Sieben Merkmale von Bildungszertifikaten auf der Basis von Blockchain
Sieben Merkmale von Bildungszertifikaten auf der Basis von Blockchain
02.08.18Im Jahr 2017 hatte Bitcoin einen Höhenflug – die Blockchain ist seitdem in aller Munde. Lambert Heller analysiert die mögliche Nutzung von Blockchain für Bildungszertifikate.
Am 24. Mai 2018 ist die fünfte Ausgabe des Synergie Magazin der Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt „Demokratie, Transparenz und Digitalisierung“ erschienen. Lambert Heller verfasste darin einen Artikel zu blockchainbasierten Bildungszertifikaten. Den Originalbeitrag aus dem Magazin finden Sie hier.
Mit dem virtuellen Kreditsystem Bitcoin kam 2008 ein neues technisches Konzept in die Welt, die Blockchain. Blockchains sind Datenbanken, die als Kopien auf vielen Rechnern der Teilnehmenden eines Peer-to-Peer-Netzwerks (P2P) liegen. Transaktionen virtueller Krediteinheiten von einem Rechner zum anderen können hinzugefügt werden, wenn sie bestimmten Regeln folgen. Wurde eine Transaktion einmal hinzugefügt und von vielen anderen Rechnern im Netzwerk bestätigt, kann sie später nicht mehr verändert oder gelöscht werden. Das Besondere an Blockchain: Es handelt sich um ein offenes Protokoll, mit dem zwischen allen Rechnern im Netzwerk ein Konsens darüber erzwungen wird, welche Transaktionen in das persistente, verteilte Rechnungsbuch übernommen werden. Während die Protokolle des Internets und später des World Wide Webs den Informationsaustausch zwischen Rechnern regeln, ist mit der Blockchain ein Durchbruch beim Austausch von Werten in einem P2P-Netzwerk gelungen. Reinen Online-Zahlungsverkehr gab es natürlich schon vorher, aber er setzte stets Banken oder andere Kreditunternehmen voraus, die alle Vorgänge im Netzwerk zentral bestätigen oder blockieren.
1 Self-Sovereign Identity: Autonomie von Lernenden über ihre Zeugnisse
Zeugnisse werden auf einer Blockchain nicht zwangsläufig veröffentlicht, sondern nur auf den Rechnern zahlreicher Netzwerkteilnehmender in Kopie gespeichert. Die Kopien können so verschlüsselt werden, dass die Besitzerin eines bestimmten Knotenpunkts in dem jeweiligen Netzwerk fallweise selbst entscheiden kann, welche Zeugnisse oder Bewertungen sie für welche anderen Netzwerk-Teilnehmenden sichtbar macht. Damit macht die Blockchain-Technik Zeugnisse tatsächlich tragbar (portable) in der Hand der Lernenden. Die Unabhängigkeit von spezifischen Institutionen oder Plattformen bedeutet, dass die Lernenden ihre Daten keinem Dritten anvertrauen müssen – zumindest nicht grundsätzlich, siehe weiter unten. Zum Konzept von Self-Sovereign Identity (SSI) mittels solcher neuartiger dezentraler Protokolle werden im Umfeld des W3C (World Wide Web Consortium) derzeit neue Web-Standards entwickelt.
Self-Sovereign Identity ist im Kontext von Bildungszertifikaten deshalb interessant, weil das Konzept die Autonomie der Lernenden stärkt. Dies steht im Gegensatz zum Trend der Datafizierung, bei der Lernende eine Spur von Daten hinter sich lassen, die insbesondere von Betreibern digitaler Lernplattformen aufgezeichnet wird – und dies oft ohne Wissen und bewusste Zustimmung der Lernenden.
2 Disintermediation: Bewertungen als direkte Peer-to-Peer-Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden
Anders als die schlagzeilenträchtigen ersten Pilotversuche von MIT (Massachusetts Institute of Technology), Media Lab und anderen Bildungsinstitutionen mit blockchainbasierten Zeugnissen seit 2015 vermuten lassen, liegt deren Potenzial langfristig weniger bei renommierten Institutionen als bei der direkten Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden.
Das Potenzial von Blockchain wird oft unter Disintermediation (Weglassen vermittelnder Instanzen) zusammengefasst. Bildungsinstitutionen funktionieren für Lernende oft nicht zuverlässig und auf Dauer, da sie anfällig für diverse politische und ökonomische Einflüsse sind. Das gilt auch für Player auf dem globalen Bildungsmarkt, die auf und mit ihren Plattformen – z.B. Kursmanagementsystemen oder MOOC-Plattformen (Massive Open Online Course) – ebenfalls digitale Bildungszertifikate in Umlauf bringen.
Mittels dezentralisierter Protokolle können Lehrende ihre Bewertungen direkt den Lernenden übergeben; auch Mikro-Bewertungen in verschiedenen Rollenverteilungen sind möglich. Davon können sowohl die Aussagekraft der Zertifikate als auch die Autonomie der Beteiligten (siehe Merkmal 1) profitieren. Je nach Verwendung des Blockchain-Protokolls treten dabei Bildungsinstitutionen und -plattformen in den Hintergrund. Deren Zertifikate können z.B. eine zusätzliche Aussage darüber treffen, in welchem Kontext der Lehrende eine Bewertung vorgenommen hatte, siehe das nächste Merkmal.
3 Vertrauens-Ökonomie: Bildungszertifikate als Netzwerke zwischen diversen Bildungsakteurinnen und -akteuren
In einer globalisierten (Bildungs-)Welt gelten die Namen von Bildungsinstitutionen und staatlich sanktionierten Abschlüssen, Studiengängen und ähnlichem als Orientierungspunkte, die es z.B. Bewerberinnen und Bewerbern erleichtern, ihre Qualifikation einem potenziellen Arbeitgeber mitzuteilen. Die orientierende Funktion solcher Bildungsmarken wird durch die neuartigen dezentralen Ansätze nicht verneint. So ist es z.B. denkbar, dass eine Agentur die Akkreditierung eines Studiengangs über ein öffentlich lesbares Blockchain-Zertifikat bestätigt sowie ein Institut die aktuelle Zugehörigkeit einer Dozentin zu diesem Studiengang, oder sogar dass die Benotung einer bestimmten Absolventin durch diese Dozentin im Rahmen dieses Studiengangs erfolgte. Grech und Camilleri (2017) zeigen die Vielfalt der Anwendung von Blockchain-Zertifikaten auch über die unmittelbare Bewertung von Lernenden hinaus.
In derartigen Zertifikate-Netzwerken werden die Daten dezentral gepflegt und bleiben – je nach Rolle des Netzwerkteilnehmenden – diskret und autonom verfügbar. Die Absolventin könnte einer Arbeitgeberin zum Beispiel nachweisen, dass sie einen qualifizierenden Abschluss in einem akkreditierten Studiengang hat, ohne preisgeben zu müssen, welcher Studiengang das war, oder wer die Abschlussprüfung abgenommen hat. An die Stelle quasi allwissender Bildungsinstitutionen oder intermediärer Plattformen wie LinkedIn können somit informationssouveräne Beteiligte treten, die je nach konkretem Bedarf auf authentische Informationen Dritter zugreifen können. Gleichwohl gilt das unter Merkmal 2 gesagte: Erst die konkrete Implementierung der offenen Protokolle entscheidet, wer im Ergebnis welche Daten sammeln kann und wer nicht.
4 Personal Learning Ledger: Open Badges und E-Portfolios in Peer-to-Peer-Datenräumen
Der Browser-Hersteller Mozilla und andere hatten mit den Open Badges bereits 2011 vorgestellt, wie auch ohne Peer-to-Peer-Tech – nologien Zeugnisse beweisbaren Ursprungs in die Hand von Lernenden kommen (Heller 2017). Ein Open Badge kann zusätzlich auf ein digitales Artefakt im E-Portfolio einer Lernenden verweisen, mit der die nachgewiesene Qualifikation demonstriert worden ist. Blockchain-basierte Zeugnisse wie die der Open University im Vereinigten Königreich greifen dieses Konzept wieder auf (vgl. Abb. 1).
In einer Blockchain wie Ethereum (siehe weiter unten) werden nicht die umfangreichen Nachweise selbst gespeichert, sondern stattdessen wird ein Hash gebildet, eine (wenige Byte große) kryptographisch sichere Prüfsumme eines solchen LernArtefakts, welche dann auf der Chain mit der Identität der Lernenden verknüpft werden (Heller 2017).
Die Flexibilität von dezentralen digitalen Qualifikationsnachweisen verlangt nach weiteren Anstrengungen bei der Standardisierung, wie Grech und Camilleri (2017) betonen. Das betrifft die semantische und die technische Ebene, aber auch die unter 3 bereits erwähnte Frage neu zu definierender Rollen von Bildungsinstitutionen und Onlineplattformen in dieser Landschaft.
5 Verbesserung der Beweisbarkeit und Resilienz von Bildungszertifikaten
Das Vertrauen in die Gültigkeit, Herkunft, den Erstellungszeitpunkt sowie die Identität des Bewerteten und weitere Details wird bei blockchain-basierten Zeugnissen durch kryptografische Verfahren hergestellt (vgl. Abb. 2). Globalisierung und Digitalisierung führen dazu, dass alle Akteurinnen und Akteure in Bildungssystem und Arbeitsmarkt in einer immer lückenloseren und komplexeren Landschaft von Bildungszertifikaten navigieren. Effizienzgewinn (Merkmal 7) und eine resiliente technische Grundlage für diese Output-Steigerung bedingen sich gegenseitig. Am Beispiel Indien lässt sich dies gut ablesen: Die jüngst erfolgte Einführung blockchain-basierter Diplome an einigen Universitäten war nicht zuletzt eine Antwort auf die wachsende Zahl gefälschter (Papier-) Diplome (Delahunty 2018).
Die kryptografische Sicherheit entlastet Lernende insofern, dass sie die Korrektheit eines Zeugnisses (und dass es sich dabei tatsächlich um ihr eigenes Zeugnis handelt) nicht mehr beweisen müssen. Dies kann mittels Blockchain stärker auf die digitale Technik ausgelagert werden.
6 Offene Protokolle und Netzwerke: Synergien im Umfeld dezentraler Bildungszertifikate
Bei der 2015 entwickelten Blockchain Ethereum gilt der Austausch virtueller Krediteinheiten nur noch als eine mögliche Anwendung von vielen. Das Ziel ist hier, aus einem P2P-Netz einen „Weltcomputer“ zu machen, auf dem nahezu beliebige Anwendungen laufen können – unstoppbar und transparent für alle im Netz. Eine mögliche Anwendung sind „Smart Contracts“, die automatisch eine Transaktion ausführen, wenn vorher definierte Bedingungen erfüllt sind. Um Ethereum und das P2P-Dateisystem IPFS (InterPlanetary File System) herum ist mittlerweile ein offenes Ökosystem verschiedener Anwendungen entstanden (Alisie 2018), mit denen Synergien auf Basis dieser offenen Protokolle ausgeschöpft werden sollen.
So basieren die blockchain-basierten Diplome der Open University (OU) im Vereinigten Königreich ebenfalls auf Ethereum und IPFS, und mit Akasha.World lässt sich bereits ein soziales Netzwerk basierend auf Ethereum und IPFS im Beta-Stadium ausprobieren.
7 Effizienzgewinn: die ambivalenten sozialen Implikationen der Blockchain für das Lernen
Die einschneidendste Veränderung von Bildungszertifikaten durch die Blockchain ist ein Effizienzgewinn, dessen mittel- und langfristigen sozialen Auswirkungen noch kaum absehbar sind. So weit, so typisch für Digitalisierung allgemein. Lehrende werden per Klick oder Wischbewegung jederzeit und überall Bewertungen vornehmen können; diese werden von der oder dem Lernenden autonom, portabel, zuverlässig und dauerhaft verwendet werden können, wie oben gezeigt wurde. Aus dieser neuen technischen Möglichkeit werden neue Erwartungen an die Lernenden erwachsen, die sowohl das Lerngeschehen selbst als auch die Erwartungen an das lebenslange Leben prägen werden.
Akteurinnen und Akteure des Bildungssystems, insbesondere die Lehrenden und Lernenden selbst, sollten sich mit diesen Implikationen vertraut machen. Eine kritische Frage sollte dabei lauten: Wie verhindern wir die Dystopie eines Lernens, in dem Mikro-Bewertungen allgegenwärtig sind? Zumal unter der Voraussetzung, dass der selbstgesteuerte lebenslange Erwerb von Fähigkeiten weiterhin vor allem als informelles Lernen stattfindet?
Eine Dystopie, die nun auch ohne eine totale Bildungsinstitution oder mächtige Datensammlerplattformen auskommt, sondern in dem sich „nur“ die anonymen Gesetze eines entfesselten Marktes für Bildungsprodukte und Qualifikationen geltend machen? Salvatore Iaconesi spricht im Zusammenhang mit den kulturellen Implikationen der Blockchain von der „transactionalisation of life“ (Iaconesi 2017).
Dass Lernende eine Vielfalt von Bewertungen zuverlässig und autonom nutzen können, kann man nicht nicht wollen – doch die Autonomie des Lernenden (sowohl im Lernen als auch in der Lebensgestaltung) selbst ist zweifelsohne noch wichtiger und könnte durch die digital perfektionierte Allgegenwart autonom verfügbarer Mikro-Bewertungen in Gefahr geraten.
Literatur
Grech, A. & Camilleri, A. F. (2017). Blockchain in Education (EUR – Scientific and Technical Research Reports). Publications Office of the European Union. Verfügbar unter: https://uhh.de/iq37e [27.03.2018].
Heller, L. (2017). Bequem, zuverlässig – und kontrolliert durch die Lernenden: von Zeugnissen und E-Portfolios zum Personal Learning Ledger. TIB-Blog – Weblog der Technischen Informationsbibliothek (TIB). Verfügbar unter: https://uhh.de/wzasn [27.03.2018].
Heller, L. (2017). Wie P2P und Blockchain helfen, das Arbeiten mit wissenschaftlichen Objekten zu verbessern – drei Thesen. TIB-Blog – Weblog der Technischen Informationsbibliothek (TIB). Verfügbar unter: https://uhh.de/ztp5d [27.03.2018].
Delahunty, T. (2018). IndiaChain: Government’s Blockchainbased Certification for Education Degrees. NewsBTC. Verfügbar unter: https://uhh.de/qei2c [27.03.2018].
Alisie, M. (2018). The Emergence. Akasha Blog. Verfügbar unter: https://uhh.de/l968p [27.03.2018].
Iaconesi, S. (2017). The Financialization of Life, Startups & Venture Capital. Verfügbar unter: https://uhh.de/vhnrp [27.03.2018].