzeugt, handelt es sich hierbei um eine Remix bestehender Kunstwerke bzw. Kunstrichtungen. Wissen wird bislang durch die KI reproduziert, generiert aber keine neuen Gedanken und Ideen. Genau da kann und muss eine moderne Bildung ansetzen. Klar ist auch, es braucht Regeln beim wissenschaftlichen Arbeiten mit ChatGPT und anderen Tools. Einen ersten Aufschlag hierfür liefert Christian Spannagel von der PH Heidelberg mit seinen Rules for Tools.  

Studierende sind Mitgestalter für die produktive Auseinandersetzung mit KI-Tools 

Derzeit beobachten wir, dass im Diskurs zu ChatGPT vor allem über die Studierenden geredet wird und weniger mit ihnen. Wenn über sie geredet wird, dann nehmen sie häufig die Rolle jener ein, die mithilfe der KI-Tools schummeln, was sich durch die ebengleiche Zuschreibung in der medialen Berichterstattung als Bild verfestigt. Dabei sollten sie gerade jetzt als essenzieller Bestandteil einer konstruktiven Debatte miteinbezogen werden. Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens sollten Studierende nicht nur an Hochschulen sein, um Creditpoints und Abschlüsse zu sammeln, sondern um etwas zu lernen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Zweitens sollten Studierende keine “passiven Konsumenten” sein, sondern Mitgestalter, gerade wenn das Thema unmittelbar an die Zukunftsfähigkeit der akademischen Bildung gekoppelt ist. Wie eben eine solche Bildung gestaltet werden kann, lässt sich am besten in einer kollaborativen Auseinandersetzung auf Augenhöhe explorieren.  Die Zusammenarbeit mit den DigitalChangeMakern, wie sie im Hochschulforum Digitalisierung seit Jahren gelebt wird, zeigt, wie produktiv und engagiert Studierende in laufende Diskurse rund um die digitale Transformation mit eingebunden werden können. Gerade in der Auseinandersetzung mit diesem Thema wird es eine neue Kultur der Verständigung mit Studierenden brauchen. 

Wir brauchen europäische Open-Source-Alternativen zu proprietären Produkten wie ChatGPT

ChatGPT ist ein proprietäres System, mit dem Konzerne kommerzielle Interessen verfolgen. Jüngst wurde bekannt, dass ChatGPT Plus $20 im Monat kosten soll. Neben einem früheren Zugriff auf künftig neue Funktionen wird den Abonnent:innen auch ein verlässlicher Zugang zum Tool garantiert, der auch bei hoher Auslastung schnelle Ergebnisse verspricht. Ausgehend davon, dass der Gebrauch von KI-Tools in der Lehre und beim Prüfen ein fester Bestandteil wird, stellen sich mitunter Fragen wie: Was bedeutet dies für Studierende mit geringeren finanziellen Mittel? Wird es perspektivisch so sein, dass nur die, die es sich leisten können, KI-Tools (im vollen Funktionsumfang) nutzen können? Wird es Hochschullizenzen für KI-Tools geben und geht man dadurch ein entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis mit den dahinterstehenden Unternehmen ein? Die meisten Unternehmen der KI-Branche – speziell im Bereich des Natural Language Processing (NLP) – sind in den USA oder China angesiedelt und es gibt bislang nur wenige europäische Wettbewerber. Unklar ist, was mit den Anfragen und Daten passiert. Intransparent ist auch, woher die Daten stammen, sprich welches Gedankengut zur Generierung der Ergebnisse eigentlich rekombiniert wird.   

Anhand der geäußerten Bedenken ist es naheliegend, dass wir europäische – am besten sogar Open-Source-Alternativen brauchen, die auf Augenhöhe mit den derzeitigen Vorreitern sind. Das wird sicher keine finanziell einfach zu lösende Aufgabe, schaut man sich an, welche Summen Microsoft in die Weiterentwicklung von ChatGPT zu investieren gedenkt. Ein finanzieller Kraftakt ist aber sicher lohnend, um europäische Initiativen (weiter) zu fördern, die auf das Gemeinwohl fokussieren und nach unseren Wertevorstellungen und Standards (weiter)entwickelt werden.  

Referenzen: 

Budde, J.; Tobor, J.; Beyermann, J. (2023). Blickpunkt – Digitale Prüfungen. Berlin: Hochschulforum Digitalisierung. (erscheint am 09.02.2023)

Reinmann, G. (2022). Ungeliebter Druck. Thesen für einen Wandel der Prüfungskultur, in: Forschung & Lehre 6|22, S. 456 – 457 Online unter: https://www.wissenschaftsmanagement-online.de/system/files/downloads-wimoarticle/f%26l6-22_Thesen_fuer_einen_Wandel_der_Pr%C3%BCfungskultur_Reinmann.pdf (zuletzt aufgerufen 30.01.2023).

 

Ressourcen

Diskutieren Sie mit: 

Hier finden Sie die vorliegenden Thesen als interaktives Dokument – wir freuen uns über Kommentare:  https://docs.google.com/document/d/1qCt_a9aykvJXlkcxor0D8_il2DgKltdS/edit?usp=sharing&ouid=101748542316583437950&rtpof=true&sd=true

Hangout-Termine des HFD zum Thema ChatGPT erscheinen in Kürze

Unser HFD Mattermost-Kanal zu ChatGPT: https://mm.hochschulforumdigitalisierung.de/digitalturn/channels/chatgpt-im-hochschulkontext 

Ein offenes HFD Miro Board mit Statements und Kommentaren zu Chat GPT: https://miro.com/app/board/uXjVPsaIxrY=/ 

Informieren Sie sich: 

Kuratierte Linkliste vom HFD mit aktuellen Hinweisen & Ressourcen: https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/chatgpt-im-hochschulkontext-%E2%80%93-eine-kommentierte-linksammlung

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