Zwischen Online- und Präsenzlehre – Wenn 4.000 km wieder zum Problem werden. Ein Erfahrungsbericht

Zwischen Online- und Präsenzlehre – Wenn 4.000 km wieder zum Problem werden. Ein Erfahrungsbericht

05.01.22

Innenstadt von Tjumen, Straße, Gebäude, Menschen, etwas Schnee

Trotz aller Herausforderungen hat der pandemiebedingte Umzug der Lehre in den digitalen Raum auch einige unbestreitbare Vorteile mit sich gebracht. Darunter die räumliche Unabhängigkeit. Viele Studierende stellten sich die berechtigte Frage “Warum also umziehen?”. Insbesondere der finanzielle Aspekt, aber auch die eingeschränkten Möglichkeiten, unter strengen Kontaktbeschränkungen in einer völlig neuen Umgebung Fuß zu fassen, sprachen gegen einen Umzug in die Studienstadt.

Mit dem Start des Wintersemesters luden einige Hochschulen ihre Studierenden angesichts der im Spätsommer noch recht stabilen pandemischen Lage zur Rückkehr auf den physischen Campus ein. Für viele ein Moment der Erleichterung, für einige jedoch der Beginn einer neuen Verkettung von Unsicherheiten:

Stadtansicht Tjumen, Russland,  mit montiertem Berliner Fernsehturm; Text: Wenn 4000km zum Problem werden

 

Marina Chermakova wurde in der westsibirischen Stadt Tjumen geboren. Sie ging dort zur Schule und absolvierte ihren Bachelorabschluss in dieser Stadt mit gut einer halben Million Einwohner:innen. Im April 2021 begann sie ihr Masterstudium der Architektur an einer Berliner Hochschule – dabei wohnte sie 4.000 km östlich der deutschen Hauptstadt. Die nach einem Jahr Pandemie schon fast routinierte Online-Lehre ermöglichte es der 24-Jährigen, auch ohne die sonst obligatorische Visaformalien ein Studium in Deutschland zu beginnen. Eine Woche vor der ersten Vorlesung des Wintersemesters 2021/22 kündigte die Hochschule dann offiziell die Umstellung auf ein hybrides System an. Innerhalb kurzer Zeit wurden die 4.000 km zwischen Tjumen und Berlin damit wieder zu einem Problem, das zu diesem Zeitpunkt schon fast vergessen war. 

Für das Hochschulforum Digitalisierung beschreibt Marina ihre Situation. Sie macht darauf aufmerksam, wie die Geschwindigkeit und Flexibilität des digitalen Raumes mit der Trägheit der Realität kollidieren können, insbesondere in Kombination mit der aktuellen Unvorhersehbarkeit der Situation.

Marina, kannst Du das Problem mit dem Visum erklären?

Um ein Visum für einen Studienaufenthalt in Deutschland zu erhalten, verlangt das deutsche Konsulat einen Nachweis ausreichender finanzieller Mittel. Dazu gehören: a) vor dem Einreichen der Unterlagen für ein Visum 10.300 Euro auf einem speziellen Sperrkonto (das entspricht der Hälfte des Preises für eine Einzimmerwohnung in meiner Heimatstadt!), b) die Verpflichtungserklärung eines deutschen Bürgers (es muss ein sehr guter Freund mit einem Mindestgehalt von 2.300 Euro pro Monat brutto sein), oder c) ein Stipendium. 

Ohne die finanziellen Mittel oder enge Kontakte in Deutschland bleibt also nur die Möglichkeit des Stipendiums. Hier beginnt jedoch ein Teufelskreis, da viele Stiftungen voraussetzen, dass man zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits an einer Hochschule in Deutschland eingeschrieben ist. Um ein Stipendium zu bekommen, muss man ein Studium in Deutschland beginnen und um das Studium zu beginnen, muss man ein Visum bekommen, für das man ein Stipendium braucht. Natürlich gibt es den DAAD und die russische Abteilung der Konrad-Adenauer-Stiftung, die nicht sofort eine Immatrikulation verlangen, aber die Konkurrenz ist dort sehr groß.

Marina

Was hat die Ankündigung der hybriden Lehre im Wintersemester für Dich bedeutet?

 

Das Hybridsystem bedeutet, dass internationale Studierende ein Visum erhalten können. Das Konsulat rät jedoch, auch eine Bescheinigung des Dekanats vorzulegen, dass das Semester nicht vollständig online stattfinden wird. Die Erteilung des Visums dauert in der Regel mindestens vier Wochen, kann sich aber auch bis zu acht Wochen hinziehen. Da die Ankündigung des Hybridsystems recht spät kam, war es unmöglich, das Visum vor Beginn des Semesters zu beantragen. Ich selbst befand mich im September noch im Auswahlverfahren der Friedrich-Ebert-Stiftung und wartete auf die Entscheidung, denn ich konnte ohne Stipendienbescheinigung nicht nach Deutschland kommen. Glücklicherweise waren die ersten Vorlesungen online. Hinzu kommt, dass ein Umzug in ein anderes Land eine ernste Angelegenheit ist, die ohnehin nicht schnell erledigt werden kann.

 

Wie wird die hybride Lehre tatsächlich umgesetzt und konntest Du allen Veranstaltungen folgen?

Einige Lehrkräfte sagten sofort, dass ihre Module vollständig online sein würden, andere sagten, sie würden zunächst bis zum Ende des Jahres online sein. Es gab jedoch einige Professor:innen, die in der ersten Vorlesung sagten, dass ihre Module nur offline stattfinden würden und es keine Alternative gäbe. Und Studierende, die nicht in Präsenz teilnehmen können, müssen auf diese Module verzichten. Ich musste mich zum Beispiel zwischen zwei Modulen der Architekturgeschichte entscheiden – und zwar nicht für das, das mir besser gefiel, sondern für das Modul, das nicht in Präsenz stattfindet.

Ich habe auch ein Fach, in dem der Professor nach zwei Vorlesungen gesagt hat, dass die weitere Unterrichtsstunden offline sein werden. Die Alternative der Online-Teilnahme wurde nicht angeboten. Das war sehr nervenaufreibend. Das Warten auf meine Stipendienbescheinigung zog sich, dazu kam die sich verschärfende Pandemie-Situation in Russland. Zum Glück ist meine Projektpartnerin vor Ort in Berlin eine gute Freundin, die unsere gemeinsamen Ideen auch ohne meine physische Anwesenheit präsentiert. Ich fürchte jedoch, dass sich meine Abwesenheit trotz meiner Bereitschaft und Motivation, dem Studium zu folgen, auf meine Note auswirken könnte. Das macht mich nervös und frustriert, da ich auf gute Noten angewiesen bin, um mein Stipendium verlängern zu können. Und ohne Stipendium kein Visum.

Was ist Dein Fazit zu Deiner Situation, was wünschst Du Dir?

Ich frage mich: Wo ist die Unterstützung aller Studierenden während des Hybrid-Semesters? Während des Lockdowns im Herbst in Russland und der Unmöglichkeit, ein Visum zu beantragen, war ich nervös. Jetzt fürchte ich mich für den Rest des Semesters vor einer schlechten Note und einer negativen Einstellung des Professors. Dieser Übergang zum normalen Pre-COVID-Leben ist eher nervenaufreibend als angenehm, insbesondere für Studierende aus Nicht-EU-Ländern. Für uns steht viel auf dem Spiel.

Ich verstehe, dass der Übergang zu Präsenz für Lehrkräfte, das Dekanat usw. schwierig ist. Und es ist sehr schwierig, alles perfekt zu machen. Ich glaube, sie wollen das Beste für uns und versuchen, das normale Leben in der Hochschule zu ermöglichen. Ich möchte den Lehrkräften oder der Universitätsleitung in keiner Weise zu nahe treten. Mein Ziel ist es, die Situation aus der Sicht einer internationalen Studierenden aus Russland zu schildern, die sich durch den abrupten Wechsel des Unterrichtsformats in einer schwierigen Lage befindet. Ich glaube, dass sich die Dinge bald wieder normalisieren werden, aber bis dahin müssen wir ein wenig mehr Geduld, Verständnis und Akzeptanz füreinander aufbringen.

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