Wie können Hochschulen komplexe Krisen Studierender begleiten?

Wie können Hochschulen komplexe Krisen Studierender begleiten?

18.09.24

Die HFD-Blogreihe „Tool-Box zu Student Wellbeing im digitalen Zeitalter“ setzt sich mit dem Verhältnis von psychischer Gesundheit bei Studierenden und Digitalisierungsprozessen an Hochschulen auseinander. Tanja Brock und Jan Schuhr geben dabei in Form einer Tool-Box hilfreiche Ideen für die Gesundheitsförderung im Hochschulalltag. Im vierten und letzten Teil dieser Blogreihe werden komplexe Krisen Studierender thematisiert sowie Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt, wie Dozierende mit diesen Situationen angemessen umgehen können.

Dozierende erhalten im Verlauf ihrer Berufsbiographie vielfältige Einblicke in individuelle Lebenslagen der Studierenden. Sie treffen dabei fortlaufend Entscheidungen über den eigenen Umgang mit dem Wissen, welches sie über das jeweilige Leben erlangen. Darin eingeschlossen sind auch die persönlichen Krisen und die umfangreichen Hilfebedarfe der Studierenden. Wie in den aktuellen Studien zu der gesundheitlichen und sozialen Lage der Studierenden, aber auch in den Flurgesprächen mit den Kolleg:innen nachvollzogen werden kann, gehören dazu: Mobbing, Diskriminierungserfahrungen, Suizidgefährdungen, Trauer, sexuelle Gewalt, klinische Erkrankungen und weitere schwerwiegende Beeinträchtigungen. Der pandemische Hochschulbetrieb hat uns gezeigt, dass sich der verstärkte Einsatz  digitaler Studienformate auf die (Un-)Sichtbarkeit individueller Eigenschaften und Bedarfe auswirkt. Dies beeinflusst, wie Menschen ihre Anliegen kommunizieren und erfordert neue Wege, um mit Krisen und schwierigen Lebenssituationen der Studierenden umzugehen. Im Fortfolgenden möchte ich daher näher erörtern, welche Aufgaben und Handlungen vereinbar mit der Rolle des:der Dozierenden sind und einen wirksamen Hilfeverlauf für Studierende in komplexen Krisen begünstigen. Als „komplexe Krisen“ verstehe ich hierbei Situationen bzw. Erfahrungen im Lehr- und Studienalltag, die, wie in den o.g. Beispielen („Mobbing, ….“) angedeutet, die eine akute Hilfereaktion erfordern.  

Die Grundlage des Beitrages ist die qualitative Studie von Schuhr und Brock (2024) in dieser im SoSe 22 und WiSe 22/23 Dozierende (n=8) und Studierende (n=21) sächsischer Hochschulen zu ihren Erfahrungen und Umgangsweisen in Bezug auf psychische Belastungen im (digitalen) Hochschulalltag befragt wurden. Ebenso boten die eigene Studienerfahrung (2015-2022) sowie die ersten Lehraufträge ab dem WiSe 22/23 zahlreiche Eindrücke zum Aufkommen und der Begleitung studentischer Krisen, sodass i.S.d. Transparenz die fortfolgende Erzählung in der Ich-Perspektive dargestellt wird.

Verantwortung und Grenzen in der Rolle des:der Lehrenden

Die eigene Positionierung zu einem geeigneten und angemessenen (Verantwortungs-)Verhältnis, welches Dozierende einnehmen können und auf dessen Grundlage diese handeln, begründet sich vornehmlich in dem Erfahrungswissen und der individuellen moralischen Auffassung der Lehrperson. Voraussetzung für eine gelungene Beziehungsarbeit mit Studierenden (im Kontext von Krisen wie im weiteren Alltag) ist es dabei, sich diese Ressourcen, also dem Erfahrungswissen und der eigenen moralischen Auffassung, bewusst zu machen. Dies ermöglicht einerseits die Schaffung von Rollenklarheit, welche essentiell für die betroffenen Studierenden und einen gelungenen Hilfeverlauf ist. Andererseits wird die Mehrheit der Lehrenden, unabhängig davon, inwieweit sie involviert sein möchten, als Ansprechperson für individuelle Krisen von Studierenden adressiert oder bezeugen diese.

Ein gerichtetes Erwartungsmanagement erscheint daher obligatorisch und ist indes auch dann förderlich, wenn eine Lehrperson eine (aktive) Begleitung von bestimmten Problemen nicht vornehmen kann oder möchte. Die eigenen Grenzen proaktiv zu kommunizieren, ist somit eine bedeutsame Hilfeleistung, da diese die Wahrscheinlichkeit während des Hilfegesuches, Zurückweisung und Enttäuschung zu erfahren, vermindert. (Die Angst vor Ablehnung ein zentraler Beweggrund für die Nichtinanspruchnahme psychologischer und sozialer Hilfeangebote von Studierenden (Kosyluk et al., 2021)). Des Weiteren bedarf es insbesondere in einem Herausforderungs- und Belastungsaffinen Tätigkeitsumfeld wie dem Hochschulbetrieb auch Zugeständnisse  und Maßnahmen für den psychischen Selbstschutz. Dies bedeutet nicht, den ersten Veranstaltungstermin mit der Bitte zu eröffnen, keine privaten Anliegen mitzuteilen, insbesondere wenn diese besonders schwerwiegend sind.

Ein möglicher Hinweis kann lauten:

„Ich lehre Fach X, das kann ich und dafür bin ich ausgebildet. Ich weiß dabei um die verschiedenen Problemlagen und Krisen, die Menschen in einem Studium durchlaufen, was mich jedoch weder dazu bemächtigt noch mit der Kompetenz ausstattet Ihnen dabei zu helfen. Sie werden daher am Ende jedes Foliensatzes hinter den Literaturquellen eine Auflistung der Ansprechpersonen an unserer Hochschule für Ihre unterschiedlichen Bedarfe finden. Mit dem Verweis an die Kolleg:innen möchte ich kein Desinteresse an Ihnen ausdrücken, ganz im Gegenteil, gerade weil ich mich für Sie interessiere ist mir an einem geschulten Umgang mit Ihren persönlichen Anliegen gelegen.“

In dem Zitatbeispiel wird die zweite zentrale Anforderung an die Rollengestaltung von Lehrpersonen angedeutet: Als Mediator:in zwischen Student:in und Hilfeleistungen zu agieren. Dass Hochschullehrende Mediator:innen, also Bindeglied zwischen studentischen Bedarfen und weiteren Stellen der Hochschule sind oder sein sollen, findet sich als reguläres Anliegen in den Handlungsempfehlungen der sozialen und gesundheitsbezogenen Leistungsträger der Hochschulen ebenso wie in der gesetzlichen Fürsorgepflicht für angestellte Hochschullehrende wider. Welche Handlungen und Handlungspflichten die Rolle des:der Mediator:in ausfüllen, hängt von zahlreichen Faktoren ab und umschließt, wie in dem o.g. Beispiel, Hinweise auf Ansprechpersonen zu geben, aber auch Fälle der schwerwiegenden Diskriminierung und sexuelle Belästigung und Gewalt umgehend an das Rektorat und die offiziellen Ansprechpersonen zu melden (s. Rektorat der Universität Stuttgart, 2022).

Das wesentliche Moment im Spektrum der verschiedenen Anforderungen, Vorstellungen und Verständnisse eines Mediator:innenauftrags für Dozierende lässt sich so begreifen, dass Hochschullehrende mit Kompetenzen bemächtigt werden, die es ihnen ermöglichen Studierenden bestimmten Schutz und Hilfeleistung zuteilwerden zu lassen. Dies kann durch das Informieren zum Tätigkeits- und Verantwortungsverständnis der eigenen Person und den weiteren Organen der Hochschule proaktiv und präventiv vollzogen werden. Dabei wird zwar das Aufkommen von und Konfrontation mit Krisen nicht verhindert, es werden jedoch günstige Bedingungen für einen erfolgreichen Hilfeverlauf geschaffen und ein Einfluss auf das Narrativ zum Umgang mit individuellen Krisen genommen. Sind Lehrende damit konfrontiert auf eine Krisen-Beobachtung ad hoc reagieren zu müssen, stellt dies mit der Anforderung im Affekt die richtige Entscheidungen zu treffen eine besondere Herausforderung dar, wenngleich sich die Rolle als übermittelende:r Akteur:in nicht verändert ….

Informierte Akteure treffen informierte Entscheidungen

… von besonderer Bedeutung ist dabei jedoch, dass Kompetenzen für eine wirksame Begleitung bzw. Übermittlung ad hoc abrufbar sind. Dies setzt ein Verständnis für individuelle Krisen sowie Wissen über den Zugang zu Hilfepersonen und -einrichtungen voraus. So geht es darum, das Anliegen, welches von der betroffenen Person selbst oder durch Kolleg:innen als Krise benannt wurde, auch als solches nachzuvollziehen. Dies ist auf die einfache Gegebenheit zurückzuführen, dass Erfahrungen immer subjektiv sind und insbesondere, wenn es um die Zuträglichkeit bestimmter Erlebnisse und Umstände geht, die Deutungshoheit bei der betroffenen Person liegt. Innerhalb der vermittelnden Hilfehandlung sind der Fall und dessen Eigenschaft als Krise also untrennbar, auch wenn die Verknüpfung im Widerspruch zu dem Wissen oder dem eigenen Dogma von Vernunft der Lehrperson steht. Ihr obliegt somit nicht bspw. die Einordnung der betroffenen Person einer Erfahrung als Diskriminierung zu hinterfragen.

Gleichsam stellt aber auch das Validieren einer Erfahrung keine förderlichen Bezugnahme bzw. einen verstehenden Umgang dar. So kann ein „positiver“ wertender Bezug eine Involvierung in den Fallverlauf zur Folge haben bei dieser die Lehrperson z.B. für den Ausgang einer (Nicht-)Hilfeleistung verantwortlich gemacht oder die Fallbeurteilung der Fachstelle beeinflusst wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lehrende empathisch sowie urteilsfrei auf individuelle Krisen reagieren können, erhöht sich anzunehmend dann, wenn diese mit Wissen über die gegenwärtigen Lagen der Studierenden ausgestattet werden. Anhand des vereinfachten Merksatzes lässt sich zunächst die grundlegende Haltung und Handlung nachvollziehen, die sich in Reaktion auf eine Krisenbeobachtung anwenden lassen:

„Ich verstehe Ihre Lage und was das für Sie bedeutet und finde es auch einen guten und wichtigen Schritt, dass sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Ich denke, dass ich Ihnen am besten damit helfe, wenn ich Sie mit Stelle XY in Verbindung setze.“

In dem zweiten Satz wird der weitere Kernaspekt für Hilfereaktionen deutlich, das Wissen über den Zugang zu einer Hilfeleistung. Dabei ist die Anforderung bezüglich des Zugangs hervorzuheben. Zwar ist ein Wissen über Hilfestellen fundamental für eine sinnvolle Bezugnahme zu den Bedarfen Studierender, welches u.a. durch den regen Stellenwechsel im Hochschulbetrieb von einer großen Organisation in die Nächste mit einem nicht unerheblichen Aufwand und in Eigeninitiative erarbeitet werden muss. Für eine krisenbelastete Person stellt die Kontaktaufnahme mit den entsprechenden Stellen dennoch eine größere Herausforderung dar, als es sich für die Mehrheit der Lehrpersonen darstellt. Dies bedeutet nicht, dass Lehrende, weil es ihnen vermeintlich leichter fällt, nun bspw. eine Therapieplatzsuche übernehmen müssten. Innerhalb der Hochschulorganisation folgt jedoch, bspw. auf den Eingang einer Nachricht von einer Mail-Adresse einer Lehrperson, eine andere (schnellere) Reaktion als auf die Nachricht von einer studentischen Mail-Adresse (wobei es hier sicherlich auch gegenläufige Erfahrungswerte gibt).

In der Annahme, dass eine direktere Kommunikation zwischen Dozierenden und weiteren Stellen einer Hochschule besteht (durch ein kollegiales Verhältnis, denselben Büro-Flur, gemeinsame Teilnahmen an Dienstversammlungen etc.), oder sich diese zumindest durch einen ähnlichen Berufsalltag enger zueinander verhalten, erscheint der Kontakt niedrigschwelliger. Ferner begrenzen komplexe Krisen i. d. R. das Handlungsumfeld auf Bereiche, die der betroffenen Person vertraut und bekannt sind, da der Hauptanteil der eigenen Ressourcen von der Krise vereinnahmt bzw. für die Alltagsbewältigung verwendet werden. Dass sich Studierende an Lehrpersonen auf der Suche nach Hilfe wenden, kann seinen Ursprung somit auch darin haben, dass andere Personen und Stellen in der jeweiligen Lebenslage nicht erreicht werden können. Dies bedeutet nicht, dass Lehrende für den Ausgang eines Hilfeverlaufes verantwortlich sind, sie beeinflussen diesen jedoch maßgeblich. 

Diese Schritte sind hilfreich:

  • Bewusstwerdung der eigenen (Mediator:innen)Rolle
  • das Schaffen von Rollenklarheit
  • Transparenz/Erwartungsmanagement
  • Kennen und Verbreiten von Hilferessourcen
  • Sensibilität gegenüber dem subjektiven Problemempfinden

Das sollte vermieden werden:

  • den Fall ignorieren
  • die Rolle eines:r Therapeut:in einnehmen
  • ungefragte Ratschläge erteilen
  • Diagnosen stellen
  • Unterstellungen äußern
  • die Legitimation der Belastung hinterfragen

Krisenwegweiser für komplexe Fälle:

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2023) Die Studierendenbefragung in Deutschlad: 22. Sozialerhebung. Die Soziale und Wirtschaftliche Lage der Studierenden in Deutschland 2021

Kosyluk, K.A.; Conner, K.O.; Al-Khouja, M.; Bink, A.; Buchholz, B.; Ellefson, S.; Fokuo, K.; Goldberg, D.; Kraus, D.; Leon, A.; et al. Factors predicting help seeking for mental illness among college students. J. Ment. Health 2021, 30, 300–307.

Schuhr, J., Brock, T. (2024) Gesundheitsstandort Hochschule: Welche Herausforderungen und Chancen bieten digitale Lehrräume für die psychosoziale Gesundheit und Diversität von Studierenden? In: Witt et al. (Hg) Diversität und Digitalität in der Hochschullehre. Transcript Verlag, Bielfeld. 85-102 (Erscheint am 27.08.2024)

Autor

Jan Schuhr (er/ihm), Soziologe M.A. am Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung an der ehs Dresden. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt ENHANCE (Mental Health im Kontext von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen) und Lehrbeauftrager (obA) an der Evangelischen Hochschule Dresden. Zu den aktuellen Untersuchungsinteressen gehören Fragen der Gesundheits-, Organisations- und Digitalisierungssoziologie sowie Empirische Forschungsstrategien bei der Betrachtung sozialer Ungleichheiten

Dieser Blogbeitrag ist Teil 4 der Blogreihe “Tool-Box zu Student Wellbeing im digitalen Zeitalter”. Diese ist in Kooperation des Projektes ENHANCE (Mental Health im Kontext von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen) an der EHS Dresden mit dem HFD-Thinktank Well-Being im digitalen Zeitalter an Hochschulen unter Leitung von Tina Basner entstanden. Teilen Sie gerne über die Kommentarfunktion mit uns und der HFD-Community Ihre Ideen oder kontaktieren Sie uns per E-Mail unter tina.basner@che.de.

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