Online-Proctoring als didaktische Einbahnstraße

Online-Proctoring als didaktische Einbahnstraße

21.07.20

Webcam, Eye-Tracking, Audio-Mitschnitte – Betrugsprävention oder Überwachungskultur?

Digitale Klausuren erscheinen als eine attraktive Möglichkeit Prüfungen trotz der Beschränkungen durch die Corona-Pandemie umzusetzen und so einer großen Zahl an Studierenden eine Prüfungsteilnahme zu ermöglichen. Die Debatte spitzt sich allerdings auf ein Themenfeld zu: wie können Betrugsversuche verhindert werden? Bei einigen Ideen zu Online-Proctoring-Verfahren läuft einem schonmal ein kalter Schauer über den Rücken. Dabei bietet der Diskurs um digitale Klausuren viele Chancen, gängige Prüfungsformate grundsätzlich zu überdenken und eine (Online-)Klausuraufsicht gänzlich überflüssig zu machen. Diese Konzepte gilt es konsequenter zu diskutieren, um digitalen Aktionismus dort zu verhindern, wo er in eine didaktische Einbahnstraße führt.

Führt das Konzept des Online-Proctorings in eine Einbahnstraße, die die Studierenden außen vor lässt?

Nachdem jahrzehntelang summative Prüfungssettings an deutschen Hochschulen analog oder in aufwendigen E-Assessment-Centers kultiviert wurden, sind nun Bring-your-own-device-Prüfungen ein Lösungsansatz für eine Prüfungszeit, in der gängige Verfahren durch Abstandsregelungen und Reisebeschränkungen nicht funktionieren. Da springen zu Recht nicht nur das Prüfungsamt und die Datenschutzbeauftragten im Dreieck. Themen wie Chancengleichheit stehen zur Debatte in einer Zeit, in der wieder andere Studierende froh sind, auf Grund von Einreisebeschränkungen überhaupt mit ihren eigenen Devices weiterhin Teil der deutschen Hochschulen sein zu können. Dabei geben viele Prüfungsordnungen solche Partizipationsformen theoretisch gar nicht her. Die deutsche Hochschullandschaft wurde in vielen Digitalisierungsfragen in kurzer Zeit von Neuland auf digitale Fernuni gebeamt. Welches Dilemma damit verbunden ist, zeigt sich auch in der Debatte um das sogenannte Online-Proctoring bei digitalen Klausuren, also die Prüfungsaufsicht auf Distanz.

Das Festhalten an Closed-Book Formaten

Viele deutsche Hochschulen beschäftigten sich in den letzten Wochen mit Verfahren der Fernüberwachung von Studierenden. Dieses Thema wartet mit einer ganzen Bandbreite kreativer und technisch ausgefeilter Lösungen auf: Vom 360°-Schwenk durch die privaten Räume, über Face- und Eye-Tracking, Audio-Aufzeichnung während der Prüfung, automatisches Mitschneiden aller Internet-Verbindungen bis zur Protokollierung aller Tastatur- und Maus-Aktionen. Doch wieso der ganze Aufwand? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Konzeption der Prüfungen selbst, vor allem, wenn sie im sogenannten “Closed-Book-Format“ durchgeführt werden. Studierende dürfen in Prüfungen nicht miteinander kommunizieren, keine Hilfsmittel verwenden und müssen die Klausur eigenständig bearbeiten. Dafür ist eine Prüfungsaufsicht notwendig, für die Online-Proctoring sich im Fernlernsetting allzu oft als Allheilmittel präsentiert.

Dazu kommt eine strukturelle Komponente: große Kohorten von Studierenden müssen geprüft werden. Das bindet Ressourcen und moviert in gewissen Fachbereichen dazu, Klausuren zu konzipieren, die möglichst automatisch und mit wenig Aufwand ausgewertet werden können. Übertragen auf die methodisch-didaktische Ausrichtung, siedeln sich diese “Closed-Book”-Klausuren häufig in unteren Taxonomiestufen (nach Bloom) an, wie schon im Blogbeitrag “Mut zur Vielfalt” von Jannica Budde, Julius-David Friedrich und Christine Tovar ausgeführt wurde. Sprich: diese Klausuren bewegen sich auf dem Niveau “Wissen” und “Verständnis” mit der Maßgabe auswendiggelerntes Wissen wiederzugeben oder auch auf einen bestimmten Sachverhalt anzuwenden. Auch hier steht die Effizienz im Vordergrund, was sich bereits an dem Betreuungsverhältnis in derartigen Veranstaltungen festgeschrieben hat. Das ist effizient, aber mit einem Dilemma behaftet. Es braucht immer eine Form der Aufsicht – analog, wie digital.

Die Stunde der Kontrollphantasien

Erfahrungen mit Prüfungen, die digital vor Ort in PC-Pools und unter einer Vielzahl von Sicherheitsvorkehrungen, wie einem Lockdown-Browser, verwalteten Universitätsrechnern und Aufsichtspersonen durchgeführt werden, gibt es bereits an vielen Hochschulen. Doch was passiert, wenn diese Räume nicht genutzt werden können oder sie schlichtweg vom Platz her nicht ausreichen? Selbst bei Diskussionen um eine Änderung der Prüfungsformen hin zu Open-Book-Formaten schwang die Notwendigkeit einer Form des Online-Proctoring mit. Als Begründungszusammenhang steht ganz vorn die Sorge, durch die Durchführung auf studentischen Geräten Betrugsmöglichkeiten zu begünstigen. Auch das Hochschulforum Digitalisierung setzte dies mit einer ganzen Reihe von Beiträgen, welche die technischen und rechtlichen Voraussetzungen dafür diskutierten, ganz oben auf der Prioritätenliste.

Mit dem Thema Online-Proctoring sind neue Player zur Diskussion über das digitale Semester hinzugestoßen, die in der aktuellen Situation der Hochschulen die Gelegenheit sehen, nicht nur neue Technologien zum Einsatz zu bringen, sondern auch mit neuen Geschäftsmodellen aufzuwarten. Das digitale Prüfungswesen im außereuropäischen Raum ist bereits seit längerem von Anbietern geprägt, die den Prüfungsprozess als Gesamtpaket von Dienstleistungen von der Prüfungserstellung bis zur Betrugsabsicherung abdecken. Die Mittel zur Betrugsprävention gehen dabei weit über die Identifikation der Studierenden zu Beginn einer Prüfung hinaus. Als Kernelement vieler Proctoring-Dienstleistungen wird die Analyse des Prüfungsverhaltens und der Webcam-Aufzeichnungen in unterschiedlichen Formen angeboten. Von der KI-gestützten Erkennung von “anormalem” Verhalten über die Live-Überwachung durch Dritte bis zur “professionellen Analyse” des Prüfungsverhalten (siehe z.B. proctorio.com/platform/exam-monitoring). Diese ganzen Verfahren verhindern vielleicht Betrugsversuche, zementieren dabei aber eine Kultur der Überwachung und der Datensammlung ausgehend von einem Misstrauen gegenüber Studierenden, welches am Ende vielleicht gar nicht gerechtfertigt ist.

Webcam, Eye-Tracking, Audio-Mitschnitte – Betrugsprävention oder Überwachungskultur?

Unsicherheiten durch technische Experimente

Was in einer stark technisch geführten Diskussion um zusätzliche Softwarelösungen für die Prüfungsabsicherung in den Hintergrund gerät, ist der Umstand, dass mit jeder zusätzlichen Software und jedem zusätzlichen Device auch die Fehleranfälligkeit zunimmt, gerade in zeitlich begrenzten und kritischen Situationen. Der technische Aufwand und die Bereitstellung von Zweitgeräten zur nahtlosen Überwachung (siehe z.B. dual-view proctoring von proctorexam.com) wird auf die Studierenden abgewälzt. Die meisten Hochschulen haben derzeit keine Möglichkeiten zur Bereitstellung von Ersatz- oder Leihgeräten um Ungleichbehandlungen entgegen zu wirken. Zusätzlicher mentaler Stress in der Prüfung ist damit vorprogrammiert.

Wie mit einer Anpassung der Prüfungsordnung darauf reagiert werden kann, ist noch unklar. Einige an die Situation angepasste, temporäre Prüfungsordnungen lösen das Dilemma derzeit mit einem Leerversuch, nachdem die Prüfung im nächsten Semester wiederholt werden kann. Im Umkehrschluss heißt das: Weder eine technische Unterstützung bei technischen Zwischenfällen noch eine organisatorische Lösung mit Ausweichterminen sind vorgesehen. An dieser Stelle hilft auch eine Proctoring-Software nur wenig. Vielmehr bleibt Misstrauen und Abschreckung, wobei die Vorteile von gut konzipierten Online-Klausuren, nämlich Partizipation und Verfügbarkeit, genauso wie kompetenzorientiertes Prüfen, in den Hintergrund geraten.

Mut zur Veränderung

Derweil gibt es schon längst andere Ansätze, die gleichzeitig zu dieser Debatte in einigen Fachbereichen schon seit langem angewandt werden. Im Sinne des Constructive Alignment sollten Lernziele, Lern-Lehr-Methoden und die abschließende Prüfung gemeinsam betrachtet werden. Das kostet Zeit und Ressourcen. Statt Ressourcen, finanziell wie personell, in die Einführung von Online-Proctoring zu stecken, sollte lieber die didaktische Weiterentwicklung von digitalen Prüfungen gefördert und gefordert werden. Das Ergebnis wären dann auch nicht nur Open-Book-Klausuren, die ohne Fernüberwachung eine valide Leistungskontrolle ermöglichen, sondern auch neue Anreize für das kompetenzorientierte Prüfen. Das bedeutet aber auch, dass man das mittlerweile sehr eingespielte Klagelied über das “durch Bologna erhöhte Prüfungsaufkommen” beendet und bei der nächsten Studiengangsreform daran denkt, dass auch Prüfungsformate und Prüfungsreglemente nicht in Stein gemeisselt sind. Anstatt mit Online-Proctoring die Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung auszureizen, ist jetzt ein guter Zeitpunkt, auch hinsichtlich Betreuungsverhältnissen und Prüfungsaufkommen ein Umdenken anzuregen. Veränderungen finden im Hochschulumfeld gerade mit einer ungewohnten Geschwindigkeit statt. Umso wichtiger ist die Frage, in welche Richtung wir sie treiben.

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