Corona forciert den digitalen Wandel des Bildungswesens – Können EdTech und Big Tech Universitäten ersetzen?
Corona forciert den digitalen Wandel des Bildungswesens – Können EdTech und Big Tech Universitäten ersetzen?
11.06.20Die Corona-Krise hat die digitale Transformation des Hochschulwesens rasant beschleunigt. Prof. Dr. Andreas Kaplan, Rektor der ESCP Business School, beleuchtet in diesem Beitrag seine Sicht auf den digitalen Wandel in der Hochschulbildung sowie die Potentiale von EdTech-Unternehmen in diesen Bereich. Dabei nimmt er vor allem die Privathochschulen und internationalen Hochschulen mit hohen Studiengebühren in den Blick.
Vor einigen Jahren wurde behauptet, dass Online-Lehrplattformen wie Coursera das Potenzial hätten, den Hochschulsektor grundlegend zu verändern, wenn nicht sogar Universitäten zu ersetzen. Insbesondere Sebastian Thrun, ehemaliger Standford-Professor und Mitgründer der Udacity Plattform, erklärte, dass MOOCs das Universitätssystem revolutionieren könnten. Als Antwort darauf wiesen Hochschulen weltweit auf die Tatsache hin, dass Studieren weit mehr ist als das simple Erlernen theoretischer Inhalte. Demnach wurde u.a. das Knüpfen von professionellen Kontakten, die Vergabe offizieller Abschlüsse, Karriereberatung, oder der Austausch mit Kommilitonen, genannt. Auch wurden die sehr viel höheren Durchfallquoten bei MOOCs und weiteren rein digitalen Formaten angeführt, die aufzeigten, dass der Lernprozess einen inhärent sozialen Prozess darstellt. Tatsächlich wurde auch von niemandem behauptet, dass all diese Aspekte von Coursera, Udacity, und Co. gänzlich ersetzt werden könnten. Allerdings sagte auch niemand, dass diese Bereiche nicht von anderen digitalen Akteuren übernommen werden könnten. Hinzu kommt, dass digitaler Wandel gewöhnlich nicht von heute auf morgen, sondern in einem lang andauernden, mehrstufigen Prozess stattfindet.
Die aktuelle Corona-Krise hat die digitale Transformation des Hochschulwesens rasant beschleunigt. Dieser Blogeintrag beleuchtet diesen Wandel und vor allem das Potenzial von EdTech und Big Tech, Universitäten auf einigen Gebieten teilweise oder sogar vollständig zu ersetzen. EdTech (Kunstwort aus educational und technology) Startups, also Startups, die neue Medien und Technologie im Bildungsbereich einsetzen, sprießen bereits seit geraumer Zeit aus dem Boden. Auch Big-Tech-Unternehmen wie Apple und Google scheinen den Bildungsmarkt für sich zu entdecken, sicherlich aufgrund gewinnversprechender Kapitalrenditen, wie Scott Galloway, Professor an der New York University, kürzlich in einem viel gelesenen Artikel mit Nachdruck darstellt.
Kurs, Karriere, Kind
Hochschulen sind mehr als nur Anbieter von Kursen. Laut dem Hochschulrahmengesetz sollen Universitäten Studierenden wissenschaftliches Denken und Arbeiten beibringen, auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vorbereiten, als auch die Persönlichkeit der Studierenden weiterentwickeln und sie für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben rüsten. Des Weiteren bieten Hochschulen ihren Studierenden die Möglichkeit, Netzwerke zu knüpfen, Freunde zu finden und manchmal auch dem Lebenspartner zu begegnen. Diese Aspekte sollte man keinesfalls unterschätzen. In einer Umfrage unter ESCP-Studierenden sagte eine Vielzahl, dass sie während der sozialen Isolation aufgrund der Corona-Pandemie vor allem den Austausch und die Diskussionen mit ihren Kommiliton*innen während der Vorlesungspausen vermisst haben. Mehr noch als den tatsächlichen Präsenzunterricht, der meist gut durch Onlinelehre abgebildet werden konnte. Viele Universitäten sehen das Ermöglichen solcher Gesprächsmomente sicherlich nicht als ihr Kerngeschäft an. Auch Karriereservice und -beratung gehören hier wahrscheinlich nicht vollends dazu. Diese Bereiche allmählich an den (Ed)Tech-Sektor zu verlieren, bereitet den meisten Hochschulen also demnach höchstwahrscheinlich (noch) kein Kopfzerbrechen. Dies könnte ein Irrtum sein.
Insbesondere Privatuniversitäten, aber auch staatliche Hochschulen gerade im angelsächsischen Raum, rechtfertigen ihre (steigenden) Studiengebühren damit, dass sie den Studierenden kompetente Karriereberatung versprechen und ihnen dabei behilflich sind, ihren zukünftigen Arbeitsplatz zu finden. Auch deutsche staatliche Hochschulen stellen Hilfeleistung bei der Suche des zukünftigen Arbeitsplatzes, obwohl Studierende hier aufgrund der niedrigen Studiengebühren selbstverständlich nicht die gleiche (kostenintensive) Betreuung erwarten. In jüngster Zeit haben Hochschulen jedoch damit begonnen, diesen Service bewusst oder unbewusst an EdTech-Startups, wie JobTeaser oder Jobs2Careers, auszulagern. Studierende werden durch diese Startups mit professioneller Karriereberatung versorgt. Auf der Grundlage ihrer Profile bringen sie die Studierenden mit potenziellen Arbeitgeber zusammen. Da diese Plattformen eine Vielzahl an Universitäten und Arbeitgeber*innen zu ihren Kund*innen zählen, bestehen erhebliche Netzwerkeffekte. JobTeaser beispielsweise zählt in Deutschland jeweils 35 Fachhochschulen und Universitäten zu seinem Partnernetzwerk. Studierende der Universitäten Heidelberg, Passau und Magdeburg, um nur einige Beispiele zu geben, werden mit aktuell über 400 Unternehmen, angefangen von der Commerzbank, über Dior Couture, bis hin zu Haribo, die alle zu JobTeasers Kundenstamm gehören, verbunden. EdTech ersetzt hier also langsam aber sicher die Hochschule. Dies könnte problematisch sein, da Ehemalige bislang den Grund für das Finden ihres Traumjobs, oft in ihrer Alma Mater sehen, sogar auch an Universitäten, die keine professionelle Karriereberatung anbieten konnten. Falls Alumni diesen Erfolg zukünftig nicht auf die Universität, sondern auf die EdTech-Plattform zurückführen, wem werden sie dann danken? Verbundene Alumni sind sicherlich die besten Botschafter*innen, die eine Universität haben kann. Ein solches Dankbarkeitspotenzial auszulagern, kann also langfristig durchaus kontraproduktiv sein und sollte gut durchdacht sein.
Wenn Ehemalige über ihre besten Studienerfahrungen reflektieren, denken viele an wertvolle Kontakte, Freunde oder sogar an ihren Lebenspartner mit dem sie eventuell gemeinsame Kinder bekommen haben und den sie an der Universität kennengelernt haben. Solche Erinnerungen beeinflussen stark die durchaus wichtiger werdende Bindung der Alumni, gleichzeitig Markenbotschafter und potentielle Stifter, an ihre Alma Mater. Auch wenn gerade die Spendenkultur in Deutschland wesentlich weniger ausgeprägt ist, als beispielsweise in Übersee, gibt es an den meisten deutschen Hochschulen dennoch Alumni-Vereine. Allerdings ziehen immer mehr Online-Akteure diese Bereiche weg von der Universität in den virtuellen Raum. LinkedIn ist seit langem zum größten Konkurrenten jedes Ehemaligenvereins geworden. Facebook, Tinder und Co. helfen bei der Freundschaftsbildung (und manchmal auch bei mehr). Sicherlich stimmt es, dass eine Instagram-Bekanntschaft (noch) keine Freundschaft, die im echten Leben entstanden ist, ersetzten kann. Allerdings können Universitäten zukünftig die Möglichkeit sich während der Vorlesungspausen kennenzulernen, auch nicht mehr komplett dem Zufall überlassen. Wenn Präsenzunterricht vermehrt durch erfolgreiche Mischformate ersetzt wird, sollten Universitäten zunehmend den Austausch von Kontakten fördern und dabei helfen, unvergessliche Erfahrungen an der Hochschule zu schaffen, indem sie außergewöhnliche Events am Campus organisieren, Sportvereine und Studentenvereinigungen unterstützen oder regelmäßig Studienreisen sowie sonstige erinnerungswürdige Veranstaltungen anbieten. Nur so werden Studierende, zukünftige Ehemalige, ihrer Alma Mater dauerhaft verbunden bleiben.
Zertifizierung und Qualifizierung
Universitäten und Hochschulen sind zu Recht stolz darauf, offizielle und staatlich anerkannte Abschlüsse vergeben zu können. Darüber hinaus sind sie selbst Inhaber prestigeträchtiger Labels und Zertifizierungen verschiedener nationaler und internationaler Akkreditierungsstellen. Universitäten besitzen oft starke Marken, die über mehrere Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte aufgebaut wurden. Dies lässt einige Lehranstalten sich mit dem Gefühl in Sicherheit wiegen, dass die digitale Transformation des Bildungswesens ihnen eigentlich nichts anhaben kann. Ob dies die richtige Schlussfolgerung ist, wird sich in der Zukunft zeigen.
Beispiele zeigen, dass auch neue Akteure die Erlaubnis erhalten, staatlich-anerkannte Abschlüsse zu vergeben. So erhielt die Code Universität nur wenige Jahre nach ihrer Eröffnung dieses Privileg vom Berliner Senat zugesprochen. Darüber hinaus sind auch die eben genannten Akkreditierungsstellen auf der Suche nach zusätzlichen Einnahmequellen und erweitern ständig ihren Kundenstamm. Die höchste Wertschätzung einer Ausbildung kommt jedoch vom Arbeitsmarkt selbst. Gegenwärtig ziehen es viele Arbeitgeber noch vor, vorselektierte Hochschulabsolventen von bestimmten Universitäten einzustellen, die ein bestimmtes Profil und aufgrund ihres Studiums eine Reihe von Kompetenzen aufweisen. Was wäre aber, wenn auch ein EdTech-Startup eine solche Vorauswahl treffen könnte, vielleicht sogar besser und präziser als Universitäten? Die oben beschriebenen Karriereservice-Plattformen verfügen über eine Vielzahl an Daten, wie beispielsweise die einzelne Kursbelegung der Studierenden, deren Noten, absolvierte Praktika, und außeruniversitäre Aktivitäten. Mittels Datenanalysen und der Nutzung künstlicher Intelligenz könnten sie potenziell das perfekte Arbeitnehmer/Arbeitgeber Binom berechnen. Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis Arbeitgeber beginnen, vom Universitätsabschluss zu abstrahieren und Arbeitnehmer nur noch nach deren tatsächlichen, individuellen Qualifikationen einzustellen.
Mehrere Universitäten haben in der Tat starke Marken und können auf eine lange Tradition zurückblicken. Wer würde nicht Harvard, Oxford oder die Sorbonne in seinem Lebenslauf haben wollen? Eine starke Hochschulmarke könnte jedoch mittel- bis langfristig nicht mehr ausreichen. Auch Unternehmen wie Coca-Cola oder GE waren überrascht, als der Markenwert der eingangs genannten großen Technologieunternehmen Google und Apple sie überholte. Während in der Vergangenheit Beratungsfirmen zu den bevorzugten Arbeitgebern der Studierenden zählten, verlagerte sich dies zunehmend ebenfalls auf die Tech-Giganten, die, wie bereits erläutert, bereit sind, massiv in den Hochschulmarkt zu investieren. Auch komplette Neueinsteiger gewinnen schnell an Markenwert. Beispiele hierfür sind die Code University oder die Ecole42, um nur zwei davon zu nennen. Kreativität und Innovation zahlen sich aus, da Arbeitgeber*innen zunehmend von den hochqualifizierten Absolvent*innen dieser neu gegründeten Akteure angezogen werden. Qualifizierung geht über Zertifizierung.
Lehre, nicht Leere
EdTech und Big Tech können zweifellos die Lehr- und Lernerfahrung verbessern. Beispiele dafür gibt es reichlich. Nichtsdestotrotz dürften sie es schwer haben, die Universitäten in deren Kernkompetenz, der Lehre, komplett zu ersetzen. Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Universitäten auch Experten in der Lehre bleiben. Vermehrt beklagen sich Studierende über die ungenügende Praxisrelevanz, ja sogar Leere, ihrer Universitätskurse, insbesondere mit Bezug auf berufsvorbereitende Inhalte. Die Forschung ist für einen Akademiker mit Hinblick auf dessen Beurteilung und beruflichen Werdegang im Laufe der Jahrzehnte immer wichtiger geworden. Die Lehre ist dabei teilweise in den Hintergrund getreten. Das Publizieren von Forschungsergebnissen in den renommiertesten, internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften ist objektiv messbar, während die Lehre schwieriger zu objektivieren ist. EdTech könnte dies potenziell ändern, da man theoretisch den Zusammenhang zwischen einer Kursteilnahme und dem Erlangen spezifischer, vom Arbeitsmarkt nachgefragter, Kompetenzen analysieren könnte. Die Kursqualität würde transparenter werden und wahrscheinlich das Gewicht wieder mehr von der Forschung auf die Pädagogik verlagern. So wie Universitäten jetzt stolz auf ihre Starforscher sind, könnten sie bald auch stolz auf ihre Stardozenten sein. Aber Achtung, Starpädagogen könnten versucht sein, sich selbständig zu machen und ihre Kurse eigenständig an verschiedene Universitäten und weitere Bildungsakteure zu vermarkten. Professoren könnten sogar versuchen, ihre Inhalte direkt an Lernende zu veräußern, ähnlich wie ein Influencer auf TikTok oder YouTube, der seinen/ihren Ruhm zu monetisieren versucht. Auch wenn dies vielleicht noch nach Zukunftsmusik klingt, kann es dennoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
Es kann durchaus merkwürdig erscheinen, dass sich im Laufe der Jahrhunderte in Bezug auf die Hochschullehre bis jetzt nicht viel geändert hat. Professoren halten Vorlesungen vor Studierenden, die sich Notizen machen, um Prüfungen zu bestehen, und um schließlich ihren Abschluss zu machen. Universitäten stehen in fast allen Bereichen an der Spitze von Innovation und Forschung, aber sie scheinen in ihrem eigenen Sektor bislang hinterher zu hinken. Spätestens seit Corona ist klar, dass Online-Lehren- und Lernen effizient und effektiv sein kann, wenn es richtig durchgeführt wird; auch auf großer Skala. Die virtuelle Sphäre bietet viel Leer- und Lehrraum für Innovation und neue Pädagogikansätze. Erfahrungen an der ESCP zeigen, dass Studierende verstehen wollen, warum sie für eine bestimmte Vorlesung an den Campus kommen sollen. Interaktivität, Diskussionen und moderierte Gruppenarbeiten zählen hier als Gründe. Demnach kann davon ausgegangen werden, dass reine Inhaltsvorlesungen vermehrt online stattfinden werden und Universitäten ihre Lehre verstärkt in Mischformaten anbieten werden, die Vorzüge von Präsenz- und Online-Unterricht verbinden. Die Universitäten sollten keine Zeit verlieren, diese noch vorhandene Leere mit ihren Inhalten und Kursen zu besetzen, um nicht Gefahr zu laufen, diesen Raum an andere Akteure innerhalb der EdTech- und Big-Tech-Landschaft zu verlieren. Die digitale Transformation des Bildungswesens, beschleunigt durch Corona, ist in vollem Gange. Universitäten sollten dringend ihren eigenen Digitalisierungsprozess vorantreiben und müssen entscheiden, ob und wie sie mit EdTech und Big Tech zusammenarbeiten möchten, können, aber auch müssen, um den digitalen Wandel des Bildungswesens bestmöglich für sich und ihren Bildungsauftrag zu nutzen.