Hochschulbildungsreport 2020: Was sagen unsere Expert*innen dazu?
Hochschulbildungsreport 2020: Was sagen unsere Expert*innen dazu?
08.08.19Im Hochschulbildungsreport 2020 untersuchen der Stifterverband und McKinsey, wie gut die Hochschulen die Studierenden auf die Wirtschaft von morgen vorbereiten und formulieren Empfehlungen an Politik und Hochschulen. Was sich ändern muss: Laut den Studienautor*innen u.a. eine gezielte Förderung von Lehrinnovationen, die Vermittlung von Future Skills, agile Curricula und neue Lernräume. Wir haben fünf Kernthesen des Berichts identifiziert und Expert*innen aus der HFD-Community um ihre Einschätzung gebeten. Weitere Informationen und den vollständigen Bericht finden Sie hier.
Hochschulbildungsreport 2020: „Politik sollte gezielt Lehrinnovationen finanziell fördern und das in allen Bildungsbereichen.“
„Eine Möglichkeit ist, das Kriterium der Innovativität in der öffentlichen Beschaffung von Weiterbildung stärker zu gewichten. Des Weiteren sollte die Finanzierung von Education-Start-ups mit entsprechenden staatlichen Wagniskapital-Fonds unterstützt werden.“ (Siehe Seite 4)
Tina Ladwig (TU Hamburg)
Design und Umsetzung von Lehrinnovationen finden – wenn man die weltweiten Entwicklungen betrachtet – nicht mehr nur ausschließlich in den traditionellen Bildungsinstitutionen, wie Schule oder Hochschule statt. Vielmehr zeigen aktuelle Entwicklungen die Zunahme von Education Start-ups, kurz EdTech, insbesondere im internationalen Kontext. In Deutschland hingegen scheinen sie kaum sichtbar zu sein. Das soll nun durch die Forderung nach staatlicher Finanzierung geändert werden. Doch was bedeutet dies konkret?
Auf der einen Seite werden EdTech unter anderem als Innovationstreiber für die digitale Bildung verstanden, die individualisierte, digitale Angebote für Schulen, Hochschulen und für die Weiterbildung zugänglich, flexibel und günstig anbieten. Will man auf diese innovativen Lösungen für die Gestaltung digitaler Lehr- und Lernangebote zurückgreifen und sich dabei nicht von bspw. amerikanischen Anbietern abhängig machen, ist die Forderung durchaus legitim einzuschätzen.
Doch jede Medaille hat zwei Seiten. Ähnlich wie auch im unternehmerischen Kontext sollte auch im Bildungskontext die make-or-buy-Frage konstruktiv kritisch reflektiert werden. Dabei wird abgewogen, inwiefern eine Innovation selbst entwickelt wird oder ob diese von anderen Anbietern, wie bspw. von EdTech Start-ups bezogen wird. In diese Analysen können unterschiedliche Kriterien einfließen. Ein Kriterium ist bspw. die Nähe zu den Lebens- und Arbeitswelten der Nutzer_innen. Das heißt wie nah an den tatsächlichen Einsatzszenarien sollten Designer_innen digitaler Bildungsangebote sein. Wie sehr können sich bspw. externe Anbieter außerhalb der Bildungsinstitutionen auf die Bedürfnisse der Nutzer_innen einlassen und diese auch verstehen.
Neben der Möglichkeit der Entwicklung zielgruppenadäquater und bedarfsgerechter digitaler Bildungsangebote ist ein weiteres Kriterium das Ausschöpfen von Lernprozessen für die Organisationen selbst, die diese Innovationen nicht nur nutzen sondern auch entwickeln. Digitalisierung ist sowohl ein technisches, wie auch soziales Phänomen, welches eine nachhaltige Berücksichtigung in den Bildungsinstitutionen erfordert. Das spricht auch für einen sensiblen Umgang mit dem „Einkaufen“ von Innovationen, da viel Potenzial damit auch verschenkt wird, der Organisation selbst die Möglichkeit zum organisationalen Lernen zu geben.
Kurzum: die Forderung nach finanzieller Unterstützung von Education Start-ups insbesondere, um zukünftig auf Angebote im eigenen datenschutzkonformen Raum zurückgreifen zu können und um internationale Trends mit zu bedienen ist durchaus legitim. Jedoch sollte das Bildungssystem ganzheitlich auch das organisationale Lernen berücksichtigen, welche insofern von den Bildungsinstitutionen nicht übersprungen werden kann und aus meiner Sicht auch nicht sollte.
Ralph Sonntag (HTW Dresden)
Die Dynamik, Komplexität und damit auch Unsicherheit von zukünftigen Kompetenzen in Berufswelt und Gesellschaft nimmt zu und wird weiter zunehmen. Parallel dazu steigt die Diversität von Studierenden und die Weiterbildungsbedarfe im Sinne eines Lebenslangen Lernens.
Bildung ist hoheitliche Aufgabe. Wenn wir unter Bildung auch Weiterqualifizierung und Lebenslanges Lernen verstehen, dann darf und muss Politik hier agieren und Anreize schaffen. So wie Hochschulen auf Basis einer Kompetenzorientierung Studierangebote schaffen, sollte für Angebote des Lebenslangen Lernen ebenso eine Kompetenzorientierung und Qualitätsmanagement gelten. Zusammen mit Hochschulen können dann solche Weiterbildungsangebote qualitätsgesichert angeboten werden, so nehmen Weiterbildungsanbieter und Hochschulen gemeinsam diese notwendige und zukünftige Aufgabe im Lebenslangen Lernen aktiv wahr.
Die Politik kann genau diese Kooperationen für Angebote von Lebenslangem Lernen fördern und zeigen, dass der hoheitliche Auftrag auch für ein umfassendes Bildungsverständnis von morgen gilt.
Hochschulbildungsreport 2020: „Derzeit mangelt es vor allem an (Weiter-) bildungsangeboten, die Zukunftskompetenzen wie komplexe Datenanalyse oder kollaboratives Arbeiten vermitteln.“
„Daher bedarf es der Einrichtung von Studiengängen, die spezifischer auf technologische Future Skills ausgerichtet sind, um Studierenden eine Spezialisierung in Zukunftstechnologien zu ermöglichen. Zudem sollte Data Literacy als Querschnittskompetenz in allen Studiengängen etabliert werden.“ (Siehe Seite 4)
Antje Michel (FH Potsdam)
Der Hochschul-Bildungs-Report 2020 benennt unter Bezug auf die Future Skills-Studie von Stifterverband und McKinsey von 2019 einen immensen Qualifikationsbedarf sowohl in Bezug auf die „Technological Skills“ als auch auf die „Classical Skills“. Dabei wird betont, dass „für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen […] die Verknüpfung von Technological Skills, Digital Citizenship Skills und Classical Skills von entscheidender Bedeutung [ist]“ (Hochschul-Bildungs-Report, S. 10). Diese Diagnose zeigt die Relevanz einer ganzheitlichen Kompetenzvermittlung auf. Wenngleich der Bedarf an zusätzlichen gut ausgebildeten Personen mit technologischen Fähigkeiten unbestritten ist, müssen diese zugleich über klassische Kompetenzen verfügen. Das bedeutet, es geht nicht nur um die Ausweitung des Studienplatzangebots im Bereich der technologischen Future Skills. Zudem müssten die Curricula dieser Studiengänge dahingehend geprüft werden, inwiefern ihre Qualifizierungsziele auch die Weiterentwicklung der „Classical Skills“ adressieren.
Wichtig ist hierbei meines Erachtens, dass die Grundlagen der kompetenzorientierten Lehre berücksichtigt werden. Diese wurden 2012 sehr prägnant im HRK-Nexus Fachgutachten zur Kompetenzorientierung in Studium und Lehre dargestellt: „Kompetenzerwerb gelingt nicht durch rezeptives Lernen, sondern erfordert die aktive, handelnde und problemorientierte Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen (Reinmann, Mandl 2006 nach HRK-Nexus 2012, S. 56). Das bedeutet, dass bestehende didaktische Konzepte (denn aktivierende Lehr-Lernstrategien sind anders als im Hochschul-Bildungs-Report auf S. 26 dargestellt, längst ein integraler Bestandteil zahlreicher Curricula), in denen Learning Outcomes und didaktische Vermittlungsmethoden sinnvoll aufeinander bezogen worden sind, wie z.B. Ansätze des problemorientierten, des transferorientierten oder des forschenden Lernens, weiter gestärkt werden sollten. Derartige Lehr-Lernformen bieten nicht nur die Möglichkeit der ganzheitlichen Kompetenzentwicklung der Studierenden, sondern auch die Integration von realen Fallstudien in die Lehre und damit auch die Möglichkeit, des reziproken Wissenstransfers zwischen Lernenden an Hochschulen und Projektpartner*innen aus Unternehmen oder öffentlichen Einrichtungen.
Der Entwicklung von Data Literacy, verstanden als eine Querschnittskompetenz, weist der Hochschul-Bildungs-Report 2020 eine besondere Relevanz in der Hochschulbildung sowie der akademischen Weiterbildung zu. Ein methodisch kompetenter und kritisch reflektierter Umgang mit Daten sowie ihrer Rolle im Wertschöpfungsprozess der Informations- und Wissensgenerierung ist ein ausgesprochen wichtiges Bildungsziel zur erfolgreichen Teilhabe an unserer zunehmend wissensintensiven Arbeits- und Lebenswelt. Der Bildungsforschung fehlen jedoch aktuell noch Erkenntnisse darüber, welche Vermittlungsmodelle für die Entwicklung von Data Literacy besonders erfolgversprechend sind. Bestehende Pilotprojekte, wie z.B. die Konzepte der drei im Programm „Data Literacy Education“ des Stifterverbands geförderten Hochschulen sowie die zukünftigen Finalist*innen der Data Literacy Education NRW-Förderlinie sollten hier gezielt beforscht werden. Besonders wichtig für eine erfolgreiche Nachnutzung der entwickelten Konzepte werden die Erkenntnisse darüber sein, inwiefern die wissenskulturell spezifische oder die fachübergreifende Konzeption erfolgreich für die Vermittlung von Data Literacy ist. Dies ist auch jenseits der Förderung von Data Literacy eine sehr grundlegende Frage für die Curriculumentwicklung, denn sie betrifft die Gewichtung von überfachlichen Kompetenzen und Fachkompetenzen in der Komposition von Curricula.
Hochschulbildungsreport 2020: „Angesichts der Schnelligkeit von Wissensproduktion und -verfall müssen die Curricula flexibel und anpassungsfähig werden.“ (Siehe Seite 4)
Tobias Seidl (HdM Stuttgart)
Bereits bei der Prägung des Begriffs „Schlüsselqualifikationen“ in den 1970er Jahren stand die Vorbereitung der Lernenden auf eine sich schnelle wandelnde Zukunft im Mittelpunkt. Heute müssen wir feststellen, dass die Veränderungsdynamik noch schneller und spürbarer geworden ist. Für die Hochschulen stellen sich damit verschiedene Herausforderungen:
- Welche Kompetenzen müssen neu in die Curricula integriert bzw. gestärkt werden? Hierbei ist es von großer Bedeutung die aktuelle Forschungslage zu Future Skills zu berücksichtigen und gleichzeitig den Blick nicht alleine auf technische Fähigkeiten zu verengen.
- Wie können diese Kompetenzen sinnvoll und nachhaltig in der Lehre adressiert werden? Dabei müssen zwingend alle Dimensionen der Kompetenzen berücksichtigt werden: komplexes Wissen und (Anwendungs-)Fähigkeiten gleichermaßen wie auch motivationale Orientierungen und (Wert-)Haltungen (vgl. dazu auch dieses Diskussionspapier).
- Was wird benötigt (Organisation, Kultur, Ressourcen) um Future Skills professionell in die Hochschullehre integrieren zu können? Bislang bleibt es an den Hochschulen zumeist nur bei Lippenbekenntnissen, ohne die notwendigen Konsequenzen folgen zu lassen. Das muss sich dringend ändern (vgl. dazu diesen Meinungsbeitrag).
- Wie regelmäßig und mit welchem Vorgehen wird die Aktualität und Passung von Kompetenzzielen und Curricula überprüft? Hier ist es notwendig Curricula und Prüfungsordnungen von vornherein leicht veränderbar zu gestalten und die Inhalte regelmäßig unter Einbeziehung verschiedener Stakeholder zu hinterfragen und ggf. anzupassen. Nur so kann mit den technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen Schritt gehalten werden (vgl. dazu auch diesen Blogbeitrag).
Hochschulbildungsreport 2020: „Neue Lernorte können dabei unterstützen, Future Skills zu vermitteln, insbesondere durch neue Lernumgebungen und agile Innovationsräume.“ (Siehe Seite 23)
Manuel Dolderer (CODE University)
“Viele wichtige disziplinenübergreifende Future Skills wie zum Beispiel kollaboratives Arbeiten, unternehmerisches Denken und agile Lern- und Arbeitsmethoden lassen sich überwiegend nicht inhaltlich vermitteln, sondern bedürfen neuer Formen und Räume des (physischen und virtuellen) Lehrens und Lernens.”
Dieser beim ersten Lesen harmlos klingende Satz aus dem Hochschulbildungsreport 2020 beinhaltet eine der zentralen Herausforderungen für unsere Hochschulen. Um zukunftsfähige Bildung zu ermöglichen, ist es mit neuen Studiengängen und Weiterbildungsangeboten nicht getan. Es braucht viel mehr neue Formen des Lernens, neue Lernkonzepte und neue Lernräume.
Praktisch bedeutet das, dass sich Hochschulen an vielen Stellen verändern müssen:
- Sie müssen ihre Architektur mit Blick auf die neuen Lernformen und die sich daraus ergebenden Bedürfnisse ihrer Lernenden verändern. Zu viele Raumkonzepte sind noch auf klassische Wissensvermittlung ausgelegt.
- Sie müssen mit ihren virtuellen Lernumgebungen Werkzeuge für kollaboratives Lernen und Arbeiten zur Verfügung stellen. In vielen Fällen nutzen Hochschulen ihre Lernplattformen ausschließlich zur Verwaltung von Studium und Lehre.
- Sie müssen die didaktische Konzeption ihrer Lernangebote mit Blick auf die neuen Kompetenzziele grundlegend überarbeiten und ihre Lehrenden befähigen, diese neuen Konzepte umzusetzen und darin eine veränderte Rolle zu übernehmen, die viel stärker auf das Befähigen und Unterstützen ausgerichtet ist als auf das Belehren.
Für all das brauchen Hochschulen Ressourcen. Zentrales Ziel staatlicher Hochschulpolitik muss es daher sein, Hochschulen in die Lage zu versetzen, sich diesem physischen wie konzeptionellen Umbau hin zu einer zukunftsfähigen Lernumgebung zu stellen, und ihnen gleichzeitig ausreichend Gestaltungsspielraum für innovative Lernkonzepte zu geben.
Hochschulbildungsreport 2020: „Eine weitere Option für Hochschulen ist es, in die Schaffung von spezialisierten Masterprogrammen in Informatik und anderen Technological Skills zu investieren, die sich an Fachfremde richten.“ (Siehe Seite 24)
Dominic Orr (Kiron Open Higher Education)
Das Problem bei der Bildung ist, dass wir sie immer als eine Einbahnstraße konzipieren. Diese Straße wird in der Regel immer enger gefasst. In der Hochschulbildung verläuft sie so: Hat man noch im Abitur eine allgemeine Reife erworben, spezialisiert man sich immer mehr mit jedem weiteren Studienjahr. Nach diesem Konzept muss man nur entscheiden auf welcher Ebene die neuen digitalen Skills erworben werden müssen: wenn sie grundständig sind – früh, wenn sie spezialisiert sind – später.
Wenn man aber argumentiert, dass die Digitalisierung immer weiter zur Neukonfiguration von sozialen und technischen Prozessen führt, erfordert es immer häufiger sowohl die Erneuerung von grundständigen als auch von spezialisierten Kompetenzen und es wird nicht reichen die Bildung linear zu denken. So argumentiert auch dieser Bericht und fordert die Hochschulbildung heraus, diese Aufgabe anzunehmen (S.24). Interessanterweise zeigen erste Studien zum Berufsverlauf über einen längeren Zeitraum, dass insbesondere Studierenden der Geisteswissenschaften über ihren beruflichen Werdegang für den Arbeitsmarkt wertvoller werden, wenn sie neues technisches Wissen und technische Kompetenzen mit ihren kreativen und kommunikativen Kompetenzen aus dem Erststudium verbinden können.¹ In diesem Sinne schlägt die Studie die Einrichtung von neuen Masterstudiengängen vor, die Fachfremden angeboten werden.
Tatsächlich hat die im Bericht zitierte AHEAD-Studie diese Option als Zukunftsmodell „Jenga“ vorgeschlagen, die eine enge Bindung zwischen erster Studienphase (Bachelor, Kurzstudium) und weiteren Studienmodulen vorsieht, die auf neue Erfordernisse im Arbeitsmarkt eingehen (full disclosure: ich war Projektleiter dieser Studie).² Solche Module können volle Masterstudiengänge sein, aber sie können auch als kurze Module analog den Micromasters von MIT oder den Nanodegrees von Udacity gestaltet werden. Die Digital Skills-Lücke existiert und wird immer größer, aber sie erfordert Experimentierfreudigkeit von den Hochschulen (S.29), die sich in Acht nehmen sollten, wenn sie sehen, dass Personalverantwortliche der Unternehmen in der in der Studie zitierten Umfrage eher solche Beweglichkeit von privaten Anbietern und Start-ups als von öffentlichen Bildungsträgern erwarten (S.23). Ein erster Schritt wäre getan, wenn man erste akademische Ausbildung und Weiterbildung nicht mehr so stark trennt, sondern als zusammenhängendes Ganzes sieht.
Referenzen:
¹ Weise, M. R., Hanson, A. R., Sentz, R., & Saleh, Y. (2018). Human + Skills For The Future of Work. Retrieved from https://www.economicmodeling.com/wp-content/uploads/2018/11/Robot-Ready_Report_Single.pdf
² https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/news/ahead-studie-hochschullandschaft-2030