Ausgezeichnet im Essaywettbewerb: Die Alternative

Ausgezeichnet im Essaywettbewerb: Die Alternative

01.07.15

Wenn ich an formale Bildung denke, denke ich an Calvin und Hobbes, oder genauer gesagt, an einen ganz bestimmten Comicstrip: Ein finster dreinblickender Calvin steht im strömenden Regen an der Bushaltestelle und wartet allein auf den Schulbus. „Warum zum Teufel warte ich im strömenden Regen darauf, dass der Schulbus kommt und mich an einen Ort bringt, an den ich gar nicht gehen will?“, fragt er sich. „Ich gehe zur Schule, aber ich lerne nie, was ich wissen will.“

Dieser Strip — er ist auf 1988 datiert und stammt damit wohl nicht aus allergrauester Vorzeit, sollte man meinen — nimmt die Verfehlungen der heutigen Uni als Institution vorweg, die trotz (oder wegen?) der Bologna-Reform noch immer in der Vergangenheit festzustecken scheint. Denn während die Uni auf der Stelle tritt, hat das Internet sich etabliert, ein Medium, das den Ruf der Uni als einzige Wissensquelle gehörig infrage stellt. Das ist eine ganz andere Situation als noch 1988 — jetzt gibt es eine Alternative. Unzählige Websites im Internet, nicht wenige davon übrigens von großen, etablierten Unis betrieben oder gefördert, bieten strukturierte Lernangebote, E-Learning, mit und ohne Betreuung, die den Unis und Bibliotheken Konkurrenz machen. Wer etwas lernen will, zum Beispiel eine Sprache, muss nicht mehr den Abendkurs an der Universität besuchen, sondern kann sich auch Videos im Internet anschauen, kann interaktive Übungen dazu machen und sich sogar von Computerprogrammen seine Aussprache verbessern lassen.

Natürlich hat es so etwas, ein Selbststudium, schon länger gegeben. Ich zum Beispiel halte mich für einen klassischen Autodidakten. Was mich interessiert hat, habe ich zu Hause gelernt, hauptsächlich aus Büchern und durch Ausprobieren. Ich habe mir das Programmieren beigebracht, weil ich davon fasziniert war. So etwas aus dem Internet zu lernen, war noch nie ein Problem. Dass das zwar nicht für alle so funktioniert, liegt auf der Hand. Genau das, was dem fähigen Autodidakten im Internet zugutekommt — die Möglichkeit, sein Studium in Eigenregie zu organisieren, zeitlich flexibel und zielgerichtet —, wäre nämlich dem klassischen Phlegmatiker eher abträglich, der ohne nahende Klausurtermine und Anwesenheitspflicht keine Energie findet, die Nase mal ins Lehrbuch zu stecken. In der Tat zeigen Studien, dass diejenigen Studenten von einem Distanzstudium per Internet am meisten profitieren, deren Zeitmanagement und Eigenmotivation am höchsten ist. Aber sind das nicht genau die positiven Eigenschaften, die es zu befördern gilt?

Besonders wenig Verständnis habe ich für Veranstaltungen, für die sich Studenten zu Hunderten in Hörsäle drängen müssen, denn wenn sie es nicht tun, verpassen sie entweder wichtige Prüfungsinhalte — die nirgendwo anders bekannt gegeben werden — oder fallen automatisch durch den Kurs wegen der leidigen Anwesenheitspflicht.

Eine Uni, die so etwas zulässt, ist nicht nur altmodisch — sie ist auch arrogant. Denn wir leben in einer Ära der Nebenbeschäftigung: Zwei Drittel aller Studierenden arbeiten inzwischen neben dem Studium und noch einmal knapp die Hälfte davon ist inzwischen zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts bzw. Studiums unbedingt darauf angewiesen.[1] Und es kann natürlich nicht jeder eine der heiß begehrten und zeitlich flexiblen Stellen als wissenschaftliche Hilfskraft ergattern — stattdessen hat man sich immer öfter Akkordplänen bei der Drogerie oder dem Supermarkt an der Kasse zu stellen.

Eine Uni, die diese Wahrheit nicht anerkennt, ist ihren Studenten feind. Und wer seinen Studenten feind ist, muss sich nicht wundern, wenn er bei den Studenten wiederum auf wenig Gegenliebe stößt. Warum muss einem die Uni mit Anwesenheitspflicht in die Parade fahren, wenn man ohnehin nur sinnlos im Hörsaal sitzt und müde Facebook checkt, während die dröge Stimme des Professors 400 Studenten entgegenleiert? Kann ich mir das nicht später im Internet ansehen, wenn ich ausgeschlafen bin, wenn ich genug Zeit habe, wenn der Zeitpunkt mir genau passt? Was habe ich davon, welchen Mehrgewinn habe ich, ein weiterer Thunfisch in der Dose zu sein und doch nur zuhören zu dürfen, sodass ein intellektueller Dialog ohnehin nicht entsteht?

Besonders schlimm ist es, wenn man dem Professor anmerkt, dass er selbst gar keine Lust hat, da vorne zu stehen und so teilnahmslos wie Siri Skripte vorzulesen, sondern viel lieber seinem prestigeträchtigen Forschungsprojekt (und/oder seinem nebenherlaufenden Aufsichtsratsposten) nachgehen würde. Also warum sich quälen? Lasst den Professor einmal sein Skript vorlesen, in angenehmer Umgebung und nicht im gigantischen Audimax, nehmt es auf, stellt es ins Internet, dann kann es sich jeder anschauen und wieder anschauen, bis er es wirklich verstanden hat. Verschwendet talentierte Professoren nicht an Grundlagenkurse, die sie ohnehin nicht geben wollen, sondern nehmt den Kurs mit dem besten Dozenten auf und gebt ihm und den anderen dann Zeit, ihren Forschungen nachzugehen. Macht lieber die Sprechstunden länger, denn die sind viel zu kurz. So profitieren alle, denn den Professoren ist sicherlich auch daran gelegen, ihre Studenten in einem persönlicheren Rahmen kennenzulernen und nicht nur als ein Gesicht von Hunderten.

So eine Uni wäre etwas ganz Neues, etwas Zukunftsweisendes. Aber das alleine reicht noch nicht — es fehlt etwas. Das Soziale, das Verbindende, der informelle Austausch von und über Wissen. Darauf müssen wir nicht verzichten, im Gegenteil, denn genau das ist ja die größte Stärke der Universitäten aus Lehm und Mörtel. Es muss nicht zwingend das eine oder das andere sein — gefragt ist ein Kompromiss, der das Beste der traditionellen Unis mit dem Besten der digitalen Revolution geschickt verbindet. Stellen wir uns so eine neuartige Institution vor, eine Uni der neuen Generation. Was würde man in ihr verändern? Welche traditionellen Elemente würde man behalten?

Wenn ich mir so eine Uni vorstelle, dann gibt es da wenige Hörsäle, aber viele, viele Klassenzimmer. Sie sind voller Studenten, aber es gibt keine Lehrer, sondern nur Tutoren. Sie moderieren Diskussionen, aber dezent, nicht herablassend, nicht statusbewusst; sie greifen nur ein, wenn es nötig ist, geben Anregungen und stellen interessante Fragen. Es ist keine Schande für sie, etwas nicht zu wissen. Die Studenten diskutieren, stellen Fragen, sagen ihre Meinung und lernen die Meinungen anderer kennen. Vielleicht spielen sie auch manchmal an ihren Smartphones, wenn die Tage lang sind, oder schlafen. Das ist in Ordnung, solange sie niemanden stören. Mit anderen Worten: Das wäre eine Uni auf Augenhöhe, eine Uni, in der sich Studenten ernst genommen fühlen, in der sie nicht nur Nummern auf der Anwesenheitsliste sind, die es abzuhaken gilt, sondern in der sie sich als voll entwickelte Individuen fühlen, die sich gegenseitig unterstützen, sich austauschen und weiterentwickeln. Dieses Modell verbände das Beste aus beiden Welten: die Flexibilität, Sachlichkeit und Interaktivität des Onlinelernens und die informelle soziale Interaktion, die Ausbildung von Kommunikations- und kritischen Denkfähigkeiten, die die Uni als physischer Ort mit sich bringt. Ein Studium, in dem Studenten selbstständig Texte lesen, Übungen machen, sich Vorlesungen im Internet anschauen – und zwar wann sie wollen, so oft, wie sie wollen, und so oft, bis sie sie verstanden haben; in einer Uni, in der sie sich treffen, in der sie sich darüber austauschen und dieses Wissen vertiefen und festigen können — das wäre eine wirkliche Bildungsutopie, die nur Gewinner kennt.

Kann so eine Utopie funktionieren? Ich habe keine Ahnung. Aber zumindest würde ich es mir sehr wünschen. Denn im Grunde gibt es dazu keine Alternative. Die Uni existiert nicht im leeren Raum, sondern als Teil einer Gesellschaft. Und als dieser muss sie sich über kurz oder lang sowohl an die veränderte Lebensrealität ihrer Studenten als auch an die neuen Möglichkeiten der Wissensgewinnung anpassen.

 


[1] 19. Sozialerhebung des DZHW: http://www.dzhw.eu/projekte/pr_show?pr_id=229.

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