KI und akademische Schreibpraktiken – Video Killed the Radio Star?

KI und akademische Schreibpraktiken – Video Killed the Radio Star?

30.10.23

Text generierende und analysierende KI-Tools verändern akademische Schreibpraktiken.  Diese Entwicklung wirft drängende Fragen auf: Welche Formen von Schreiben und Lesen werden in Zukunft im wissenschaftlichen Kontext (noch) wichtig sein? Welche sollten noch bzw. nun in die Lehre integriert werden? Dr. Andrea Karsten zeigt auf, wie Prinzipien der fachsensiblen Schreibdidaktik dabei helfen können, den Einsatz von KI im Schreibprozess in der eigenen Lehre zu reflektieren. 

Die aktuelle Debatte, die seit der Veröffentlichung von ChatGPT noch einmal an Fahrt aufgenommen hat, erinnert mich an den bekannten Song „Video Killed the Radio Star“. The Buggles besingen darin die damals in der Musikbranche in der Luft liegende große mediale Umwälzung durch das Aufkommen von Musikvideos. 1981 war „Video Killed the Radio Star“ der erste auf MTV gesendete Videoclip. In der Debatte der letzten Monate meine ich einen ähnlichen Abgesang auf die Relevanz akademischer Texte allgemein und insbesondere von Studierenden zu hören. Ich habe mir allerdings erlaubt, ein Fragezeichen an den Songtitel anzuhängen, denn ich glaube: Was wir über das gute alte Radio – das Schreiben an Hochschulen ohne KI – wissen, gibt auch für neue Praktiken KI-unterstützten Schreibens und Lesens Orientierung und kann verhindern, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten.

Die folgenden fünf schreibdidaktischen Überlegungen in Form von Sprichwörtern und Maximen stammen aus der Zeit vor der breiten Verfügbarkeit von KI-Tools zur Texterzeugung und -auswertung. (Bei uns an der Universität Paderborn hängen diese Überlegungen seit einigen Jahren in Form bunter Plakate auf den Fluren aus.) Sie lassen sich wunderbar auf eine Zeit des Schreibens und Lesens an Hochschulen und in der Wissenschaft übertragen, die von der Präsenz von KI geprägt ist.

Aus dem Nähkästchen plaudern: Ich mache meine eigene fachliche Schreib- und Lesepraxis für Studierende transparent.

Schreiben und Lesen – auch in KI-unterstützten Formen – sind Kulturtechniken (Krämer, 2023). Diese Kulturtechniken prägen sich in Form vielfältiger Schreib- und Lesepraktiken aus, die in akademischen Praxisgemeinschaften entwickelt werden (Lea & Street, 2006). Enkulturation in diese Gemeinschaften geschieht maßgeblich in Form von situiertem und relativ ungesteuertem Lernen durch Teilnahme an den Praktiken der entsprechenden Gemeinschaft (Lave, 1991). Schreiben ist also fach- und kontextspezifisch, keine generische Schlüsselkompetenz (Carter, 2007; Scharlau et al., 2021). Für die Schreibdidaktik an Hochschulen bedeutet dies, dass Studierende Zugang zu den ,echten‘ literalen Praktiken ihres jeweiligen Feldes brauchen – gerade dann, wenn sich diese im Lichte von KI-Tools rasant ändern. Das heißt, dass wir also zunächst auf die KI-unterstützte Schreib- und Lesepraxis der Lehrenden – und zwar in ihrer Rolle als Forschende – blicken und diese explizieren müssen, um gute Rahmenbedingungen für das Lernen der jeweils relevanten kontextspezifischen Academic Literacies von Studierenden zu schaffen (vgl. Lillis, 2003).

Den Nagel auf den Kopf treffen: Ich entscheide mich für klare schreibbezogene Lernziele und mache sie meinen Studierenden gegenüber transparent.

Nicht nur im Bereich fachlicher Inhalte, sondern auch im Bereich fachlicher Schreibpraktiken können Lehr- und Lernziele definiert werden (Bean, 2011). Im besten Falle referieren diese Lernziele auf Praktiken des wissenschaftlichen Arbeitens, die Studierenden nicht nur für ihre Zeit an der Hochschule, sondern auch später in ihren möglichen Berufsfeldern die Kommunikation über fachliche Inhalte überhaupt ermöglichen. Wozu wird im jeweiligen Bereich (auch) KI-unterstützt gelesen und geschrieben? Was kennzeichnet die Lese- und Schreibpraxis des Fachs – was kann nicht so einfach anderswo gelernt werden? Welche Formen des Lesens und Schreibens waren bisher und sind in Zukunft für ein Fach wichtig und aus welchen Gründen? Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, inwiefern Studierende genau in diesem Fach zu AI Literates ausgebildet werden können und müssen.

Das Pferd von hinten aufzäumen: Zuerst definiere ich die schriftliche Prüfungsleistung, dann plane ich vorgelagerte, aufeinander aufbauende Schreibaufgaben.

Im Einklang mit einem Verständnis von Schreiben als kultureller Praxis können Schreiben und Lesen in schreibintensiver Lehre als Lerntätigkeiten etabliert werden (Lahm, 2016). Im Sinne des Constructive Alignments werden hierfür Lernziele, Lerntätigkeiten und Prüfungsformate aufeinander abgestimmt (Biggs & Tang, 2011). Dabei entwickeln Lehrende nach dem Prinzip des Reverse Engineering – ausgehend von der Definition einer abschließenden und in der Regel prüfungsrelevanten Schreibaufgabe (z.B. Hausarbeit, Portfolio, Präsentation, Klausur) – mehrere vorgelagerte Schreibaufgaben, die schrittweise komplexer werden (Bean, 2011). KI-Unterstützung kann und sollte hier eingebaut werden, sofern sie für die entsprechende fachliche Schreibpraxis eine Rolle spielt. Gleichzeitig wird Schreiben als fach- und kontextspezifischer heuristischer Praxis Platz eingeräumt – eine Funktion, die nur von eigenem Schreiben und Lesen übernommen werden kann. Disziplin- und methodentypische Vor- und Nebentexte ermöglichen Studierenden forschendes Lernen (Huber et al., 2009), z.B. in Form von Schreib- bzw. Forschungsjournalen, Versuchsprotokollen oder Letter-to-the-Editor-inspirierten Texten.

Dem Gaul ins Maul schauen: Wissenschaftliche Literatur bespreche ich nicht nur inhaltlich. Ich lasse sie auch als Text analysieren.

Um die fachspezifische Funktionalität von wissenschaftlichen Texten zu verstehen, ist es aufschlussreich, publizierte Texte im entsprechenden Bereich unter die Lupe zu nehmen. Studierende lernen so, Texte als Diskursbeiträge zu verstehen, die Forschung innerhalb eines wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen positionieren (Graff & Birkenstein, 2014). Rhetorisch-kommunikative Strategien im Rahmen bestimmter Genres können als solche aufgezeigt (Swales, 1990), disziplintypische sprachliche und textuelle Formen identifiziert (Hyland, 2005) und die Funktion und Spezifik verschiedener wissenschaftlicher und wissenschaftsnaher Genres kennengelernt werden (Dressen-Hammouda, 2008). Dies unterstützt einen kritischen Blick auf selbst geschriebene Texte, gerade auch dann, wenn in ihrer Entstehung KI-Tools zum Einsatz gekommen sind. Rein KI-generierte Texte in der Lehre zu analysieren, ist aus dieser Perspektive weniger erfolgsversprechend als dies mit fachlichen Texten mit und ohne KI-Beteiligung zu tun.

Die Mäuse auf dem Tisch tanzen lassen: Ich gehe auch mal raus und gebe Studierenden die Gelegenheit zum Austausch und zur eigenen Arbeit mit Texten.

Studierende brauche auch Raum für eine nicht normative und nicht überwachte Weiterentwicklung ihrer Schreib- und Lesepraktiken. So werden einerseits vielfältige Lerntätigkeiten ermöglicht, die zumindest teilweise in einem bewertungsfreien Raum stattfinden. Noch entscheidender aber ist, dass die Enkulturation in fachliche Praktiken Lernende und Gemeinschaft gleichermaßen verändert (Lea & Street, 2006; Lillis, 2003). Besonders wichtig ist dies in Zeiten, in denen etablierte Praktiken in besonderem Maße herausgefordert werden. Lernende können hier wichtige und auch kritisch-herausfordernde Impulse für akademische Gemeinschaften geben, die durch Konventionalisierungs- und Normierungstendenzen notwendigerweise träge Institutionen sind.

Meine wesentliche Folgerung aus diesen fünf Überlegungen und Handlungsansätzen ist, dass die Entwicklung KI-unterstützter Schreib- und Lesepraxis expliziert und reflexiv begleitet werden muss. Denn: Diese Entwicklung wird in unterschiedlichen Feldern verschieden ausfallen, abhängig von den Zielen, die eine akademische Praxisgemeinschaft mit dem Verfassen und Rezipieren wissenschaftlicher und wissenschaftsnaher Texte verfolgt. Die aktuellen Debatten um KI und akademische Schreibpraktiken referieren oft auf ein sehr enges Bild von Schreiben als fach- und domänenübergreifende Schlüsselkompetenz und als Leistung des Individuums. Problematisch ist, dass hierbei das Spezifische akademischer Praktiken in unterschiedlichen Fachkulturen aus dem Blick gerät. Ein weiteres Bild von akademischem Schreiben als soziokultureller Praxis (Prior, 2006) erlaubt schnelleres lokales Handeln und eröffnet gleichzeitig größere schreibdidaktische Handlungsspielräume.

Literatur

Bean, J. C. (2011). Engaging ideas. The professor’s guide to integrating writing, critical thinking, and active learning in the classroom (2nd ed.). Wiley.

Biggs, J., & Tang, C. (2011). Teaching for quality learning at university. What the student does (4th ed.). McGraw-Hill.

Carter, M. (2007). Ways of knowing, doing, and writing in the disciplines. College Composition and Communication, 58(3), 385-418.

Dressen-Hammouda, D. (2008). From novice to disciplinary expert: Disciplinary identity and genre mastery. English for Specific Purposes, 27(2), 233-252.

Graff, G. & Birkenstein, C. (2014). They say/I say: The moves that matter in academic writing (3rd ed.). Norton.

Huber, L., Hellmer, J., & Schneider, F. (Hrsg.). (2009). Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen. Universitätsverlag Webler.

Hyland, K. (2005). Stance and engagement. A model of interaction in academic discourse. Discourse Studies, 7(2), 173-192.

Krämer, S. (2023). Chat GPTs als eine Kulturtechnik betrachtet – eine philosophische Reflexion. prae|faktisch.de Ein Philosophieblog. https://www.praefaktisch.de/postfaktisch/chat-gpts-als-eine-kulturtechnik-betrachtet-eine-philosophische-reflexion/

Lahm, S. (2016). Schreiben in der Lehre. Handwerkszeug für Lehrende. Verlag Barbara Budrich.

Lave, J. (1991). Situated learning in communities of practice. In L. B. Resnick, J. M. Levine, & S. D. Teasley. (Eds.), Perspectives on socially shared cognition (pp. 63-82). APA.

Lea, M. & Street, B. V. (2006). The ‘Academic Literacies’ model. Theory and applications. Theory into Practice, 45(4), 368-377.

Lillis, T. (2003). Student writing as ‘Academic Literacies’. Drawing on Bakhtin to move from critique to design. Language and Education, 7(3), 192-207.

Prior, P. (2006). A sociocultural theory of writing. In C. A. MacArthur, S. Graham, & J. Fitzgerald (Eds.), The handbook of writing research (pp. 54-66). Guilford Press.

Scharlau, I., Haacke, S., Karsten, A. & Lahm, S. (2021). Schreiben als Schlüsselkompetenz? In R. Kordts-Freudinger, N. Schaper, A. Scholkmann, B. Szczyrba (Hrsg.), Handbuch Hochschuldidaktik (S. 129–138). utb.

Swales, J. (1990). Genre Analysis. English in academic and research settings. Cambridge University Press.

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