Notruf aus der Zukunft: Mit Virtueller Notaufnahme auf den Ernstfall vorbereitet
Notruf aus der Zukunft: Mit Virtueller Notaufnahme auf den Ernstfall vorbereitet
24.01.24Bei einem medizinischen Notfall kann es um Leben oder Tod gehen, daher muss schnell gehandelt werden. Bereits im Studium erlernen angehende Ärzt:innen die nötigen Kompetenzen, um in solchen Stresssituationen richtig zu handeln. Oft mangelt es aber an praktischer Erfahrung und Übungsmöglichkeiten. Virtual Reality kann Medizinstudierende dabei unterstützen, das Vorgehen in solchen Notfallsituationen erlernen. In einer kleinen Blogreihe zeigen wir daher Praxisbeispiele wie VR-Technik in Lehr- und Prüfungsformat integriert werden kann. Los geht es mit einem Praxisbericht zum Einsatz in Lehrveranstaltungen an der Universität Oldenburg.
In einem Behandlungszimmer der Notaufnahme liegt eine junge Patientin mit Fieber und starken Bauchschmerzen. Das Pflegepersonal berichtet, dass sie an einer chronischen Entzündung des Darms leidet. Weitere Informationen hat der behandelnde Arzt noch nicht.
Klingt nach Stationsalltag? In diesem Fall ist die junge Patientin allerdings virtuell und der Arzt ein Medizinstudent kurz vor Beginn des Blockpraktikums Chirurgie. Unterstützt wird er durch zehn Kommiliton:innen, die selbst keine Virtual-Reality-Brille tragen, seine Sicht des Behandlungszimmers jedoch auf einem großen Bildschirm verfolgen können.
Der Fall der jungen Patientin mit der beginnenden Sepsis ist einer von zurzeit neun Fällen des Simulationsprogramms STEP.VR, das von der Firma ThreeDee programmiert wurde und eine Notaufnahme virtuell nachbildet. Der Fokus liegt auf Fällen der Allgemeinchirurgie und Inneren Medizin. Im Rahmen des von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre geförderten Projektes participate@UOL konnten wir für dieses neue Lehrformat VR-Brillen, Rechner und die Lizenz für STEP.VR beschaffen. Außerdem gab uns die Projektarbeit Freiraum für die Etablierung und Planung der virtuellen Notaufnahme. Aber warum wollten wir in der Chirurgie überhaupt ein Seminar mit virtuellen Patient:innen umsetzen?
Das Konzept
Das chirurgische Curriculum der Universitätsklinik für Allgemein – und Viszeralchirurgie des Klinikum Oldenburgs wird zunehmend digitalisiert. Ziel ist es, ein hybrides Lehrkonzept zu entwickeln, das Präsenzveranstaltungen durch digitale Medien anreichert. Durch Selbstlerneinheiten und den Einsatz digitaler Anwendungen in den Veranstaltungen möchten wir eigenverantwortliches Lernen fördern und den Anteil praktischer Lerneinheiten erhöhen.
Inverted Classrooms, also Online-Selbstlernphasen vor der eigentlichen Veranstaltung, und das abschließende Virtual-Reality-Seminar sind ein Teil des Gesamtkonzeptes. Im Verlauf des Curriculums nehmen die Eigenverantwortung der Studierenden und der Praxisbezug stetig zu (Abb. 1, hybrides Lehrkonzept anhand der kognitiven Meisterlehre).
Das Virtual-Reality-Seminar ist die letzte Lehreinheit bevor die Studierenden ihr Blockpraktikum in der Klinik beginnen. Wir haben es im Studienjahr 4 als letzten Termin einer Pflichtveranstaltung direkt im regulären Curriculum umgesetzt. Die Virtuelle Notaufnahme soll den Teilnehmenden helfen, vor dem ersten Kliniktag ihre erlernten Kompetenzen aus Vorlesungen und Seminaren eigenständig anzuwenden und zu trainieren. Damit möchten wir die Lücke zwischen dem theoretischen Studienalltag und dem praktischen Klinikalltag schließen.
Unser Ziel ist es, eine kompetenzorientierte Ausbildung durch den Einsatz von Virtual Reality zu ermöglichen, noch bevor die Studierenden ins Gesundheitssystem eintreten. Die Virtuelle Notaufnahme ermöglicht das Erproben des Umgangs mit Patient:innen, simuliert den Zeitdruck in der Klinik und fördert das klinisch-analytische Denken, und das mit deutlich weniger zeitlichem Aufwand als bei der Einbindung von Simulationspersonen. Gleichzeitig ist das Seminar eine gute Vorbereitung für die Objective Structured Clinical Evaluation (OSCE), eine Prüfungsform im Medizinstudium, in der nicht nur theoretisches Wissen abgefragt, sondern auch ganz praktische Fähigkeiten wie z.B. das Bewältigen ärztlicher Routinen oder der angemessene Umgang mit Patient:innen geprüft wird.
Ein weiterer Schwerpunkt unseres Lehrkonzeptes ist die Stärkung der Partizipation von Studierenden und Lehrenden an digitalen Lehrformaten. Die gemeinsame Erprobung und Durchführung neuer Formate macht es möglich, dass Bedarfe von Lehrenden und Studierenden von Anfang an gehört werden und der Ablauf entsprechend angepasst werden kann. Gleichzeitig möchten wir so die Akzeptanz für Neuerungen erhöhen und nachhaltige Konzepte entwickeln. Wir haben das VR-Seminar daher von Anfang an gemeinsam mit den Studierenden umgesetzt und evaluiert, sowie die erste Durchführung durch eine studentische Forschungsarbeit begleiten lassen. Die Ergebnisse dieser Arbeit möchten wir veröffentlichen und für eine Weiterentwicklung der Veranstaltung nutzen.
Technik und Ablauf des Seminars
Wir nutzen die VR-Brillen (Meta Quest 2) kabellos über die sogenannte Airlink-Verbindung, um maximale Bewegungsfreiheit zu gewährleisten. Die VR-Brillen laufen in einem eigenen WLAN-Netzwerk, das von einem starken Router im jeweiligen Raum aufgebaut wird.
Vor Beginn des Seminars wurden die Teilnehmenden gebeten, sich zwei Videos zur Bedienung der VR-Brillen und der Software anzuschauen, um die Zeit im eigentlichen Seminar möglichst effektiv zu nutzen. Im ersten Durchlauf im Wintersemester 23/24 haben 84 Studierende an der Virtuellen Notaufnahme teilgenommen. Sie waren in acht Gruppen mit jeweils zehn Studierenden aufgeteilt. Drei Studierende aus jeder Gruppe übernahmen jeweils die Rolle des behandelnden Arztes oder der behandelnden Ärztin in der virtuellen Realität. Sie bearbeiteten drei unterschiedliche Notfälle. Der Rest der Gruppe konnte auf einem großen Bildschirm die Ansicht in der Brille verfolgen, aktiv Tipps geben und diskutieren. So waren alle aktiv in die Behandlung der virtuellen Patient:innen eingebunden. Außerdem konnte die Person, die die VR-Brille trug, sich mit anderen austauschen, was auch im Klinikalltag mit Pflegepersonal oder Ärzt:innen möglich ist. Die Gruppen waren auf zwei Räume aufgeteilt. In jedem Raum war eine Lehrperson anwesend, eine weitere Person fungierte als „Springer“ zwischen beiden Räumen und unterstützte bei technischen Problemen.
Insgesamt funktionierte die Umsetzung der Virtuellen Notaufnahme technisch sehr gut. Nach einer kurzen Einweisung waren alle Lernenden in der Lage, STEP.VR zu bedienen und sich in der Notaufnahme zurechtzufinden.
Nach jedem abgeschlossenen Fall fand eine offene Feedbackrunde statt. Erst schilderten „Arzt“ oder „Ärztin“ ihr eigenes Empfinden der Situation und des Falles, anschließend wurde in der Gruppe diskutiert und besprochen. Die Software STEP.VR bietet zudem eine interne Feedbackfunktion anhand klinischer Leitlinien. Wir haben uns bei diesem Seminar allerdings entschieden, die Studierenden diese Auswertung nicht sehen zu lassen und sie nur als internen Datenpunkt zu verwenden. So wollten wir vermeiden, dass die relativ strikte Auswertung des Programmes zu Frustrationen bei den Lernenden führt. Uns war wichtig, dass die Studierenden während des Seminars ihr theoretisches Wissen einsetzen, um unter Zeitdruck Patient:innen angemessen zu behandeln und mögliche Diagnosen abzuleiten. Während dieser ersten Nutzung der Virtuellen Notaufnahme und der ungewohnten Situation spielte die abschließende Punktzahl im System daher nur eine untergeordnete Rolle.
Evaluation und Ergebnisse
Um die Effektivität des Virtual-Reality-Seminars zu bewerten, haben wir eine umfassende quantitative Evaluation durchgeführt. Diese wurde durch eine studentische Forschungsarbeit ausgewertet. Dabei haben wir uns an dem Fragebogen aus der Publikation von Tobias Mühling und seinen Kolleg:innen orientiert. Über eine Likert-Skala wurden Kompetenzen wie Vorwissen und praktische Fertigkeiten gemessen. Die Haltung der Studierenden zur virtuellen Realität wurde ebenfalls erfasst. Ein Teil der Fragen wurde vor und ein Teil nach der Veranstaltung beantwortet, sodass die Teilnehmenden ihren Wissenstand vorher und nachher einschätzen konnten. “Aktive Nutzer:innen“ und „observierende Nutzer:innen“ wurden verglichen, um eventuelle signifikante Unterschiede zu identifizieren.
In diesem ersten Durchlauf ging es uns vor allem um die Praktikabilität im Lehralltag und mögliche Probleme bei der Durchführung wie das Auftreten von Übelkeit oder Kopfschmerzen. Zusammenfassend schätzten die Studierenden ihre Fähigkeit, Diagnosen aus Symptomen abzuleiten und adäquate Therapien einzuleiten nach dem Training signifikant besser ein als vorher. Auch das Gefühl, auf die Behandlung von Notfällen gut vorbereitet zu sein, war nach dem Seminar bei mehr Studierenden gegeben. Kurzzeitige Übelkeit, Orientierungslosigkeit und leichter Schwindel traten bei einigen wenigen Teilnehmenden auf.
Was kann VR (und was nicht)?
Im virtuellen Fallseminar tauchen die Studierenden (im besten Fall) komplett in eine simulierte Notaufnahme ein. Die Lernsituation wird in einen interaktiven Raum verlegt, der die Realität nachbilden soll und praxisnahe, ausgewählte Situationen simuliert, um Reaktionen und Abläufe zu üben. Die Studierenden greifen praktisch in das Geschehen ein, werden aktiv in die Ausbildung eingebunden und können Wissensinhalte und Kompetenzen im situativen und sozialen Kontext erleben. Das verfügbare Praxiswissen kann direkt umgesetzt werden. Zudem müssen die Studierenden Aufgaben priorisieren, was im oft hektischen klinischen Alltag besonders wichtig ist. Die Virtuelle Notaufnahme bietet einen sicheren Raum, in dem auch Fehler gemacht werden dürfen. Fälle können mehrfach wiederholt und so erlernte Fähigkeiten gefestigt werden. Notfälle richtig einschätzen, eine erste Diagnose stellen und die richtige Behandlung finden, diese Fähigkeiten lassen sich in der Virtuellen Notaufnahme trainieren. Besonders die klinische Entscheidungsfindung kann geübt und standardisierte Abläufe können gefestigt werden. Die Haptik ist dagegen noch sehr eingeschränkt. Auskultieren, Zugänge legen und andere praktische Fertigkeiten des Klinikalltags müssen also weiterhin an Simulationspuppen oder Patient:innen erlernt werden. Gefühlsausdrücke und Emotionen lassen sich durch virtuelle Avatare ebenfalls nur eingeschränkt darstellen. Daher können Gesprächssituationen und Lerneinheiten zur Arzt-Patient: innen-Beziehung nicht virtuell umgesetzt werden. Kommunikation mit Kolleg:innen im Klinikalltag wird in VR erst wirklich erlebbar sein, wenn der Mehrspielermodus umgesetzt wurde und sich mehrere Personen im selben virtuellen Behandlungszimmer treffen können.
VR ist daher nicht als Ersatz für etablierte Lehrformate sondern als Erweiterung des klassischen Lehrplans zu verstehen und wurde deswegen als „letzte und abschließende“ Lehreinheit gewählt.
Unser Fazit
Insgesamt sind wir überzeugt, dass der Einsatz von Virtual Reality in der medizinischen Ausbildung eine spannende und effektive Möglichkeit bietet, angehende Mediziner:innen bestmöglich auf ihre berufliche Praxis vorzubereiten. Das virtuelle Seminar kam bei den Studierenden sehr gut an und wurde von 86% der Teilnehmenden als gutes Werkzeug zum Erwerb von Handlungskompetenzen angesehen (Wert 4 oder 5 auf der Likert-Skala).
Dieser positive Eindruck bestätigte und vertiefte sich in den individuellen Rückmeldungen der Studierenden:
„Auch als nicht-VR-nutzender Student war es für mich sehr hilfreich, die Abläufe in der Notaufnahme kennenzulernen.“
„Wirklich sinnvolles Lerninstrument.“
„Ein schöner Übergang von Theorie und Praxis.“
„Gerne mehr von diesen Seminaren, sodass alle Studierenden die Möglichkeit dazu haben.“
Langfristig planen wir zusätzlich den Einsatz der virtuellen Notfälle als Tutor:innen-gestütztes Peer-to-Peer-Format in unserem klinischen Trainingszentrum. So können die Studierenden nach Bedarf zu bestimmten Terminen selbstgesteuert Fälle bearbeiten.
Insgesamt war unser erster Praxisversuch der Integration virtueller Realität ins Curriculum vielversprechend. Der Ansatz, die Veranstaltung als letzten regulären Seminartermin vor Beginn des Blockpraktikums Chirurgie einzuführen, erscheint uns als sehr passend. So haben die Studierenden die Chance, vor Beginn ihrer Arbeit in der Klinik noch einmal die gelernte Theorie praktisch anzuwenden. Wir sind gespannt, wie sich dieses innovative Lehrkonzept weiterentwickeln wird.
Und die Patientin mit der beginnenden Sepsis? Alle Gruppen erkannten im Seminar das Vorliegen einer schwerwiegenden Infektion und verlegten die Patientin nach Erstversorgung und Gabe von Antibiotika auf die Intensivstation.
Literatur:
Mühling, T., Späth, I., Backhaus, J. et al. Virtual reality in medical emergencies training: benefits, perceived stress, and learning success. Multimedia Systems 29, 2239–2252 (2023). https://doi.org/10.1007/s00530-023-01102-0