„Von 17-Seiten-Fragen zur Genese neuer Antworten“ – Zwischenstand & Auswertung eines Expertengesprächs zu digitalen Bildungsangeboten für Flüchtlinge
„Von 17-Seiten-Fragen zur Genese neuer Antworten“ – Zwischenstand & Auswertung eines Expertengesprächs zu digitalen Bildungsangeboten für Flüchtlinge
12.11.15Bildung kommt bei der nachhaltigen Integration von geflüchteten Menschen in Deutschland eine Schlüsselrolle zu. Die Anforderungen unseres formalen Bildungssystems stellen jedoch eine Herausforderung für Flüchtlinge dar: Zumeist fehlen umfangreiche Sprachkenntnisse, häufig auch Zeugnisse und Dokumente. Auch stehen Flüchtlingen in Flüchtlingsunterkünften strukturell und im Asylprozess rechtlich lange Zeit gar keine Möglichkeiten zur Verfügung, bestehende formale Bildungsangebote zu nutzen. Digitale Lehr- und Lernangebote können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Vor diesem Hintergrund lud das Hochschulforum Digitalisierung am 4. November 2015 zu einem Expertengespräch mit dem Titel „Potenziale digitaler Bildungsangebote für die Qualifizierung und Integration von Flüchtlingen“ ein. Ein Bericht von Isabel Schünemann.
Bereits in der Vorstellungsrunde der rund 30 Expertinnen und Experten aus Hochschulen, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wurde deutlich: Jede der vertretenen Organisationen engagiert sich bereits. Jeder für sich. Jeder dort, wo er kann. Die Fachhochschule Lübeck hat auf der hauseigenen MOOC Plattform mooin ein Integrationsportal geöffnet, übersetzte hierfür Online-Kurse auf Englisch und bietet Deutschkurse auf Arabisch an. Das Land Baden-Württemberg hat ein Stipendienprogramm für begabte Flüchtlinge aus Syrien ins Leben gerufen. Google verbessert stetig sein Übersetzungstool zwischen Deutsch und Arabisch, um die Kommunikation mit geflüchteten Menschen zu vereinfachen.
Was uns aber an diesem Tag beschäftigen sollte: Wie verstetigen, skalieren und verbinden wir bestehende Angebote? Und wie stellen wir Übergänge in das formale Bildungssystem sicher?
Zwei Initiativen stellen sich vor
Als Impuls dienen zwei Initiativen. Der Mentored Open Online Course „Ready to Study“ der Leuphana Universität hat das Ziel, junge Flüchtlinge auf ein Studium oder eine Ausbildung in Deutschland vorzubereiten. Er verbindet einen Sprachkurs und ein wissenschaftliches Propädeutikum mit grundlegenden Informationen über das deutsche Hochschulsystem und ein Studium in Deutschland. Begleitet werden die Teilnehmer, die in Kleingruppen arbeiten sollen, durch Online-Tutoren. Der Pilot, in dem bis zu 1.200 Teilnehmer betreut werden können, soll in wenigen Wochen starten.
Einen Schritt weiter geht Kiron. Auf vielen Plattformen bieten Hochschulen der ganzen Welt bereits Online-Kurse an. Kiron nutzt diese, entwickelt daraus digitale Curricula und bietet geflüchteten Menschen damit die Möglichkeit, die ohnehin verfügbaren Kurse in einem strukturierten Programm zu absolvieren. Der Clou: Parallel verhandelt Kiron mit Hochschulen in Deutschland, aber auch weltweit, die Anerkennung dieser Kurse für ein späteres Präsenzstudium an der jeweiligen Hochschule. Wenn Flüchtlinge also später ein reguläres Studium an einer der Partnerhochschulen beginnen möchten, fangen sie nicht bei Null an, sondern können sich ein Teil ihrer online-erbrachten Studienleistungen bereits anrechnen lassen. Damit schafft Kiron eine Möglichkeit, dass Flüchtlinge sich auch ohne geklärten Aufenthaltsstatus, vorlegbare Zeugnisse und eine formale Studienberechtigung in Deutschland weiterbilden können. Neben anderen Rahmenbedingungen sind es häufig gerade diese formalen Gründe, die geflüchtete Menschen bisher aus den Hörsälen fernhalten.
Kiron selbst ist in der Lehre vor allem als Kurator und digitaler Knotenpunkt vermittelnd tätig; zwischen Hochschulen, die weltweit frei zugänglich über Plattformen Online-Kurse anbieten, durchführen und betreuen, und Hochschulen, die bereit sind, Flüchtlingen diese Lernleistungen später anzuerkennen und sie on Campus weiter zu betreuen. Diese Anrechnung erbrachter Leistungen auf ein Präsenzstudium liegt in der Hand jeder Hochschule: Die zuständigen Prüfungsämter beurteilen, welche Kurse in welcher Höhe für welchen Studiengang anrechenbar sind. Jeder, der einmal im Ausland studiert hat, kennt das Verfahren. Kiron verhandelt diese Anerkennungsquoten mit einzelnen Hochschulen nur gleich für ganze Online-Kurs-Bündel. Darüber hinaus leistet Kiron ein Rund-um-Paket an Betreuung: Psychosoziale Beratung, lokale Lerngruppen, Sprachkurse.
In der anschließenden Plenumsdiskussion wurden allerhand Bedenken bezüglich der Umsetzung und der Qualitätssicherung, sowie Skepsis im Hinblick auf Abschlussquoten und der Verteilung finanzieller Ressourcen deutlich. Ein Teilnehmer durchbrach schließlich die Debatte: Ihm fielen sicherlich 17 Seiten an Fragen und Herausforderungen ein, die noch abzuarbeiten seien. Aber man könne diese nun verlesen, oder sich gemeinsam hinsetzen und anfangen, diese zu beantworten.
Bildung als Öffentliches Gut
Es fehle an Entschiedenheit für die Innovation, stellte Prof. Dr. Stephan A. Jansen in seinem Vortrag zur Skalierung digitaler sozialer Innovationen später fest. Gesellschaftliche Transformationsaufgaben seien nicht von einzelnen Organisationen oder Sektoren zu bewältigen, sondern nur in intersektoraler Zusammenarbeit, die sich auf Innovation als gemeinsamen Nenner fokussiere. Denn die Qualifizierung von Menschen mit Migrations- und Flüchtlingshintergründen gelte als ein quasi-öffentliches Gut. Akteure, wie die Impulsgeber, zeigten als „Sozialingenieure“ zwar innovative Lösungen auf. Um diese zu verstetigen und vor allem zu verbreiten, das „Gut“ also einer breiten Masse zur Verfügung zu stellen, bräuchte es allerdings große Akteure, wie den Staat, Wohlfahrtsverbände oder Unternehmen. Diese schienen allerdings zu häufig in ihren institutionellen Logiken gefangen.
Viele der angestoßenen Debatten erschienen in einem anderen Licht, wenn man das zugrundeliegende Bildungsverständnis hinterfrage. Spräche man von Bildung als öffentlichem Gut, gehe es schließlich nicht nur um die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt, sondern insbesondere um individuelle Selbstbestimmung. Nicht nur um Employability also, sondern um Empowerment. In diesem Sinne träten Anforderungen an formale Bildung in den Hintergrund, und damit auch Fragen zu Qualitätssicherung oder Abschlussquoten.
Dies gelte insbesondere für Menschen mit Migrations- oder Flüchtlingshintergründen, die unter enormen Anstrengungen Tausende von Kilometern zurücklegten, um sich hochmotiviert ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Der Verlauf eines Asylantragsprozesses bremse diesen Enthusiasmus und ihre Hoffnung auf formale Integration ins Bildungssystem oder den Arbeitsmarkt leider erheblich. Lern- und Bildungsprozesse könnten daher eine mehrdimensionale, informelle Rolle übernehmen: Bildung eröffne hier eine Zukunftsorientierung in der Vergangenheitsbewältigung und vermittelt in der Abhängigkeit bürokratischer Antragsprozesse das Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Die beiden vorgestellten Initiativen machten exemplarisch deutlich, wie digitale Bildungsangebote dennoch Perspektiven auf eine Zukunft aufzeigen können. Allerdings sei Bildung, so Jansen, vor allem etwas, das Bindung brauche. Daher sollten digitale Angebote viel stärker auf Blended-Learning-Formate setzen. Sie könnten so nicht nur zur schnelleren und weiteren Verbreitung von Bildungsangeboten beitragen, sondern auch der Traumabewältigung und Integration dienen- gemeinsam mit Ehrenamtsengagement von Sport- und Kulturvereinen, psychosozialer Betreuung und Sprachkursen. In einer orchestrierten Einbindung von Integrationsangeboten in frühen Stadien des Asylantragsprozesses könne Bildung damit eine Schlüsselrolle zur Heilung und Selbstbestimmung spielen. Womöglich lohne es sich dafür sogar, institutionelle Legitimationsbedenken hinter sich zu lassen.
Zwischenfazit
Im Rahmen des Expertengesprächs wurden die innovativsten Modelle zur Qualifizierung und Integration von Flüchtlingen mithilfe digitaler Bildungsangebote eingehend vorgestellt und kritisch diskutiert. Was heißt das nun für den weiteren Umsetzungsprozess von den bestehenden Initiativen wie für die Entwicklung neuer Angebote?
Deutlich wurde, dass digitale Angebote im ersten Schritt gerade aufgrund ihres informellen und flexiblen Charakters eine wichtige Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten für Flüchtlinge darstellen können. Um das Potential aber voll zu entfalten, bedarf es aufseiten der Hochschulen einer deutlichen Unterstützungskultur. Diese kann einerseits in einer intelligenten Verzahnung mit lokalen Angeboten und Initiativen in Präsenz bestehen und andererseits in der Weiterentwicklung von Anerkennungsverfahren digital erbrachter Studienleistungen. Die Anschlussfähigkeit an formale Hochschulbildung bietet dabei nicht nur den Flüchtlingen wichtige Zukunftschancen, diese Auseinandersetzung könnte auch den Verständigungsprozess deutscher und europäischer Hochschulen dynamisieren. Bologna Digital wäre somit weit über die aktuellen Herausforderungen hinaus eine hochschulpolitische Zukunftsaufgabe, die hoch auf der Agenda stehen sollte.
Deutlich wurde auch, dass die mannigfaltigen Herausforderungen in der Flüchtlingsarbeit neue Kooperationsverbünde und wirkungsvolle Handlungs-Schnittstellen erfordern, für die es noch keinen gesellschaftlichen Masterplan gibt. Die im Bildungsbereich durchaus erkennbare Bereitschaft, neue Antworten zu entwickeln, bedarf mutiger Akteure und Rahmenbedingungen, die Handeln in Zeiten von Ungewissheit bestärken. Hier können auf allen Ebenen, politisch wie privatwirtschaftlich und zivilgesellschaftlich noch viele Zeichen gesetzt werden.
Bild 1: Pabak Sarkar „smartphone teen„, CC-BY 2.0 via flickr.com
Bild 2: Susanne Nilsson „at the library„, CC-BY-SA 2.0 via flickr.com