Gibt es das auch mit neuem Wein? Digitalisierung der Inhaltsvermittlung in der Hochschullehre
Gibt es das auch mit neuem Wein? Digitalisierung der Inhaltsvermittlung in der Hochschullehre
07.03.22Jüngere Entwicklungen in der Hochschuldidaktik zeigen einen Trend zur Inhaltsvermittlung mit Hilfe von Lehrvideos. Doch auch in dieser modernen Methode der Hochschuldidaktik wird häufig auf den traditionellen, einseitigen Lehrendenvortrag zurückgegriffen – alter Wein in neuen Schläuchen. Geht das nicht auch anders? Es ist an der Zeit, moderne Technologien mit moderner Methodik zusammenzuführen, sagt Rolf Kreyer. Hier im Blog fasst er noch einmal die wichtigsten Punkte seines Vortrages zusammen, den er auf dem University:Future Festival 2021 hielt, und stellt innovative Beispiele aus seiner eigenen Lehrpraxis vor.
Gibt es das auch mit neuem Wein? Digitalisierung der Inhaltsvermittlung in der Hochschullehre
Die Digitalisierung der Hochschullehre hat in den letzten Jahren rasant an Fahrt aufgenommen. Längst dienen Lernplattformen nicht mehr nur als Ablage für Texte und Aufgabenblätter. Die Lehre wird durch Live-Votings, Chatrooms, Etherpads u. Ä. angereichert, Skalierungsprobleme können digital mit wenig Aufwand gelöst werden. Während die Digitalisierung in solchen Fällen der Unterstützung der Inhaltserarbeitung in Präsenz dient, zeigen jüngere Entwicklungen aber auch einen Trend zur Inhaltsvermittlung über digitale Kanäle (üblicherweise Youtube). Es finden sich hier viele Beispiele von äußerst professionell gestalteten Lehrvideos, auf die Studierende gerne und oft zurückgreifen. Aus (hochschul)didaktischer Sicht kann eine solche Art der Inhaltserschließung freilich kritisch betrachtet werden. Neuere Methoden der Hochschuldidaktik, wie verschiedene interaktive Formate, entdeckendes und problemlösendes Lernen u. Ä., weichen dem traditionellen höchst einseitigen Lehrendenvortrag. Geht das nicht auch anders?
Herzlich willkommen im Museum
Die asynchron-digitale Erarbeitung von Lerninhalten kann man sehr gut mit einem Museumsbesuch vergleichen. In einem gut gemachten Museum wird nicht in erster Linie Fakten vermittelt, sondern Inhalte werden erfahr- und erlebbar. Besucher:innen erleben ein hohes Maß an Autonomie, jede:r kann sich einen eigenen Weg durch die Exponate suchen, bekommt aber hierzu Vorschläge. Gute digitale Inhaltspräsentation folgt ähnlichen Prinzipien: aktives Mitmachen statt passives Konsumieren, Autonomie und individuelle Pfade statt Linerarität, eigene Arbeit mit Daten und Hypothesenbildung statt Ergebnispräsentation, Hilfestellung und Erinnerung statt Vortrag, und schließlich: memorable moments – also Inhalte so erfahr- und erlebbar machen, dass sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
„Das kann ich selber ja gar nicht. Dafür brauche ich Programmierer:innen. Die kosten Geld und am Ende kommt eh nichts Vernünftiges dabei ‘raus“ – Solche und ähnliche Bedenken waren vor zehn Jahren sicherlich noch angebracht. Mittlerweile ist allerdings die digitale Umsetzung methodisch-didaktisch anspruchsvoller Selbstlernmodule auch für Lehrende ohne Programmier- und Informatikkenntnisse in greifbare Nähe gerückt. Moderne Autorentools machen das möglich. Einige Beispiele aus meiner eigenen Lehre (*) sollen das verdeutlichen. Wichtig ist, dass alle gezeigten Beispiele (mit Ausnahme des Lernspiels) Teil der digital-asynchronen Vorlesung selbst sind und nicht Teil einer nachgeordneten Übungsphase. Das heißt, die Studierenden sind während der Vorlesung niemals nur passive Konsument:innen sondern müssen immer wieder aktiv werden.
Gehe deinen eigenen Weg
Die Geschichte und Entwicklung der englischen Sprache ist maßgeblich von äußeren Ereignissen bestimmt. Eine Vorlesung – egal ob im Hörsaal oder auf Youtube – würde diese chronologisch darbieten. Hier ist ganz leicht mehr Aktivierung und Autonomie möglich, wie unten zu sehen ist. Anstelle eines üblichen Zeitstrahls mit verorteten Ereignissen werden die Studierenden zunächst aufgefordert, zentrale Ereignisse an die richtige Stelle im Zeitstrahl zu ziehen. Die Studierenden sind nicht passive Konsument:innen sondern werden aktiv in die Inhaltserarbeitung einbezogen.
Jedes korrekt positionierte Ereignis verwandelt sich in ein kleines Bild mit Jahreszahl und Beschreibung. Einzelne dieser Bilder sind anklickbar und leiten die Studierenden zu vertiefender Information und Übungsaufgaben weiter. Sind diese gelöst, geht es wieder zurück zum Zeitstrahl, bei dem sich die User das nächste Thema aussuchen können: jede:r wählt einen eigenen Pfad durch das Museum.
Selbst Herausfinden statt einfach nur Nachvollziehen
Onlinelehre ist zu häufig Nachvollziehen präsentierter Inhalte. Dabei gehört das Arbeiten mit Daten und das Bilden von Hypothesen zu den wichtigsten Tätigkeiten aller empirischen Wissenschaften. Moderne Autorentools ermöglichen uns, Inhaltsvermittlung durch das Arbeiten mit Daten umzusetzen. Das unten gezeigte Beispiel hat den sogenannten Great Vowel Shift, eine zentrale Lautverschiebung des Englischen zum Thema. Sie grenzt das Mittelenglische vom Frühneuenglischen ab. Sechs der sieben Verschiebungen können wunderbar am Prolog der Canterbury Tales verdeutlicht werden (die Übung ist inspiriert von Martin Hilperts Online-Vorlesung zu dem Thema). Anstelle einer Präsentation der stattgefundenen Verschiebungen erhalten die Studierenden die Möglichkeit, diese selbst zu entdecken. Die linke Seite des Screenshots zeigt den Prolog der Canterbury Tales in mittelenglischer Schreibweise, die rechte zeigt eine moderne Übersetzung. Aufgabe der Studierenden ist es, die Laute auf der linken Seite dem richtigen Wort zuzuordnen. Das Vokalsymbol [u:], zum Beispiel, eine langes ‚u‘ wie in Muße, muss über das mittelenglische Wort shoures gezogen worden. Ist dies geschehen, ist es nun Aufgabe der Studierenden, das entsprechende Vokalsymbol des modernen Englisch an die richtige Stelle zu ziehen: [aʊ] > showers. Die zwischen den beiden Texten entstehende Auflistung der Lautverschiebungen wird auf diese Weise von den Studierenden selbst erarbeitet. Erst danach wird den Studierenden eine systematische Beschreibung der Lautverschiebung geliefert.
You are not alone – Erinnerungen und Hilfestellungen
Moderne digitale Lernangebote ermöglichen es Usern, Inhalte selbstbestimmt ein- und auszublenden. Die Studierenden können sich damit in dem Umfang Hilfestellungen holen, den sie für sich als notwendig erachten. Im Beispiel unten sollen die Studierenden die verbleibenden drei Felder ausfüllen. Wer die Vorlesung bis zu dieser Stelle entsprechend verinnerlicht hat, kann dies ohne weitere Hilfestellung tun. Ein mouseover über den linken der beiden blauen Schalter lässt als Erinnerung die Konsonantentafel des Englischen erscheinen. Wem dies nicht genügt, kann über den rechten Schalter am Beispiel des schon ausgefüllten Feldes nachvollziehen, wie die Aufgabe zu lösen ist. Wichtig hierbei: Die Hilfestellungen reißen die Studierenden nicht weg von der Vorlesungen sondern stellen sich den User:innen sozusagen ‚minimal invasiv‘ zur Verfügung.
Weißt Du noch? – memorable moments erschaffen
Sehr wahrscheinlich erinnern wir uns alle an Schlüsselmomente unseres Studiums: besonders interessante Beispiel, intensive Erfahrungen, plötzliche Einsichten etc. Interaktive digitale Lernelemente eignen sich in besonderer Weise, solche memorable moments zu erschaffen. Beispielhaft für das enorme Potential moderner Autorensysteme sei hier das digitale Escape-Room-Game The Linguist’s Lair genannt. Die Spieler:innen finden sich auf dem Flur meiner Arbeitsgruppe eingesperrt, da sie versucht haben, in meinem Büro Hinweise auf die anstehende Klausur zu entwenden. Sie müssen sich nun durch mehrere Räume, die jeweils verschiedenen Grundlagenthemen gewidmet sind, rätseln, um in die Freiheit zu gelangen. Ein Text in phonetischer Umschrift enthält Hinweise auf eine Computerpasswort. Die syntaktische Satzanalyse hilft beim Finden einer wichtigen Telefonnummer. Die Kenntnis von Zeichenmodelle hilft beim Öffnen von Türen, usw. Linguistische Kompetenzen werden hiermit also angewendet, um (im Kontext des Spiels) echte Probleme zu lösen. Die mit dem Weiterkommen einhergehende Befriedigung und Selbstwirksamkeitserfahrung könnten durch das Abarbeiten von Übungszetteln sicher nicht erreicht werden.
Neuer Wein in neuen Schläuchen
Die digitale Umsetzung didaktisch anspruchsvollerer Szenarien waren früher nur unter Einbindung professioneller Programmierer:innen möglich. Mittlerweile stehen aber moderne Autorentools zur Verfügung, die mit Fug und Recht als echte Game Changer bezeichnet werden können: Auch Lehrende ohne Programmier- und Informatikkenntnisse haben nun die Möglichkeit, moderne Methodik und Didaktik in ihren digitalen Lernmodule zu realisieren. Die technologisch neuen Schläuche können damit endlich von jeder und jedem auch mit didaktisch neuem Wein gefüllt werden.
Weitere Links
Kreyer: Beispiele interaktiver Online-Lehre
Hier können Sie die Vortrag (mit anschließender Fragerunde) von Rolf Kreyer während des U:FF 2021 Vortrags sehen:
In dieser Reihe zum University:Future Festival 2021 veröffentlichen wir eine Auswahl der Festivalbeiträge als Artikel, die Sie auch gesammelt in einem Dossier finden. Die Autor:innen haben hierfür Ihre Vorträge noch einmal schriftlich festgehalten. Weitere Vorträge und Talks finden Sie auch auf YouTube.
Mit über 250 Veranstaltungen, 500 Speaker:innen und 3.850 Teilnehmer:innen fand das University:Future Festival 2021 vom 02.–04.11.2021 unter dem Titel „Open for Discussion“ statt. Hier finden Sie weitere Infos zum Festival.