Innovativ ins Nextland: strategische Schritte medizinischer Fakultäten in digitalen Zeiten
Innovativ ins Nextland: strategische Schritte medizinischer Fakultäten in digitalen Zeiten
17.04.24Im vergangenen Jahr war das Interesse an der Peer-to-Peer-Fachbereichsberatung mit dem Schwerpunkt auf medizinische Fakultäten besonders groß. Da nicht alle Bewerbungen für die Beratung berücksichtigt werden konnten, hatten interessierte Fakultäten zusätzlich die Möglichkeit, an Workshops zur digitalen Transformation teilzunehmen. Die Ergebnisse haben Dr. Tina Classen und Johanna Leifeld zusammengefasst.
Mit der Peer-to-Peer-Fachbereichsberatung wird eine Perspektive im Beratungsangebot des Hochschulforums Digitalisierung eingenommen, die für eine ganzheitliche Strategieentwicklung von Hochschulen unerlässlich ist: Die Perspektive von Fachbereichen, Fakultäten und Dekanaten.
Die hohe Relevanz dieser Hochschuleinheiten bei hochschulstrategischen Prozessen zeigte sich unter anderem in der Anfang 2023 veröffentlichten Studie „Fakultäten im Aufbruch?!“ (vgl. Classen, 2023). Die digitale Transformation erfordert es, dass Fakultäten und Fachbereiche nicht nur an hochschulweiten Strategieprozessen partizipieren, sondern, nach Jahren zentraler Steuerung, (wieder) selbst strategisch zu agieren.
Im Zuge der Analyse von Fakultätsstrategien zeigte sich auch, dass die Medizin hierbei durchaus eine Vorreiterrolle einnimmt. Bei vielen der analysierten, über ihre Webseiten veröffentlichten Strategiepapiere auf Fakultätsebene, zeigte sich ein fundiertes Strategieverständnis. Deshalb überrascht es nicht, dass sich von der Ausschreibung der P2P-Fachbereichsberatung so viele Medizinfakultäten angesprochen gefühlt und eine Bewerbung eingereicht haben. Auch durch die bevorstehende Novellierung der ärztlichen Approbationsordnung, in der zum ersten Mal digitale Kompetenzen als Kernkompetenzen von Ärzt:innen festgeschrieben werden sollen und die, nach derzeitigem Stand, am 1. Oktober 2027 in Kraft treten soll, stehen medizinische Fakultäten vor der Aufgabe, ihre Curricula in Hinblick auf digitale Kompetenzen neu aufzustellen. Kein Wunder also, dass das Interesse an der Peer-to-Peer-Fachbereichsberatung groß war. Mit zehn Bewerbungen haben sich 25 % der deutschen medizinischen Fakultäten auf die Beratung beworben.
Da jährlich allerdings lediglich zwei für den Beratungsprozess ausgewählt werden können, wurde den anderen interessierten Fakultäten mit einem begleitenden Workshop-Konzept die Möglichkeit gegeben, sich vertiefend und strategisch orientiert mit dem Thema Digitalisierung in Studium und Lehre zu befassen und voneinander zu lernen. Hierfür haben sich sechs medizinische Fakultäten aus unterschiedlichen Hochschulen in ganz Deutschland für sechs Monate gemeinsam auf den Weg gemacht. Hierbei wurden sie systematisch begleitet und motiviert, über neue Zugänge und alternative Pfade zu bisherigem Agieren nachzudenken, neue Methoden und Herangehensweisen auszuprobieren und Akteur:innen anderer Fakultäten kennenzulernen, die sich in ähnlichen Prozessen befinden.
Das Konzept
Konkret wurden über sechs Monate insgesamt vier virtuelle Workshops durchgeführt, die sich am „Vom Nowland ins Nextland“-Programm orientieren (vgl. Päplow, Röwert, Ladwig, Klaffke 2020, in Anlehnung an Bernardis, A., Hochreiter, G., Lang, M. & Mitterer, G. 2016). Die Workshops boten den Teilnehmenden eine Gelegenheit, die aktuelle Situation in den medizinischen Fakultäten ganzheitlich zu analysieren, Kreativität zu entfesseln und mögliche Wege in die Zukunft abzuleiten.
Der erste Workshop diente als Grundstein für das gesamte Programm und bot den Teilnehmenden grundlegende Impulse zum Verständnis von strategischen Entwicklungen in Digitalisierung von Studium und Lehre sowie zu möglichen Methoden, die die Teilnehmenden dabei unterstützen sollten, die Situation an der eigenen Fakultät zu analysieren und zu bewerten. Mit einem deutlichen Verständnis von Ausgangslage und Rahmenbedingungen der jeweiligen Fakultät konnten die Teilnehmenden sich anschließend auf den Weg machen. Durch interaktive Übungen und Diskussionen wurde ein gemeinsames Verständnis für die Ziele des Programms geschaffen und ein starkes Fundament für die folgenden Workshops gelegt.
Im zweiten Workshop stand die Entwicklung einer klaren und inspirierenden Vision im Mittelpunkt. Die Teilnehmenden wurden ermutigt, über die Grenzen des Status Quo hinauszudenken und sich eine Zukunft vorzustellen, die sie mit der eigenen Fakultät anstreben möchten. Durch kreative Methoden wie die What-if-Methode (vgl. Luther, 2013) oder das Reframing wurden die Teilnehmenden dazu angeregt, ihre Vorstellungskraft zu nutzen und mutige Ziele zu setzen. Ziel des Workshops war es, über den eigenen Horizont hinauszuschauen, Herausforderungen zu identifizieren und im Nextland das zukünftige Potenzial der strategischen Weiterentwicklung der Fakultät zu definieren.
Die Vorstellungen und Visionen waren entwickelt, und die Motivation zur Veränderung ungebrochen. Deshalb ging es im dritten Workshop darum, wie das Mare Transformatio überwunden werden kann, wie also die Übergangsphase vom Nowland zum Nextland, also von dem Punkt, an dem die Fakultät gerade steht, hin zu ihrer Zielvision, sinnvoll gestaltet werden kann. Hierfür mussten die Teilnehmenden sich Gedanken über Anreize, Motivation, Rahmenbedingungen, Infrastrukturen und Inhalte ihrer Strategien und deren Umsetzung machen, wobei Werkzeuge der Strategieentwicklung, wie Mindmaps oder ein adaptiertes Business Model Canvas genutzt wurden.
Im vierten und letzten Workshop galt es, ein ausführliches Action Planning zu definieren, indem konkrete Maßnahmen entwickelt wurden: Nächste Schritte und Verantwortlichkeiten wurden identifiziert, Timings wurden gesetzt, Ressourcen-Bedarfe wurden skizziert, potenzielle Hindernisse wurden identifiziert und Lösungswege wurden durchdacht. Darüber hinaus hatten die Teilnehmenden auch die Gelegenheit über die Key Take-Aways zu reflektieren.
Key Takeaways
Sowohl was den Prozess als auch den Inhalt der strategischen Ausrichtung der digitalen Transformation betrifft, konnten verschiedene Aspekte am Ende der Reise noch einmal identifiziert werden:
🤝 Partizipation und Teilhabe
Im Prozess spielte für alle Teilnehmenden, insbesondere das Identifizieren der wichtigsten Stakeholder und deren Partizipation eine wichtige Rolle. Oftmals ist dieser Aspekt wesentliches Erfolgskriterium für das Gelingen der digitalen Transformation in der Fakultät. Gerade die Partizipation von Studierenden wurde als absolut relevant wahrgenommen. Wo diese bereits gut funktioniert, haben die Teilnehmenden sie als besonders wertvoll und produktiv erfahren. Inwieweit Teilhabe überhaupt möglich ist, hängt auch von der Ausgestaltung der Entscheidungsprozesse ab: Je nachdem auf welchen Positionen und in welchen Teams die Kolleg:innen arbeiten, haben sie unterschiedliche Möglichkeiten in der Fakultät zu handeln und andere teilhaben zu lassen. Gerade hier konnten sich die Teilnehmenden am Begleitprogramm wertvolle Tipps und Hinweise geben und einander an den Erfahrungen teilhaben lassen.
💬 Direkter Austausch erweist sich häufig als effektiver
Geht es darum, Good Practice Beispiele an der Fakultät in die Breite zu tragen, zu informieren und andere im Prozess zu involvieren, so haben sich Austauschformate als effektiver bewährt als schriftliche Maßnahmen wie z.B. Newsletter. Diese würden bei vielen Kolleg:innen keine Beachtung finden und hätten deshalb nicht den gewünschten Effekt, anders als Formate, die Lehrenden den direkten Austausch ermöglichen, egal ob es sich dabei um 30-minütige Formate oder ganze Tage der Lehre handelt. Als sehr hilfreich rund um partizipative wurde hierfür die dritte Ausgabe von „strategie digital“ angenommen, in der es ausschließlich um partizipative Maßnahmen und Strategien geht.
Interessant war an dieser Stelle auch, dass viel über die besondere Rolle von Lehrbeauftragten reflektiert wurde. Sie sind zentrale Akteur:innen im Medizinstudium und sollten dementsprechend auch regelmäßig in die aktuellen Entwicklungen an den Fachbereichen involviert werden. Direkte Gespräche mit dieser Zielgruppe wurden von den Teilnehmenden als zeitaufwendiger, aber zielführender und effektiver wahrgenommen als z. B. Umfragen per E-Mail.
🤖 Zur Definition des Begriffs „Digitalisierung“
Ein weiteres Key Takeaway dreht sich um den Inhalt der strategischen Auseinandersetzung, also um die Definition des Begriffs „Digitalisierung“. Eine gemeinsame Definition liegt an vielen Fakultäten noch nicht konkret vor, was die gemeinsame Arbeit schnell mühsam macht. Besteht der Wunsch, als Fakultät in einen gemeinsamen Prozess zu gelangen, so wird mit der Erarbeitung eines konsensualen Verständnisses des Begriffs „Digitalisierung“ eine gemeinsame Basis für die Weiterentwicklung der Fakultät geschaffen.
Die Teilnehmenden des Begleitprogramms waren eins in ihrer Motivation, ihren Studierenden ein bezüglich des Inhalts wie auch der Formate modernes Studium zu bieten, das sie zu Ärzt:innen ausbildet, die angemessen auf den digitalen Wandel in der Medizin reagieren, und diesen mitgestalten können. Hierfür wird die Diskussion über notwendige (digitale) Kompetenzen in Zukunft ein wichtiger Schritt sein, wobei ein fakultäts- und universitätsübergreifender Austausch hierzu sicherlich sinnvoll ist. Dementsprechend wurde auch dem Thema Curriculumsentwicklung ein wichtiger Stellenwert beigemessen. Hier ging es nicht nur darum, sich zu überlegen, wie digitale Kompetenzen im Curriculum des Medizinstudiums integriert werden können, sondern auch darum, wie man grundsätzlich auf die diversen Anforderungen an das Medizinstudium reagieren kann, z. B. mit Blick auf die weiteren Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz. So wurde der Wunsch geäußert, sich gerade dazu weiterhin austauschen und vernetzen zu wollen.
Fazit
All diese Aspekte zeigen, dass die strategische Weiterentwicklung der Fachbereiche in der Medizin ein durchaus komplexes Unterfangen ist. Dieses braucht neben der inhaltlichen und prozessualen Professionalität und Unterstützung der unterschiedlichen Stakeholder vor allem auch Mut, Freiraum zum Experimentieren und Begeisterung. Ein Raum, in dem sich zentrale Gestalter:innen untereinander austauschen, frei denken und kreativ über neue Wege reflektieren können ist dabei besonders hilfreich.
Bernardis, A., Hochreiter, G., Lang, M. & Mitterer, G. (2016). Eine Landkarte des Managements. Harvard Business Manager. Verfügbar unter: https://www.harvardbusinessmanager.de/ blogs/a-1074180.html
Classen, T. J. (2023). Fakultäten im Aufbruch? Strategie- und Rollenverständnis von Fakultäts- und Fachbereichsleitungen, Berlin: Hochschulforum Digitalisierung. Verfügbar unter: https://hochschulforumdigitalisierung.de/wp-content/uploads/2023/09/HFD_AP_67_Fakultaeten_im_Aufbruch.pdf
Kortegast, V., Röwert, R., & Ladwig, T. J. (2021). Vom Nowland zum Nextland: Eine Methode zur Schulentwicklung im digitalen Wandel: Konzeptpapier. Verfügbar unter: https://doi.org/10.15480/882.3379
Luther, M. (2013). Das große Handbuch der Kreativitätsmethoden. Bonn (managerSeminare Verlags GmbH).
Päplow, V., Röwert, R., Ladwig, T. J., & Klaffke, H. (2021). Das Methodenkonzept“ Vom Nowland zum Nextland“: zur proaktiven Mitgestaltung digitaler Transformationen in Organisationen. Verfügbar unter: https://doi.org/10.15480/882.2905.2
Autorinnen
Dr. Tina Classen ist seit März 2024 Geschäftsführerin der Deutschen Angestellten-Akademie. Zuvor war sie Professorin für Personalmanagement und Organisation an der International School of Management. Seit 2017 berät sie Hochschulen auf dem Weg ihrer Digitalen Transformation. In dem Zusammenhang beschäftigt sie sich neben Themen wie Open Education, Kooperation und Hochschulverbünde auch mit der Gestaltung von Lehr- und Lernräumen.
Johanna Leifeld arbeitet als Projektmanagerin für das Hochschulforum Digitalisierung im CHE Centrum für Hochschulentwicklung. Sie arbeitet in der Strategieentwicklung und verantwortet dort die Peer-to-Peer-Fachbereichsberatung. Außerdem gehört sie zum Team des University:Future Festival, der größten deutschsprachigen Veranstaltung zu Innovationen in der Hochschulbildung.