Wie eine Bildungshitparade

Wie eine Bildungshitparade

28.04.15

Was hat die Debatte über offene Online-Kurse, die sogenannten Moocs, mit der Geschichte von Hase und Igel zu tun? Sehr viel, sagt der Präsident der Uni Trier und Experte für Digitalisierung in der Rektorenkonferenz. Eine pragmatische Einordnung und ein Denkanstoß von Prof. Dr. Michael Jäckel.

Dieser Blogbeitrag ist Teil einer losen Reihe von Reflexionen zum Thema E-Learning und MOOCs. Den Anfang machte Dr. Markus Deimann mit seinem MOOC-kritischen Beitrag „Digitale Bildung jenseits von MOOCs“. Desweiteren erschien „MOOCs – reden wir über Chancen und Erfolge“ von Hans Pongratz.

Als Louis Daguerre das nach ihm benannte fotografische Verfahren erfand, inspirierte das Ergebnis dazu, von einer Verdoppelung der Realität zu sprechen. Gegenwärtig scheint sich an deutschen Hochschulen das Gefühl einzustellen, die Akteure einer konsequenten Digitalisierung der Lehre schafften eine Art Zweitwelt des akademischen Lebens. Wen wundert es da noch, dass nunmehr der Begriff „digitale Schöpfung“ – in bewusster Anspielung auf ein berühmtes Deckengemälde – kursiert.

Wer über die Zukunft der Universität nachdenkt, spricht in der Regel von Herausforderungen, die keine klare Struktur haben, aber Eindruck beziehungsweise Verunsicherung hinterlassen. Der Management¬Theoretiker Peter Drucker meinte beispielsweise im Jahr 1997, dass in 30 Jahren der Universitätscampus dieser Art ein Relikt sein werde. Universitäten würden nicht überleben. Um die Brisanz zu verdeutlichen, wurde ein Vergleich mit der Wirkkraft der Einführung des Buchdrucks bemüht. Im Falle von Prognosen wird selten genau abgerechnet. Aber es wären mal gerade noch 13 Jahre, bis der Campus, wie wir ihn heute kennen, eine Altlast oder ein kulturelles Überbleibsel sein soll.

E-Learning: Digitale Schöpfung oder digitale Überproduktion?

Als zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts größere E¬Learning¬Förderprogramme für den universitären Bereich aufgelegt wurden, entstanden vielerorts interessante Einzelprojekte in vielen Disziplinen. Primäre Motivation war dabei nicht, etwas Vorhandenes zu ersetzen, sondern besser zu machen. Die Verzahnung der analogen mit der digitalen Lehre stand im Vordergrund, nicht Modelle, die den Kolleginnen und Kollegen Substituierbarkeit signalisieren sollten. „Blended Learning“ vereinte in gewissem Maße Befürworter und Gegner, weil beide Lehrformen – vor Ort und virtuell – ihre Berechtigung behielten. Verstetigung sollte natürlich sein, wurde aber häufig ein Opfer anderer Prioritäten. Das Ergebnis war keine digitale Schöpfung, sondern eher eine digitale Überschussproduktion.

Aus diesen Erfahrungen wurde gelernt. Gefördert wurden in der Folge Vorhaben, die eine kritische Masse von Nutzerinnen und Nutzern mitnehmen sollten. Lehr-/Lernplattformen wurden perfektioniert, Aufzeichnungs- und Übertragungsmöglichkeiten verbessert, elektronische Dialogmöglichkeiten integriert. Qualifizierungsangebote für Mitarbeiter und Studierende mündeten in Zertifikate. Aber die Mehrzahl der Lehrenden und Studierenden war deshalb von den neuen Möglichkeiten überzeugt, weil sich die Veranstaltungsorganisation damit besser realisieren ließ. E-Learning war also Teil des Universitätsalltags geworden – bevor die aktuelle Debatte über offene Online¬Kurse im Internet, kurz Moocs (Massive Open Online Courses) für Unruhe sorgte. Aber E-Learning stand eben nicht für das, was eine Universität ausmacht. Es wurde weiter experimentiert und überwiegend zögerlich gefördert. Von Strukturen langer Dauer dagegen kaum eine Spur. Bildungstechnologische Innovationen blieben meist auf der Insel zum Beispiel des Seminars, das neue Lehrveranstaltungskonzepte erprobte. Es gab durchaus einen Flächeneffekt in dem Sinne, dass sich eine Öffnung vollzog („Wo macht der Einsatz von E¬Learning¬Tools Sinn?“), aber doch auch eine sehr ungleich verteilte Akzeptanz sowohl auf der organisatorischen als auch auf der Lehreinheitsebene.

Neben diesem Flächeneffekt gibt es aber auch große und kleine E¬Learning¬Punkte auf der deutschen Landkarte. Nach der breiten Projektförderung Anfang des Jahrtausends sind viele E-Learning¬Einheiten dünn besetzt, Wissen und Personal abgeflossen, Stellen zum Teil nicht dauerhaft abgesichert. Anderenorts hat man gewaltig investiert. Während die einen auf der Überholspur davonzufahren scheinen, wird der E¬Sp(i)rit an anderen Stellen eher knapp. Wer dann die Berichte über die Chancen auf einem weltweiten Bildungsmarkt liest, weiß kaum noch, in welchem Kino dieses Bildungsdrama eigentlich spielt: Bildung für alle, Bildung ohne Grenzen, Demokratisierungsversprechen und Personalisierung. Szenarien, die mit diesen Optionen spielen, sind inflationär geworden und wirken daher wie halbherzige Expeditionen in die Zukunft. Der Verfolgungswahn im IT¬Bereich sorgt dort, auf der Entwicklungs¬ebene, für Tempo, in den Hochschulen begünstigt er eher zögerliche Entscheidungen. Das erinnert an die Geschichte von Hase und Igel. Dies zeigt in besonderer Weise die seit geraumer Zeit geführte Diskussion um Moocs – gemeint sind digitalisierte Lehrformate,  die im Vorlesungs¬ oder Seminarstil konzipiert sind –, aber auch generell um OER (Open Educational Resources), also Materialien, die für Lehr¬/Lernzwecke frei zur Verfügung stehen.

Klicks – die neue Währung in der Bildung?

Die Sprache der Zahlen ist betörend. Einer digitalen Hitparade gleich starrt man auf Klicks, ein Starkult, der – wie im Bereich der Unterhaltung – einen Contest auf akademischer Bühne nach sich zieht. Massenkommunikation mit Bildung und trotzdem nicht Bildung von der Stange – was immer damit gemeint sein soll. Ja, es gibt überfüllte Seminare. Aber sie stehen für eine andere Knappheit, nicht für einen Mangel an didaktischen Ideen. Einst hieß es im Marketing „Just bulbs!“, um zu verdeutlichen, dass Glühbirne nicht gleich Glühbirne ist. Jetzt könnte es „Just Moocs!“ heißen – und man kann es mit einem x (die Vorlesungsvariante), einem c (die interaktionistische) oder einem b (für blended, also Präsenz plus offener externer Teilnehmerkreis) davor haben. Ein Gemisch von Botschaften also, die gezielt den Eindruck vermitteln wollen, dass sich hier eine neue Ära ankündigt. Begleitet wird diese Unruhe durch oft positiv gefärbte Effekte, die der Einsatz dieser Instrumente nach sich ziehe, gekoppelt mit einer defizitären Rahmung der bisherigen Orte akademischer Lehre. Die Choice¬Euphorie, die schon vor Jahren diverse Lebensbereiche erfasst und verändert hat, werde den Begriff „Studium“ neu definieren. Anwesenheit sei nicht mehr zeitgemäß. Eigentlich eine traurige Diskussion, die angesichts der Vielzahl blinder Flecke die vorhandenen Strukturen vielleicht zu stören vermag, aber fern von einer auch nur im Ansatz brauchbaren Gesamtlösung ist.

Sparschwein digitale Bildung?

Daher in zugespitzter Form einige Thesen: Wer meint, er könne mit neuen Technologien etwas sparen, der braucht kein Sparschwein. Wer sich ernsthaft auf die Produktion didaktisch und dramaturgisch gut konzipierter Lehreinheiten in audiovisueller Form einlässt, braucht Zeit und Geld – und dies auf Dauer. Plattformen außerhalb der Hochschulen sind gegenwärtig ebenfalls Sammelbecken interessanter Einzelprojekte. Das ersetzt weder ein Studium noch einen Studienverlaufsplan noch klärt es Fragen der Anerkennung. Interessante Einzelprodukte mögen zwar Impulse für die Lehre setzen, aber sie sind nicht Teil eines neuen Organisationskonzepts.

Interessant wird in jedem Falle sein, wie das Herz jeder Universität, die Bibliothek, diese digitale Herausforderung annimmt. Ortsbezogenes Arbeiten ist zwar nicht mehr notwendigerweise Pflicht, aber die Kür besteht darin, die Bibliothek durch vermehrte Integration der neuen Zugriffsmöglichkeiten zu einem atmosphärisch und inhaltlich interessanten Anlaufpunkt mit langer Verweildauer zu machen – einladend, zweckmäßig, flexibel. Aufschlussreich ist daher folgende These von Karen Latimer, Sprecherin des UK Designing Libraries Advisory Board: „Far from libraries being displaced by information technology, information technology has moved into libraries.“ In einem Verbund mehrerer Universitäten können E¬Learning¬Angebote auch durchaus Kooperationen unterstützen und Angebote dort zugänglich machen, wo sie nicht zum regulären Studienprogramm gehören.

Hochschulen brauchen keinen digitalen Überschuss, sondern digitale Ergänzung, Erweiterung und Differenzierung. E¬Learning hat durch die Diskussion wieder mehr Aufmerksamkeit erfahren. Dieser Schwung sollte für Komplementär¬ und Zusatzangebote genutzt werden. Denn Zielgruppen für diese Angebote gibt es durchaus: Da ist eben nicht mehr nur eine akademische Gemeinschaft, sondern da sind viele, die ihre eigene Kultur pflegen. Da gibt es kleine Fächer, die nur an wenigen Standorten studiert werden können. Da ist nicht mehr nur die große Gruppe der Erststudierenden, sondern da sind Nur¬Studierende und Auch¬Studierende. Da ist auch ein internationales Publikum, da sind die Alumni, da sind Menschen, die sich für Weiterbildungsangebote interessieren. In der Diskussion um Moocs, die ja nicht gerade arm an „Anything goes“¬Metaphern ist, kommt diese Anspruchsvielfalt zu kurz. Die zum Teil einfältige Debatte sorgt daher auch für wenig Begeisterung.

Dieser Artikel erschien zuerst in der duz – Deutsche Universitätszeitung, Ausgabe 02/2015 vom 23.01.2015, Seite 14-15. Das Hochschulforum Digitalisierung dankt für die freundliche Zurverfügungstellung.

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