KI und der Paradigmenwechsel in der Bildung: Von Sorge zu Chance

KI und der Paradigmenwechsel in der Bildung: Von Sorge zu Chance

30.06.25

Bild mit abstrakter Graphik von einer Studentin und dem Wort „A I“. Darunter der Text: KI und der Paradigmenwechsel in der Bildung: Von Sorge zu Chance. Ein Blogartikel von Steve Joordens.

Der Bildungsbereich durchläuft einen Paradigmenwechsel, der vor allem durch künstliche Intelligenz (KI) vorangetrieben wird. In diesem Blogartikel betrachtet Steve Joordens, Professor für Psychologie an der University of Toronto Scarborough, die Auswirkungen dieses Wandels auf die Zukunft der akademischen Welt. Auf Grundlage seines langjährigen Fachwissens und der digitalen Transformationsinitiativen seiner Universität tritt er einen Schritt zurück, um die breiteren Auswirkungen des KI-getriebenen Wandels zu betrachten.

Paradigmenwechsel und die Unterbrechung von Tradition

Die Geschichte der Wissenschaft ist von Paradigmenwechseln geprägt. Dieses Konzept wurde von Thomas Kuhn (1962) eingeführt, in Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen. Kuhn vertrat die Ansicht, dass der Fortschritt nicht gleichmäßig und linear verläuft, sondern vielmehr durch Brüche – Momente, in denen bestehende Modelle zusammenbrechen und uns zu einer grundlegenden Veränderung unseres Verständnisses der Welt zwingen. Eines der berühmtesten Beispiele ist der Übergang von der Newtonschen Physik zu Einsteins Relativitätstheorie. Die Newtonschen Gesetze wurden jahrhundertelang akzeptiert, aber als Wissenschaftler:innen auf Phänomene stießen, die sie nicht erklären konnten – wie das Verhalten von Licht in der Nähe massiver Objekte – wurde klar, dass ein neues Framework benötigt wurde. Einsteins Arbeit veränderte nicht nur die Newtonsche Mechanik, sondern revolutionierte unser Verständnis von Raum, Zeit und Schwerkraft.

Die Bildung steht heute vor einem eigenen Paradigmenwechsel, der nicht von der Physik, sondern von der künstlichen Intelligenz (KI) angetrieben wird. Ähnlich wie frühere Veränderungen in der Wissenschaft ist dieser Moment gekennzeichnet durch das Versagen traditioneller Methoden angesichts neuer Realitäten. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Leistungsbeurteilung, wo die KI grundlegende Annahmen darüber in Frage stellt, wie wir Lernen bewerten.

KI und die Krise der Leistungsbeurteilung

Seit Generationen steht die Leistungsbeurteilung im Zentrum von Bildung. Ob durch Aufsätze, Problemstellungen oder standardisierte Tests, wir sind immer davon ausgegangen, dass Studierende, die eine Aufgabe korrekt lösen können, den Stoff gelernt haben. Doch mit dem Aufkommen generativer KI-Tools können Studierende jetzt auch ohne tiefgreifendes Engagement hochwertige Arbeiten produzieren. Plötzlich bedeutet eine gute Note nicht mehr zwangsläufig, dass jemand etwas auch gelernt hat. Dies bedroht das Fundament unseres traditionellen Beurteilungsmodells.

Wie zu erwarten war, war die erste Reaktion Sorge. Viele Lehrkräfte sehen in KI ein Werkzeug zum Schummeln, und Bildungsinstitutionen haben sich beeilt, KI-Erkennungssoftware zu implementieren und zu alten Modellen von persönlichen Prüfungen zurückzukehren, um die Kontrolle zu behalten. Aber die Geschichte zeigt, dass solch reaktionären Antworten selten von Dauer sind. Jeder Paradigmenwechsel beginnt mit einem Bruch, da alte Methoden zunehmend dysfunktional werden. Irgendwann hören wir auf zu versuchen, ein scheiterndes System zu reparieren und stellen uns die viel produktivere Frage: Wie können wir diese Brüche nutzen, um etwas Besseres zu schaffen?

Wie kommen wir von der Angst zur Chance?

Angesichts all dessen, was Lehrkräfte in den letzten Jahren durchmachen mussten – Pandemie, veränderte Lehrmethoden und steigende Anforderungen der Studierenden – ist es nicht verwunderlich, dass sich viele bei dem Gedanken, KI in ihren Unterricht zu integrieren, überfordert fühlen. Die reflexartige Reaktion ist verständlich: „Nicht noch eine Sache!“ Aber anstatt KI als Last zu betrachten, müssen wir den Lehrkräften helfen, sie als Chance zu sehen.

Wie können wir also die Perspektive wechseln? Das Bewusstsein für die Möglichkeiten von KI kann dabei entscheidend sein. Bevor wir von Lehrkräften verlangen, KI im Unterricht einzusetzen, sollten wir sie einfach dazu ermutigen, damit zu spielen. Bitten Sie die KI, Ihnen Rezepte vorzuschlagen, auf Basis dessen, was Sie im Kühlschrank haben. Bitten Sie sie, einen Song im Stil eines Lieblingskünstlers zu schreiben. Bitten Sie sie, einen perfekten Tag in einer Stadt zu planen, die sie schon immer einmal besuchen wollten. Durch das Experimentieren mit KI mit geringem Risiko und auf kreative Weise können Lehrkräfte das Potenzial von KI erkennen und nicht nur die Herausforderungen. Außerdem können sie so besser verstehen, was die KI tut und wie sie es tut. Diese Entmystifizierung der KI ist entscheidend für den Abbau der natürlichen Angstreaktion.

Gleichzeitig wäre es unrealistisch, von jeder Lehrkraft zu erwarten, dass sie an der Spitze der KI-getriebenen Innovation steht. Stattdessen sollten wir uns vom Unternehmertum inspirieren lassen und das Aufkommen von „Intrepreneuren“ fördern – Lehrkräfte, die innerhalb des Systems arbeiten, aber die Freiheit und die Ressourcen haben, mit KI auf kreative Weise zu experimentieren. Diese Personen könnten neue Methoden testen, bewährte Verfahren verfeinern und konkrete Anwendungsfälle entwickeln, die dann mit der weiteren Bildungsgemeinschaft geteilt werden können. Anstatt von jeder Lehrkraft zu erwarten, dass sie das Rad neu erfindet, können wir die Neugier und das Fachwissen derjenigen nutzen, die den Schaffungsprozess lieben, und es ihnen ermöglichen, mit ihren Entdeckungen anderen den Weg zu ebnen. Die Früchte ihrer Arbeit könnten sich dann in unseren Institutionen in Form von konkreten Anwendungsfällen verbreiten, die jede Lehrkraft nutzen kann. Und wenn wir einer Lehrkraft schließlich eine Auswahl von Anwendungsfällen zur Verfügung stellen können, die eine Vielzahl von Lernergebnissen unterstützen, dann fördert diese Wahlmöglichkeit das Gefühl der Autonomie und Kontrolle der Lehrkraft, was wiederum die Sorge reduziert.

Ein transformatives Beispiel: KI und Leistungsbeurteilung

Um das Potenzial von KI wirklich zu veranschaulichen, sollten wir uns auf eine der am tiefsten verwurzelten Praktiken im Bildungswesen konzentrieren: Multiple-Choice-Tests.

Multiple-Choice-Tests sind weit verbreitet, weil sie logistisch effizient sind – sie sind einfach zu verwalten, leicht zu bewerten und skalierbar. Sie haben jedoch auch einen großen Makel. Multiple-Choice-Tests, wie sie standardmäßig eingesetzt werden, fördern eher das oberflächliche Auswendiglernen als das tiefe Verstehen. Sie bewerten kein kritisches Denken, Kreativität oder die Fähigkeit, Wissen auf sinnvolle Weise anzuwenden. Ein durchdachter Ansatz bei der Gestaltung von Multiple-Choice-Tests kann diese Schwächen bis zu einem gewissen Grad abmildern, aber eben nur bis zu einem gewissen Grad, und andere negative Aspekte – wie die Tatsache, dass Studierende bei jeder Frage falschen Informationen ausgesetzt sind – sind einfach Teil des Prozesses.

Was wäre, wenn wir es besser machen könnten?

Stellen Sie sich eine Zukunft vor, in der Studierende anstatt eines Multiple-Choice-Tests ein Gespräch mit einer KI führen – ein Test im Stil eines Rigorosums, bei dem eine speziell entwickelte KI offene Fragen stellt, nach einem tieferen Verständnis fragt und sich an die Antworten der Studierenden anpasst. Die KI könnte nicht nur den Wissenserwerb bewerten, sondern auch die Problemlösungsfähigkeit, das logische Denken und die Kommunikation. Sie könnte auch Feedback in Echtzeit geben, so dass die Studierenden aus dem Bewertungsprozess selbst lernen und so Bewertung und Lernen miteinander verbinden können.

Dieser Wandel könnte revolutionär sein, denn es gibt eine einfache Wahrheit: Leistungsbeurteilungen sind zentral für den Lernprozess. Das bedeutet, wenn Leistungsbeurteilungen tiefes und ganzheitliches Lernen in den Vordergrund stellen, wird das auch auf Lehr- und Unterrichtsmethoden zutreffen. Mit KI-gestützter Leistungsbeurteilungen könnten wir uns vom Auswendiglernen wegbewegen und uns einem Modell zuwenden, das echtes Verständnis, die Entwicklung von Fähigkeiten und lebenslanges Lernen fördert.

Mit Begeisterung in die Zukunft blicken

Ja, KI ist disruptiv. Ja, sie stellt unsere traditionellen Vorgehensweisen in Frage. Aber wenn wir einen Schritt zurücktreten, können wir erkennen, dass dies keine Bedrohung für die Bildung ist – es ist eine Einladung zur Verbesserung.

Wir stehen an der Schwelle zu etwas Außergewöhnlichem. Die Frage ist nicht, ob KI das Bildungswesen verändern wird – sie hat es bereits getan und tut es weiterhin jeden Tag. Die eigentliche Frage ist: Werden wir uns dem Wandel aus Sorge widersetzen oder werden wir ihn mit Neugier, Kreativität und Staunen annehmen?

Paradigmenwechsel sind nie einfach, aber sie sind die Momente, die den Fortschritt definieren. Dies ist unser Moment. Reagieren wir nicht nur auf KI, sondern gestalten wir die Zukunft der Bildung mit ihr neu.

Autor

Professor Steve Joordens ist Professor für Psychologie an der University of Toronto Scarborough, wo er sich auf kognitive Psychologie und Bildungstechnologie spezialisiert hat. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem menschlichen Gedächtnis, dem Bewusstsein und dem Einsatz von Technologien zur Verbesserung des Lernens, wobei er sich besonders auf die Beurteilung durch Gleichaltrige und die Entwicklung von kritischem Denken konzentriert. Als Direktor des Advanced Learning Technologies Lab hat er innovative Projekte zur Integration von KI und digitalen Tools in die Bildung geleitet. Als leidenschaftlicher Pädagoge hat Professor Joordens mehrere Auszeichnungen für seine Lehrtätigkeit erhalten und ist bekannt für seine ansprechenden Online-Kurse, die Lernende auf der ganzen Welt erreichen. Außerdem ist er ein gefragter Redner zu den Themen pädagogische Psychologie, technologiegestütztes Lernen und psychische Gesundheit von Studierenden. Über seine Erkenntnisse wurde in verschiedenen Medien berichtet, und er setzt sich weiterhin für aktive, auf Studierende ausgerichtete Lernansätze ein.

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