TEST : Blended Narratives – Ein Lehransatz für die digitale Zukunft
TEST : Blended Narratives – Ein Lehransatz für die digitale Zukunft
22.11.24Die Frage nach attraktiven Lehrveranstaltungen stellt sich im Zuge der Digitalisierung an jeder Universität neu. Das Team der didaktischen Beratung am Prorektorat Studium und Lehre der Universität St. Gallen hat dafür ein neues, innovatives und polyvalentes Lehrformat erstellt: TEST – Towards Experience-based Storytelling in Teaching. Dieses Konzept bietet ein flexibles Setting für digitale, hybride oder präsenzbasierte Lehre. Im Zentrum steht die Verbindung von persönlichen Erfahrungen und Elementen des Storytelling, um Dozierenden einen Raum zu schaffen, um ihre Leidenschaft für das Lehren neu zu entfalten.
Genese
Im Zuge unserer Tätigkeit als didaktische Berater:innen an der Universität St. Gallen (HSG) kam eine Professorin auf uns zu und erzählte uns von ihrem Kurs: eine große Vorlesung mit mehr als 350 Studierenden und den einhergehenden Begleiterscheinungen, z. B. hohe Absenzraten, wenig motivierte Studierende und eine eher einseitige Kommunikation. Was für uns aber am wichtigsten war, war eine kurze Nebenbemerkung: Wieso mache ich das eigentlich? Wieso halte ich diese Vorlesung? Es zeigte sich also, dass an uns ein Problem herangetragen wurde, das nicht nur ein klar abgrenzbares hochschuldidaktisches Phänomen umriss, sondern auch eine negative emotionale Rückkopplung auf die Lehrperson zeigte. Es wurde uns in diesem Moment klar, dass wir den traditionellen hochschuldidaktischen Instrumentenkasten erweitern wollten. In diesem speziellen Fall sollten ausnahmsweise nicht die Studierenden im Mittelpunkt der Überlegung stehen (dies war bei der Professorin ohnehin der Fall), sondern die Lehrperson selbst und der Charakter der Vorlesung als Lehr-Lern-Format.
Problemstellung
Was macht eine Vorlesung, einen Kurs oder ein Seminar zu einer bleibenden und begeisternden Lernerfahrung? Was hebt eine Lehrveranstaltung aus der Vielfalt mittlerweile frei zugänglicher Wissensvermittlungsmedien, z. B. über Youtube oder Wissenspodcasts auf Spotify heraus?
Im Zuge der didaktischen Beratung an der Universität St. Gallen (HSG), Schweiz, in der dieses Konzept entstanden ist, wurde in den letzten Monaten von Dozierenden nicht nur einmal nach der Unverwechselbarkeit von Lehrveranstaltungen gefragt. In diesem Kontext positioniert sich das im folgenden skizzierte Konzept eines Experience-based Storytelling in Teaching mit der Leitfrage nach dem Ort der Universität (Derrida, 2002).
Man kann die eingangs gestellten Fragen mit den Instrumenten der Hochschuldidaktik beantworten, also Abläufe konkretisieren, Lernziele schärfen oder an den Prüfungsbedingungen arbeiten. So wichtig und notwendig diese Arbeit ist, so sehr schien sie uns an der eigentlichen Fragestellung vorbeizugehen. Denn sie ist berechtigt: Insbesondere bei Kursen, die Grundlagenwissen vermitteln, ist keine inhärente Relevanz gegeben, vor allem dann nicht, wenn tatsächlich die Prüfung im Zentrum des didaktischen Designs steht (Oldfield et al., 2019). Die damit verbundenen Phänomene, wie z .B. hohe Absenzraten, mangelnde Vorbereitung der Studierenden und Innovationsmüdigkeit der Dozierenden, speisen sich damit aus derselben Quelle: einem Überangebot von austauschbaren, statischen Inhalten. Diese – zugegebenermaßen – nicht einfache Problemstellung war der Ausgangspunkt des folgenden Designs, das wir hiermit zur Diskussion stellen. Dabei erhebt das Konzept weder einen Anspruch auf Neuheit (zur Übersicht: Landrum et al. 2019) noch auf Vollständigkeit, sondern soll vor allem als eine Einladung zum Austausch verstanden werden.
Das Konzept TEST – Towards Experience-based Storytelling in Teaching
Pivot Point der Lehrveranstaltung ist: im Zentrum soll künftig ein authentisches, transformatives und narrationszentriertes Lernerlebnis stehen, das in verschiedenen Lehrkontexten anwendbar ist (Polyvalenz). Dies wird durch die stärkere Einbindung eines (des einzigen?) unverwechselbaren Unterscheidungskriteriums erreicht: der jeweiligen Lehrperson. Während Methoden, Inhalte und Lehrdesign im weitesten Sinne nie einzigartig oder ununterscheidbar sein können, stehen die spezifische Erfahrung und das praktische Wissen der Lehrperson von nun an im Mittelpunkt der Lehrveranstaltung.
Entsprechend wird das Konzept von der zentralen Frage geleitet: Was macht eine Vorlesung unverwechselbar? Der Schluss, der daraus gezogen wurde, ist: die authentische Lehrperson, die aus ihrer langjährigen beruflichen und wissenschaftlichen Praxis schöpfen kann und damit einen Mehrwert für die Studierenden bildet.
Wie würde man eine anerkannte Lehrperson am liebsten hören wollen? Repetitiv einen Lehrbuchinhalt wiedergebend? Oder doch eher dieses Wissen mit der Erfahrung verknüpfend?
Dieses Vorgehen wird daher als erfahrungsbasiertes Lehren (und Lernen) bezeichnet, was von Dozierendenseite nicht nur die Aneinanderreihung von Anekdoten bezeichnet, sondern die persönliche Reflexion über Stoff und Inhalt profiliert. Für die Studierenden werden komplementäre Kompetenzaneignungsprozesse in den Mittelpunkt rücken: Was sind also die wichtigen Inhalte, die man im praktischen Einsatz tatsächlich in die Anwendung bringen wird? Welche Fähigkeiten braucht es neben einer umfangreichen Wissensaneignung? Kurz gefragt: Was brauchen Studierende, um ihre Zukunft zu gestalten? Damit liegt die Besonderheit des Ansatzes in der impliziten ‘Re-humanisierung’ der Lehrinstanz, denn die Lehrperson kann im Rahmen des Storytelling auch über Fehler sprechen, Unzulänglichkeiten einräumen und vor allem paradigmatisch die Verbindung von Theorie und Praxis leisten.
Entwurf: Lehrdesign
Vorbereitungsphase/Blended Learning/Selbststudium (wöchentlich):
Erstellung umfangreicher Lehrvideos, in denen die Studierenden die Grundlagen des Faches beigebracht bekommen, Anreicherung mit verschiedenen Videos, Graphiken und Medien
Vorteil: Wiederverwendbarkeit nach hohem Initialaufwand
Videos werden im Laufe des Semesters auf der jeweiligen Lernplattform hochgeladen; diese Lerneinheiten werden mit einem Quiz inkl. automatisierter Auswertung abgeschlossen und geben damit als formative Bewertung eine Rückmeldung über den Lernstand
Kontaktphase (digital oder in Präsenz) Vorlesung (wöchentlich):
- Storytellingpraxis
- Kontextualisierung des Lerninhalts durch die Lehrperson
- Anreicherung durch persönliche Erfahrungswerte
- Aporie (Unentschiedenheit) der Lösung
- Studierende werden in die Lage versetzt, aus der Verknüpfung von Gehörten und Gelesenen, eigenständige Lösung für einen realen Fall zu finden
- Arbeit in losen Gruppen: beispielsweise Durchführung von Interviews der Lehrperson durch Studierendenteams
Kontaktphase Übung (wöchentlich):
- Besprechung der Fall-Lösung
- Vertiefung des Gelernten (deep learning)
- alternative Lösungsmöglichkeiten
Mittels eines Transfers des Konzepts des didaktischen Sechsecks (Meyer/Mürmann) auf den vorliegenden Kontext der Lehre auf der Basis von experience-based storytelling ergeben sich folgende zehn positive Impulse für die Studierenden:
10 positive Impulse für Studierende:
1. Vertiefte kognitive Verarbeitung:
Geschichten fördern die tiefere kognitive Verarbeitung, da sie Verbindungen zwischen neuen Informationen und bereits vorhandenem Wissen herstellen.
2.Nachhaltiges Erinnern:
Informationen, die in Geschichten eingebettet sind, werden aufgrund ihrer strukturierten und kontextualisierten Form besser erinnert.
3. Förderung des kritischen Denkens:
Storytelling unterstützt Studierende darin, kritisch nachzudenken, alternative Perspektiven zu berücksichtigen und komplexe Problemstellungen zu analysieren.
4. Unterstützung des interdisziplinären/interdiskursiven Lernens:
Geschichten können Konzepte aus verschiedenen Disziplinen integrieren und somit ein tieferes, ganzheitliches Verständnis fördern.
5. Erhöhung der intrinsischen Motivation:
Narrative Strukturen wecken das Interesse und die Neugier der Studierenden, was zu einer erhöhten intrinsischen Motivation führt, sich mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen.
6. Förderung der sozialen Kognition und Empathie:
Durch Perspektivwechsel, durch das Hineinversetzen in verschiedene Charaktere und Situationen entwickeln Studenten ein besseres Verständnis für soziale Dynamik und vertiefen empathische Kompetenzen
7. Verbesserung der Analysekompetenzen:
Storytelling fördert die Fähigkeit, komplexe Ideen klar und prägnant zu analysieren und zu kommunizieren.
8. Affirmation der emotionalen Bindung an das Lernmaterial:
Emotionale Engagements durch Geschichten schaffen eine stärkere Bindung an das Lernmaterial, was den Lernprozess effektiver und nachhaltiger macht.
9. Erleichterung des Transferlernens:
Durch das Verknüpfen von theoretischem Wissen mit praktischen, realen Szenarien erleichtert Storytelling den Transfer von Gelerntem auf neue Kontexte.
10. Förderung der kreativen Problemlösungsfähigkeiten:
Das Erzählen und Analysieren von Geschichten fordert kreative Denkprozesse heraus und fördert innovative Lösungsansätze für komplexe Probleme.
Ausblick
Das vorliegende Lehr-Lernkonzept hat ohne Frage erhebliche Auswirkungen sowohl auf die jeweiligen Lehrpersonen als auch auf die Studierenden und ihre Erwartungshaltungen. Der Gefahr von Unterkomplexitäten und dem Anschein, dass Lehrveranstaltungen mit hohem Storytelling-Anteilen «leichter» bzw. eine «Erzählstunde» wären, muss dabei vor allem begegnet werden (Landrum et al., 2019). Selbstverständlich muss sein, dass TEST-basierte Lehrveranstaltungen nichts an ihrer Wissenschaftlichkeit einbüßen, sondern allein die Präsentation des zu vermittelnden Stoffs neu justieren. Freilich ist eine solche Änderung nicht nur marginaler Natur, sondern bedingt ein verändertes/veränderndes Verständnis von Lehren und Lernen, insbesondere bei der Konstruktion der Lehrinhalte und der Lehrperson selbst: Die Lehrperson entwickelt sich von einem Wissensvermittler/in zu einer/einem Geschichtenerzählerin, die/der komplexe Inhalte durch narrative Methoden vermittelt. Die Lehrperson wird eher zu einem Facilitator und Mentor, der den Lernprozess durch inspirierende Geschichten und praktische Beispiele unterstützt. Dies steigert, so unsere (noch) theoriebasierte Annahme (Draper et al., 2015), die Motivation der Lehrperson und damit auch die generelle Innovationsfreudigkeit. Notwendig zieht dies wiederum eine verstärkte Reflexion über Lehr- und Lerninhalte nach sich, die zu einer kontinuierlichen Anpassung des Designs führen wird.
Ob sich diese Erwartungen auch schlussendlich in der Praxis zeigen, muss sich in den kommenden Semestern beweisen. Es ist jedoch bereits evident, dass die aktuellen Transformationen zu einem grundlegenden Nachdenken über die akademische Lehre geradezu einladen und neue Konzepte entstehen, die die Präsenz- und Hybridlehre nicht neu erfinden, aber den Weg bereiten für innovative Lehrveranstaltungen, die ebenso begeisternd wie einzigartig sind und das Erleben in den Mittelpunkt rücken.
Literatur
Derrida, J. (2002). Die unbedingte Universität (S. Lorenzer, Trans.). Suhrkamp.
Draper, M., Polizzi, D., Sturtevant, D., & McGraw, J. (2015). Phenomenology of the Story in Dialogue: Narrative as Pedagogy in Psychology. In K. Brakke & J. A. Houska (Eds.), Telling stories: The art and science of storytelling as an instructional strategy (pp. 116-126).
Landrum, R. E., Brakke, K., & McCarthy, M. A. (2019). The pedagogical power of storytelling. Scholarship of Teaching and Learning in Psychology, 5(3), 247-253.
Oldfield, J., Rodwell, J., Curry, L., & Marks, G. (2019). A face in a sea of faces: exploring university students’ reasons for non-attendance to teaching sessions. Journal of Further and Higher Education, 43(4), 443-452. https://doi.org/10.1080/0309877x.2017.1363387
Stalder, F. (2021). Was ist Digitalität? In J. Noller & U. Hauck-Thum (Eds.), Was ist Digitalität? Philosophische und pädagogische Perspektiven (pp. 3-7).
Autor:innenprofile
Dr. Hanne Birk
Nach dem Abschluss der Promotion im Bereich der kulturwissenschaftlichen Anglistik (Universität Gießen) und mehreren Jahren Forschungserfahrung in London (U.K.) und Kreta, folgten über sechs Jahre Lehr- und Forschungstätigkeit als postdoc an der Universität Bonn mit einer Weiterbildung im Bereich Hochschuldidaktik. Derzeit ist Hanne Birk als In-house Kontaktperson für didaktische Fragestellungen insbesondere im Rahmen von Lehrinnovationsprojekten und als teaching consultant im Center for Curriculum and Teaching Development (CAT) an der Universität St. Gallen, Schweiz, tätig.
Dr. Sebastian Meisel
Promotion in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft/Philosophie (Universität Bamberg) und über viereinhalb Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Philologie und Philosophie der Universität Bamberg. Seit 2023 an der Universität St. Gallen als In-house Kontaktperson für didaktische Fragestellungen und Tätigkeit im Bereich teaching support und coaching, seitdem Mitarbeit in zahlreichen Projekten zur Steigerung der Lehrinnovation und Lehrentwicklung. Im Zentrum steht dabei eine große Leidenschaft für die Transformation der Lehre unter den Bedingungen des Digitalen.