Digitale Lehre meets VR/AR: AVRiL 2021
Digitale Lehre meets VR/AR: AVRiL 2021
13.09.21Die diesjährigen Preisträger*innen des Wettbewerb „AVRiL 2021 – Gelungene VR/AR-Lernszenarien“ stehen fest. Wir haben mit dem Silberpreisträger Prof. Sven Schneider über das Projekt VREVAL gesprochen und gefragt wie dieses Tool das Architekturstudium verändert.
Auf den Overheadprojektor folgte der Beamer und Powerpointpräsentationen wurden immer bunter. Dass digitale Lehre jedoch mehr ist als schicke Slide-Shows, zeigen jährlich Gruppen von Forschenden, die sich mit dem Aspekt von gelungener Digitalisierung in der Lehre auseinandersetzen. Eine Jury bewertet die Einreichungen nach festen Kategorien. Die am höchsten bewerteten Projekte werden mit dem AVRiL-Preis prämiert. Ausgerufen wurde der Wettbewerb vom Arbeitskreis VR/AR-Learning der GI-Fachgruppen Bildungstechnologien und VR/AR in Zusammenarbeit mit dem Stifterverband. Nun stehen die Gewinner*innen fest – die Preisverleihung fand am 13. September statt. Wir haben uns die Beiträge mit Hochschulbezug genauer angeschaut und mit dem Silberpreisträger gesprochen.
Beiträge mit Hochschulbezug
Insgesamt wurden für den diesjährigen Wettbewerb acht Beiträge eingereicht. Die Hälfte dieser Projekte hat einen direkten Impact auf die Gestaltung von Hochschullehre und gibt Impulse dafür, wie Studierende und Dozierende die örtliche Distanz digital überbrücken können. Sinnvolle Tools über die Pandemie hinaus:
Serious Games: Rassismus abbauen und dabei inter- und transkulturelle Komptenezen stärken?
Ein interdisziplinäres Team der Universität Würzburg möchte in einer immersiven digitalen Lernumgebung Lernende zu Interaktion und Zusammenarbeit auffordern. Dabei sollen realitätsnähere Erfahrungen, die sich vom klassischen Klassenzimmer wegbewegen, erzeugt werden, welche den Ansatz haben Rassismus abzubauen. Digitale Avatare treffen sich in einem virtuellem Raum und werden in einer spielerischem Umgebung zu einer Zusammenarbeit ermuntert. Das Tool kann schon im Lehramtsstudium zum Einsatz kommen und später im Klassenzimmer angewandt werden. Auf der Projektseite der Universität Würzburg finden sich weitere Informationen und Kontaktpersonen.
xR Skills Lab: Pflege digital lehren
Ein Team aus Forschenden der Hochschule Furtwangentärkung hat sich zum Ziel gesetzt Lehrpersonal in der Pflege zu entlasten und Lernenden dank Mixed Reality mehr Praxiserfahrung zu ermöglichen. Lernende haben die Möglichkeit die Abläufe des Absaugens der Luftröhre von Patient*innen in VR durchzugehen. Machen die Lernenden einen Fehler, so gibt das System sofort Feedback, z.B. in Form von grünen Partikeln, die eine Kontamination mit Bakterien widergeben sollen. Dank dieser Technik können Handgriffe beliebig oft geübt werden und einzelne Schritte im Ablauf der Luftröhrenabsaugung durch praktische Tätigkeit stärker eingeprägt werden.
Robotik im WG-Zimmer: Mit AR das Distance Learning überbrücken.
Studierende der Robotik können dank eines Distance Learning Tools Lerninhalte direkt auf dem heimischem Endgerät abrufen und mit der Technik der Augmented Reality Roboter virtuell in den eigenen vier Wänden bedienen. Die Besonderheit des Tools liegt darin, dass es ein Interface für Doziernde gibt („Teacher Experience“) sowie eins für Studierende („Student Experience“). Studierende können dann direkt die vom Lehrpersonal vollzogenen Veränderungen sehen und darauf reagieren. Diese reaktive Lernmethode soll das Lernen auf Distanz nahbarer machen. Projektverantwortlicher ist Horst Orsolits der FH Technikum Wien.
Architektur digital begehen und feedbacken
Vertr.- Prof. Sven Schneider und sein Team von der Bauhaus-Universität Weimar haben sich zum Ziel gesetzt das „schwammige“ Mensch-Gebäude-Verhältnis, welches im Zentrum einer jeden Gebäudeplanung steht, zu konkretisieren und haben dabei zukünftige Gebäude Nutzer*innen ins Zentrum gerückt. Denn am Ende muss das Gebäude den Menschen, die sie nutzen, gefallen und nicht dem Planungsteam. Zukünftige Nutzer*innen werden dank VR nicht nur zu einer virtuellen Begehung des Gebäudes gebeten, sondern können im selben Schritt auch direktes Feedback geben. Das Tool wurde VREVAL getauft. VR für Virtual Reality (Virtuelle Realität), EVAL für Evaluation (Erhebung). Wir haben mit Prof. Schneider gesprochen.
Herr Schneider wie würden Sie VREVAL einer fachfremden Person beschreiben?
In der Architekturausbildung ist das Verhältnis von Mensch und Raum ein ganz zentrales Thema. Der Architekt muss in der Lage sein, sich in die zukünftigen Gebäudenutzer hineinzuversetzen und wissen, mit welchen architektonischen Mitteln er den Nutzeranforderungen gerecht werden kann. Oft ist es aber so, dass die Bewertung solcher nutzerzentrierter Aspekte eher intuitiv vorgenommen wird. Stimmt die Intuition dann nicht mit dem realen Nutzerverhalten überein, führt das im schlechtesten Fall zu nicht-funktionierenden und unangenehmen Gebäuden. Das war schließlich auch unsere Motivation für unser Projekt VREVAL, und zwar ein Werkzeug zu schaffen, das es erlaubt, die Nutzerperspektive direkt im Entwurfsprozesses systematisch – sozusagen evidenzbasiert – zu untersuchen.
VREVAL ist ein Virtual Reality (VR) – basiertes Tool zur Erstellung, Durchführung und Auswertung von Nutzerstudien in der Entwurfsphase von Gebäuden. Nutzerstudien kennt man ja vor allem aus dem Produktdesign oder Webdesign. Dort funktioniert das auch sehr gut, weil man da relativ schnell einen benutzbaren Prototypen bauen kann. In der Architektur ist die Herstellung eines solchen Prototypen für reine
Testzwecke aus Zeit- und Kostengründen schlicht unmöglich. Deswegen ist hier VR-Technik ein ganz interessantes Werkzeug, weil sich damit die Möglichkeit ergibt, einen Gebäudeentwurf in realer Größe zu erleben. Klar, es war schon vor VREVAL möglich, ein Gebäude in VR zu betrachten. Was aber bisher gefehlt hat, sind Methoden, um als Architekt systematisch zu untersuchen, wie zukünftige Nutzer das Gebäude erleben und wie sie sich darin verhalten würden. Und genau das ist mit VREVAL nun möglich. Denn es geht ja nicht darum, wie man als Planender das Gebäude findet, sondern darum, wie alle anderen das finden. Am Ende muss es den Nutzern standhalten und nicht der Architekturkritik.
Inwiefern erleichtert VREVAL es Studierenden das Mensch-Gebäude-Verhältnis bedürfnisorientierter zu denken?
Die Studierenden untersuchen mit dem Werkzeug VREVAL bestimmte nutzerzentrierte Aspekte. Nehmen wir z.B. die Orientierung im Gebäude. Dazu identifizieren sie wichtige Orte im Gebäude und erstellen Aufgaben, die die Studienteilnehmer auffordern, diese Orte im Gebäude zu finden. Die Pfade, die die Teilnehmer zurücklegen, werden aufgezeichnet und können anschließend analysiert werden. So kann man bspw. herausfinden, an welcher Stelle die zukünftigen Nutzer Probleme haben den Weg zu finden.
Ein anderes Beispiel ist die Untersuchung der Raumwirkung. Die Studierenden entwickeln dazu eine Studie, in der verschiedene Varianten zur Gestaltung eines Raums miteinander verglichen werden. Nehmen wir zum Beispiel eine Bahnhofshalle in Varianten mit unterschiedlicher Deckenhöhe. Die Studienteilnehmer können sich dann die verschiedenen Varianten ansehen und auf einer Skala von hell/dunkel, angenehm/unangenehm, schön/hässlich usw. bewerten.
Nach so einer Studie können die Ergebnisse dann direkt in der Planungssoftware (BIM) visualisiert werden. Die oft eher nebulös diskutierten nutzerzentrierten Aspekte werden so in konkreten Zahlen und Diagrammen dargestellt. Und das hilft dann natürlich bei der Entscheidungsfindung. So können bspw. die häufig bei einer Planung im Zentrum stehenden gut kalkulierbaren Faktoren, wie z.B. die Baukosten, den Studienergebnissen gegenübergestellt werden. Vielleicht würde es 100.000 Euro mehr kosten, die Decke einer Bahnhofshalle einen Meter höher zu setzen, aber dafür finden die zukünftigen Nutzer diesen Raum dann sehr viel angenehmer.
Wie ich verstehe ist das Innovative an VREVAL nicht der virtuelle Rundgang, sondern die systematische Ermittlung des Verhaltens und der Emotionen zukünftiger Nutzer*innen. Die erhobenen Daten werden also direkt in der BIM-Software dargestellt. Pfade können im Grundriss angezeigt werden oder Ergebnisse von Befragungen direkt abgelesen werden. Wie wurde nutzerzentriertes Bauen vor VREVAL Studierenden vermittelt?
In der klassischen Architekturausbildung ist es in der Regel so, dass sich der Student mit seinem Entwurf zu einem Dozenten setzt und diesen mit ihm diskutiert. Dabei werden alle möglichen Aspekte von der Baukonstruktion über die Kosten bis hin zur Ästhetik und zum Nutzerverhalten besprochen. Die beiden letzteren werden dabei häufig auf Grundlage der eigener Erfahrungen und den individuellen ästhetischen Präferenzen bewertet. Eine wissenschaftliche Grundlage fehlt hier weitestgehend, was häufig zu vagen Aussagen seitens der Lehrenden führt.
Das Interessante an VREVAL ist, dass wir uns als Lehrende eigentlich völlig raushalten aus der Bewertung. Wir geben also keine direkte Kritik, sondern die Studierenden müssen sich diese Kritik selbst erarbeiten. Sie müssen sich das Werkzeug aufbauen, mit dem sie untersuchen, wie gut ihr Entwurf aus Nutzersicht funktioniert und dann müssen sie die Ergebnisse, die sie mit diesem Werkzeug erhalten, analysieren. Dadurch trainieren die Studierenden ihre Bewertungsfähigkeiten. Die Architekturausbildung wird sozusagen umgedreht. Wir sagen den Studierenden nicht, was gut oder schlecht ist, sondern sie erarbeiten sich das selbst. Und das Feedback kommt nicht von einer einzigen Person, sondern von den zukünftigen Gebäudenutzern.
Sehen Sie also auch Arbeitserleichterungen im Entwurfsprozess?
Ja, definitiv. Das Tool erleichtert es ganz klar, sich räumliche Dimensio
nen und räumliche Zusammenhänge besser vorzustellen. Besonders für Menschen, bei denen das räumliche Vorstellungsvermögen nicht in dem Maße ausgeprägt ist. So können Fehler frühzeitig aufgedeckt werden, wodurch auch der gesamte darauffolgende Planungsprozess effizienter wird. Aber es bedeutet natürlich einen gewissen Mehraufwand in frühen Planungsphasen, da man sich intensiv mit der Perspektive des zukünftigen Nutzers auseinandersetzen, und sich überlegen muss, wie man bestimmte Aspekte sinnvoll untersuchen kann.
Ist es auch möglich, in VREVAL direkte Veränderungen an der Umgebung vorzunehmen? Z.B. indem ich einen Stuhl dahin ziehe, wo ich gerne sitzen würde?
Bei VREVAL geht es vordergründig um die Bewertung von Entwürfen, nicht um das Entwerfen selbst. Dafür gibt es andere, bessere Werkzeuge. Allerdings gibt es in VREVAL Studienmodule, bei denen die Teilnehmer aufgefordert werden, Dinge im Raum zu platzieren. Da geht es dann z.B. um die Fragestellung “Wo würdest du gerne sitzen?”. Die Studenteilnehmer markieren dann diese Orte mit Platzhalterobjekten. Als Ergebnis erhält man dann eine Karte mit den Orten, die die Nutzer als Aufenthaltsorte präferieren. Diese Informationen können dann z.B. bei der Gestaltung von Sitzmöglichkeiten verwendet werden. Angedacht ist auch ein Studienmodul, bei dem die Teilnehmer selbst Entscheidungen zur Raumgestaltung treffen können, z.B. indem sie die Größe und Lage von Räumen, Fenstern oder Nutzungen verändern. Hier muss aber an die begrenzte Entwurfskompetenz von Laien gedacht werden: wenn dieser z.B. eine Wand verschiebt, ohne die Statik des Gebäudes zu berücksichtigen, ist das nur bedingt sinnvoll.
Worin liegt für Sie da das größte Potenzial in der Nutzung von VR-Technologie während eines Planungsprozesses?
Das größte Potential liegt wohl in der Kommunikation von räumlichen Umgebungen. Mit einem 2D-Plan kann kaum jemand etwas anfangen. Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass es selbst unter Architekten große Unterschiede bei der Einschätzung von Raumqualitäten in unterschiedlichen Darstellungsformen gibt. So werden beispielsweise Grundrisse und Schnitte oft mit Worten beschrieben, die nichts mit der tatsächlichen Raumerfahrung zu tun haben. Im Gegensatz dazu bilden photorealistische Renderings die entworfenen Räume schon recht realitätsnah ab. Jedoch existiert hier das Problem, dass sie immer nur einen bestimmten Ausschnitt des Gebäudes zeigen. Außerdem ist auf diesen Bildern die Wahrnehmung der tatsächlichen Raumgröße verzerrt. In Virtual Reality werden die Räume dagegen in wahrer Größe erlebbar und man kann sich frei bewegen und umsehen. So können Gebäude von allen am Planungsprozess Beteiligten viel umfassender begutachtet und verstanden werden.
Wie verändern sich die Lehransätze der Dozierenden durch die Nutzung von VREVAL?
Als Entwicklerteam haben wir in den letzten Jahren eine ganze Menge über das Verhältnis von Mensch und Architektur und die Versäumnisse in der Architekturausbildung gelernt. Wenn man mit VREVAL eine Nutzerstudie aufsetzen soll, dann muss man sich erstmal überlegen, was man überhaupt herausfinden möchte. Und da fängt es schon an. Viele Studierende wissen oft gar nicht, welche Nutzungs- und Erlebnisqualitäten sie untersuchen wollen. Da müssen wir mit den Studierenden lange darüber sprechen, um sie für die tatsächliche Gebäudenutzung zu sensibilisieren und um herauszufinden, was sie mit ihrem Gebäudeentwurf eigentlich beabsichtigen. Soll es darum gehen, die Orientierung zu erleichtern, soziale Kommunikation zu fördern oder eine hohe Aufenthaltsqualität zu erzeugen? Danach muss man sich überlegen, welche architektonischen Mittel einen Einfluss auf diese Qualitäten haben, und wie man untersuchen kann, ob diese Qualitäten mit dem Entwurf erreicht sind. Das wird in der traditionellen Architekturausbildung oft nicht so konkret thematisiert. So merken die Studierenden, dass sie, obwohl sie schon mehrere Jahre studieren, damit ihre Probleme haben. Nachdem Sie diesen Prozess dann aber einmal durchlaufen haben, fällt es Ihnen viel leichter und sie fragen sich, warum sie nicht schon viel früher gelernt haben.
In welchem Umfang wird VREVAL bei Ihnen aktuell angewandt?
Wir bieten jedes Semester ein Seminar und jedes Jahr ein sog. Studienprojekt an. Im Seminar werden die Studierenden mit den grundlegenden Konzepten vertraut gemacht. Diese probieren Sie dann im kleinen Maßstab aus. Konkret ist das meist die Umgestaltung ihrer derzeitigen Wohnung. Also zum Beispiel: Welche Auswirkungen hätte eine 50cm höhere Decke? Wie würde sich ein breiterer Flur oder ein zusätzliches Fenster anfühlen?
Im Studienprojekt nutzen wir VREVAL dann für ein komplexeres Entwurfsprojekt. Durch eine seit Jahren bestehende und sehr produktive Kooperation mit der Deutschen Bahn Station & Service, verwenden wir hier reale Bahnhofsplanungen als Fallbeispiel. Die Studierenden entwerfen dann in der ersten Semesterhälfte ein Bahnhofsgebäude und beschäftigen sich in der verbleibenden Zeit mit der systematischen Bewertung dieses Entwurfs. Ziel ist es, aus dieser Bewertung Erkenntnisse für die Verbesserung des Entwurfs zu gewinnen.
Gibt es Pläne für eine Weiterentwicklung? Wenn ja, wie sehen diese aus?
Vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft wird derzeit unser Forschungsprojekt OpenVREVAL gefördert. Dort geht es darum, eine stabile Plattform zu bauen, die von allen genutzt werden kann. Im Ergebnis wird es dann ein webbasiertes Tool geben, mit dem man ganz einfach Nutzerstudien konfigurieren und koordinieren kann. Sozusagen ein Google Forms für Gebäudemodelle. Das Projekt läuft noch 18 Monate und ist dann hoffentlich so weit, dass wir es öffentlich stellen können und jeder es benutzen kann. Die Herausforderung, die ich dabei sehe, ist allerdings weniger technischer Natur, sondern liegt im Erstellen einer sinnvollen Nutzerstudie. Das ist eine große Herausforderung für jemanden, der das vorher noch nie gemacht hat. Neben der Technik sind daher vor allem eine gute Ausbildung im Bereich des nutzerzentrierten Entwerfens notwendig.