Eine neue Prüfungskultur mit Blended Assessment. Ein Gespräch mit Anne Jantos
Eine neue Prüfungskultur mit Blended Assessment. Ein Gespräch mit Anne Jantos
09.03.23In der aktuellen Debatte um ChatGPT und Co. wird wieder viel über (vermeintliche) Täuschungsmöglichkeiten in Prüfungen diskutiert. Warum manche Studierende in summativen Prüfungen schummeln, wird jedoch selten hinterfragt. Anne Jantos von der TU Dresden ist sich sicher: Der Umstand, dass Noten und Abschlüsse an deutschen Hochschulen noch immer primär durch summatives Prüfen vergeben werden, ist didaktisch veraltet und hinterlässt bei den Studierenden oft Frustration und Unzufriedenheit. Die Hochschulwelt brauche eine neue Prüfungskultur, die formatives und summatives, synchrones und asynchrones Prüfen miteinander verknüpft und dadurch fairere Bedingungen für Studierenden schafft. Anne Jantos ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und E-Learning-Koordinatorin an der TU Dresden. Dort forscht und berät sie zu allen Belangen des E-Learnings, und insbesondere zu E-Assessment. In ihrer Promotion setzt sie sich mit Betrug in Online-Prüfungen, E-Assessment in der Hochschullehre allgemein und mit Problem-Based Learning in virtuellen Kollaborationen auseinander. Im Interview skizziert sie ihren Ansatz eines Blended Assessments.
Jannica Budde: Anne, warum forscht du zum Thema Prüfen bzw. Assessment? Was war der Auslöser?
Anne Jantos: In der Pandemie hat sich mir das Thema aufgedrängt. Vorher war mir auch schon klar, dass das Prüfen nicht optimal abläuft, aber durch die Pandemie als Katalysator wurde es schmerzlich deutlich, dass es viel verschenktes Potential gibt und wir nicht von Lerner:innenzentrierung sprechen können. Ich habe den Eindruck, dass wir am Ziel vorbei prüfen. Der Fokus kann und sollte nicht mehr auf dem Abfragen von Fakten und Sachverhalten liegen, sondern darauf, dass prozedurales Wissen, Anwendung und Reflexion in den Vordergrund gestellt werden. Das übergeordnete Ziel sollte dabei sein, komplexe Fach- und Sozialkompetenzen auszubilden, damit wir die Studierenden als fähige und mündige Individuen in den Arbeitsalltag entlassen – nicht als wandelnde Lexika.
Jannica Budde: In deiner Forschung hast du den Begriff Blended Assessment entwickelt. Was kann man sich darunter vorstellen?
Anne Jantos: Mit Blended Assessment beschreibe ich einen wohlkombinierten Mix an Assessmentformen, die das Lernen begleiten und nicht nur abschließen. Es ist zugleich eine didaktisch fundierte Strategie zur Kombination verschiedener Methoden für Feedback und Messung des Lernerfolgs mit aktiver Beteiligung aller Akteur:innen.
Jannica Budde: Wie können Lehrende Blended Assessment in der Lehre einsetzen? Wie finden Sie den richtigen Mix aus Prüfungsformen?
Anne Jantos: Als Orientierungshilfe bei der Auswahl und Kombination von verschiedenen Assessmentformen haben wir den Blended Assessment Cube entwickelt (Jantos/Langesee 2023). Er soll aufzeigen, welche Kombinationen möglich bzw. zielführend sind, und zugleich Inspiration und Information zu expliziten Methoden liefern. Wichtig bei der Auswahl sind natürlich weiterhin die Ziele und die Rahmenbedingungen der jeweiligen Lehrveranstaltung. Ausgehend vom Blended Learning Cube von Schoop et al. (2006) haben wir drei Dimensionen definiert: 1) die Art des Assessments (formativ oder summativ), 2) die persönliche Dimension (wird einzeln oder in Gruppen geprüft) sowie 3) die physikalische Dimension (wird vor Ort oder online/remote geprüft). Bei der Kombination ist schließlich darauf zu achten, dass Mischungen ausgewählt werden, die nicht zur Überlastung der Studierenden (und der Lehrenden) führen, und dass Kombinationen ausgewählt werden, die als fair wahrgenommen werden.
Jannica Budde: Was genau meinst du damit? Gibt es Prüfungen (oder Kombinationen), die von Studierenden als besonders fair angesehen werden?
Anne Jantos: Wir haben festgestellt, dass ein Großteil der Studierenden rein summative Prüfungen als unfair bewerten. Sie haben dann auch weniger Skrupel zu schummeln, wenn sich, wie etwa bei den Online-Prüfungen, Gelegenheiten ergeben (Jantos 2021). Am fairsten werden diejenigen Assessmentkombinationen eingeschätzt, die ein möglichst breites Angebot an synchron vs. asynchron, summativ vs. formativ und individuell vs. in der Gruppe anbieten. Aus Studierendensicht werden die folgenden drei Kombinationen als besonders fair wahrgenommen:
- Gruppenarbeit, Gruppenpräsentation + Lerntagebuch
- Gruppenarbeit, Peer-Review + mündliche Prüfung
- Gruppenarbeit, Feedbackgespräch + schriftliche Prüfung (vor Ort)
Jannica Budde: Was braucht es deiner Ansicht nach für eine andere Prüfungskultur?
Anne Jantos: Es braucht vor allem verbesserte und deutlich transparente Vorgaben der Universitätsleitungen, aber auch Prüfende, die mit gutem Beispiel vorangehen. Und auch die Studierenden sollten ihre Wünsche zu fairen Prüfungen explizit einfordern. Außerdem braucht es mehr Verständnis auf allen Ebenen dafür, dass Assessment nicht nur zum Finden der Note hilfreich ist, sondern den Lernprozess sinnvoll anreichern kann. Zusätzlich müsste auch in der Gesamtgesellschaft an der Fehlerkultur und dem Performancedruck auf Studierende gearbeitet werden.
Neugierig geworden? Anne Jantos ist auf der Suche nach Lehrenden, die ihren Ansatz in Lehrveranstaltungen testen wollen. Kontakt: anne.jantos@tu-dresden.de oder via LinkedIn
Quellen:
Schoop, E.; Bukvova, H.; Gilge, S. (2006): Blended Learning – the didactical framework for integrative qualification processes. Conference on Integrative Qualification in eGovernment. pp. 142-156
Jantos, A. (2021). Motives for Cheating in Summative E-Assessment in Higher Education – A Quantitative Analysis. In: 13th International Conference on Education and New Learning Technologies.
Jantos, A.: Langesee, L.(2023): Blended Assessment in Higher Education Collaborative Case Study Work – A Qualitative Study. Conference: The 26th International Conference on Interactive Collaborative Learning (ICL 2023)