Die erfundene Revolution
Die erfundene Revolution
02.11.15Mit dem Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ legen Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt von der Bertelsmann Stiftung einen meinungsstarken Beitrag zur Digitalisierungsdebatte vor. Bei uns im Blog hat Ralph-Müller Eiselt einzelne Thesen daraus in seinem Artikel „Hochschulstrategie: Angriff ist die beste Verteidigung“ vorgestellt. Markus Deimann antwortet in diesem Artikel auf die Inhalte des Buches aus der Sicht eines digital affinen Bildungsforschers.
Von was reden wir eigentlich?
Es geht um Bildung und um deren Zukunft, die wir gestalten sollen. Dabei steht uns ein „radikaler Wandel“ bevor, den die Autoren in elf Kapiteln dramaturgisch als „Auftakt, Szenen und Ausblick“ beschreiben. Getragen werden die Kapitel von drei zentralen Leitkategorien, die ich im Folgenden genauer beleuchten möchte: Bildung, Revolution und Technologie.
Bildung wird von den Autoren an mehreren Stellen im Buch mit der Person Wilhelm von Humboldts in Beziehung gebracht. Die Biographie und das Wirken von Humboldts sind ebenso brüchig wie wirkmächtig. Er schaffte, was zuvor kaum jemandem gelang, die Verbindung von Theorie und Praxis. Dazu entwickelte Humboldt eine eigene „Theorie der Bildung des Menschen“, die er dann in der Berliner Universität umzusetzen versuchte. Obschon nicht ganz so erfolgreich wie von ihm gehofft, setzte das deutsche Universitätsmodell international Maßstäbe und gilt als Vorbild, u.a. für die Harvard University. Humboldt veränderte mit seiner Reform grundlegend die Ausrichtung der Universität, vom seit dem Mittelalter gängigen Modell der Berufsausbildungsstätte zu einer Einrichtung, bei der es einzig und alleine um Erkenntnis ging. Ein Umstand, der heute gerne vergessen wird.
Der Humboldtsche Bildungsbegriff definiert Bildung – ganz in der Tradition des Deutschen Idealismus und der Aufklärung – als Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt in einer freien und regen Wechselwirkung. Im Mittelpunkt steht der Mensch mit seinen Kräften (heute sagen wir dazu Potentiale und Kompetenzen), die er in einem inneren Prozess des Sich-Bildens zu entfalten versucht. Ich kann also nur mich selbst bilden und nicht gebildet werden. Genau diese „Fremdbildung“ implizieren die Thesen zur Personalisierung aber (z.B. im vierten Kapitel). Mit zahlreichen Beispielen zeigen die Autoren, wie durch modernste Bildungstechnologien maßgeschneiderte Aufgaben die Lernenden genau dort abgeholt werden, wo sie gerade stehen. Diese passgenaue Instruktion ist ebenso verlockend wie im Widerspruch zum klassischen Bildungsbegriff. Zwar betonen die Autoren, dass es letztlich immer noch die Entscheidung eines jeden Einzelnen ist, ob die Empfehlungen befolgt werden oder nicht. Angesichts der Überzeungskraft der Technologien, an denen neben den Herstellern, Politiker_innen und eben auch die Autoren selbst arbeiten, scheint die Reise wo anders hinzugehen. Das „Problem“, worauf es eben keine „Lösung“ – hier verstanden als Idee, dass alle Probleme der Welt durch Technik zu lösen sind (Solutionismus) gibt, ist dass Bildung nicht von außen mess- und optimierbar ist. Humboldt kann sich heute nicht mehr wehren, aber es dürfte ziemlich sicher sein, dass er der gegenwärtigen Fokussierung auf mess- und dokumentierbare Kompetenz kritisch gegenüber gestanden wäre.
Ein zweiter zentraler begrifflicher Anker im Buch ist die Revolution. Auch hier möchte ich genauer verstehen, was damit gemeint ist. Für Dräger und Müller-Eiselt ist es klar: Die Digitalisierung bringt der Bildung das, was seit langem vermisst wird, Chancengerechtigkeit und Teilhabe. Mit digitalen Bildungsangeboten muss keine_r mehr auf der Strecke bleiben. Jede_r kann nun ganz den individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen entsprechend, lernen oder studieren, sich dabei weltweit mit anderen austauschen, neue Netzwerke knüpfen und damit den beruflichen Erfolg maßgeblich selbst beschleunigen. Als Beleg für diese These ziehen die Autoren insbesondere die Geschichte der (x)MOOCs heran. Erzählt wird diese allerdings ausschnitthaft und einseitig verzerrt. So findet man im Text ausschließlich Positivbeispiele und scheint auf dem Stand von 2012 stehen geblieben zu sein, als die New York Times das „Year of the MOOC“ ausrief. Doch die Entwicklung blieb seither nicht stehen und die Geschichte ging weiter. Ironischerweise ist es der von den Autoren als Vordenker gefeierte Sebastian Thrun, der die Hauptrolle spielt. Im November 2013 gab Thrun dem Magazin Fast Company ein bemerkenswertes Interview, in dem er die von ihm mitentwickelten MOOCs als „lousy product“ bezeichnete und damit eine erstaunliche Kehrtwende vollzog von kostenlosen MOOCs für alle zu spezifisch zugeschnittenen Weiterbildungsprogrammen für den IT-Sektor. Hintergrund war der durch die öffentlich bekanntgewordenen hohen Abbrecherraten erzeugte Druck, der auch dazu führte, dass die mediale gehypte Kooperation von Udacity mit der California State University gestoppt wurde. Ungeachtet der Sinnhaftigkeit von Abbrecherraten in freiwilligen, unbetreuten Massenkursen im Internet, kann die Geschichte der MOOCs heute nicht mehr ohne auf die Dropout-Quote einzugehen erzählt werden. Es ist vielmehr den MOOCs gegenüber ungerecht, dies so wie die Autoren zu verschweigen, da die Debatte weitergeht und sich neue Möglichkeiten ergeben, die aus der vermeintlichen Negativität einen Vorteil machen. So stand kürzlich im Magazin The Atlantic die These der „Accidential Power of MOOCs“, die aus dem empirischen Befund, dass es insbesondere professionell Lehrende sind, die einen MOOC erfolgreich absolvieren, Möglichkeiten für die Lehrerbildung ableitete. MOOCs sind kein fertiges Produkt, sondern eine in Entwicklung befindliche sozio-pädagogische Innovation, deren Wirkungskraft genau im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine liegt. Beide Seiten gilt es zu berücksichtigen, um Ängst und Widerstände der Lehrenden wie im Fall des Offenen Briefs des Philosophischen Departments der San Jose State University gegen den Einsatz des MOOCs von Michael Sandel. Es ist dabei nicht die mangelnde Kritik – es finden sich an mehren Stellen im Buch berechtigte Einwände gegen den MOOC-Hype – sondern der starke Fokus auf das Ereignis „1. MOOC Introduction to Artificial Intelligence“ um den es mir hier geht.
Die Revolution, so die zentrale These des Buchs, ist unaufhaltsam und ohne Alternativen. Träger der Revolution ist eindeutig die Technik, vor allem die aus dem Silicon Valley kommt. Damit sind auch gleich die Profiteure benannt, es sind „global agierende Unternehmen“, die das Bildungssystem der Zukunft bestimmten. Hochschulen spielen kaum noch eine Rolle. Warum auch? Verweigern sie sich doch der Digitalisierung und damit dem Fortschritt. Somit wird es ihnen ähnlich wie Unternehmen aus der Medienbranche gehen und sie werden sich einer disruptiven Innovation schutzlos gegenüber gestellt sehen. Den Autoren zufolge darf Bildung nicht länger in das ausschließliche Hoheitsgebiet der Hochschulen fallen. Globale Unternehmen wie LinkedIn schaffen es weitaus besser, den Bedürfnissen des globalisierten Arbeitsmarkts Rechnung zu tragen. So anschaulich und suggestiv die im Buch referierten Beispiele auch sind, sie sind Ausdruck einer ontologischen Indifferenz. Hochschulen funktionieren nämlich nach anderen Spielregeln als Medienkonzerne oder Automobilhersteller. Dass das so ist dafür sorgte der eingangs erwähnte Wilhelm von Humboldt. Er etablierte einen eigenen Code für die Universität, den Wahrheitscode. Entscheidendes Kriterium für Bildung ist das Wahrheitsstreben und Erkenntnisinteresse. Es geht nur darum, ob etwas wahr oder falsch ist. Ein davon zu unterscheidender Code ist der Geldcode aus der Ökonomie, wo es um Effizienz, Effektivität und Kosten-Nutzen-Rationalität geht. Dieser Code ist es, der die Argumentation der „digitalen Bildungsrevolution“ stützt. Belege dafür finden sich u.a. in der Sprache, die einen sich ständig selbstoptimierenden Lernenden adressiert und daran, wie ein erfolgreiches Ed-Tech-Unternehmen gemessen wird, nämlich in der Summe an eingeworbenem Venture Capital.
Somit ist es fraglich, ob eine solche Bildungsrevolution tatsächlich zum Segen für alle wird. Denn am Ende des Tages sind die Kapitalgeber weniger am Bildungsprozess ihrer zum Kunden gewordenen Lernenden interessiert als am Return ihrer Investments. Ihnen geht es entsprechend der Marktlogik um möglichst gut funktionierende Geschäftsmodelle. Das Geschäft der Bildung ist jedoch ein anderes.
Es ist schließlich auch zu hinterfragen, ob eine Revolution, die all ihre Kraft aus der Technik schöpft erstrebenswert bzw. in der von Dräger und Müller-Eiselt vorgetragenen Weise realisierbar ist. Denn auch wenn die Autoren nicht müde werden, die Macht von Algorithmen, Apps und MOOCs zu relativieren und dem Mensch die Entscheidungshoheit über den Einsatz von Lerntechnologien zuzubilligen, so ist das Wesen von Technik auf etwas anderes ausgerichtet. Günter Anders beschreibt das anschaulich in seinem 1969 erschienen Text „Die Antiquiertheit der Maschinen“ als Maschinenexpansion: „Jeder einzelnen Maschine ist (…) ‚Wille zur Macht‘ eingeboren. Diesem Willen nicht zu unterstehen, das steht in der Macht keiner Maschine. Jede ist, ob sie will oder nicht, darauf aus, größer zu werden als sie selbst, denn jede drängt auf einen Zustand hin, in dem die für ihre Leistung und für den Fortbestand ihrer Leistung unentbehrlichen externen Vorgänge (…) durchweg mit selbst maschineller Zuverlässigkeit ablaufen; was zugleich bedeutet, daß diese externen Prozesse zusammen mit ihren eigenen ein einziges großes Funktionsganzes bilden sollen.“ (S. 117f.)
Damit soll keinem Kulturpessimismus oder Technikfeindlichkeit das Wort geredet werden. Aber was wir brauchen ist eine aufgeklärtere Debatte, die sorgfältiger mit ihren Gegenständen umgeht, unbequeme Wahrheiten nicht verschweigt und die Mut hat, auch Negatives auszusprechen. Geschichte wiederholt sich nicht, schreitet aber auch nicht linear progressiv voran.
Bild 1: Eugène Delacroix: Die Freiheit führt das Volk
Bild 2: James Vaughan: China… on the march, CC-BY-NC-SA 2.0 via flickr.com