Gender-/Diversitätsreflexivität in der digitalen Lehre: Grundlage für eine gender- und diversitätsreflektierende (digitale) Lehre

Gender-/Diversitätsreflexivität in der digitalen Lehre: Grundlage für eine gender- und diversitätsreflektierende (digitale) Lehre

10.11.20

Erdbeere fällt in Wasserglas. Das herausspritzende Wasser ist zu sehen.

Wie können unbewusste und implizite Vorannahmen durch Reflexionspraxen bewusst gemacht werden und damit der Auftrag für Gleichbehandlung in der digitalen Lehre verwirklicht werden? Die Autor*innen Dilara Kanbiçak, Lea Belz und Maria-Luisa Barbarino stellen in diesem Beitrag die vielschichtige Bedeutung von Reflexion dar und geben durch ein Fragenset eine Hilfestellung um Reflexivität im Lehralltag fest zu verankern. 

Netzwerk Gender und Diversity in der Lehre 

Das Netzwerk Gender und Diversity in der Lehre ist ein autonomes Netzwerk von Personen, die strategisch, theoretisch und/oder operativ im Bereich Gender und Diversity in der Hochschullehre arbeiten und sich untereinander vernetzen und kontinuierlich zusammenarbeiten wollen. Das Netzwerk dient dem Informationsaustausch sowie der inhaltlichen und strategischen Zusammenarbeit .

Gender-/Diversitätsreflexivität

Gender-/Diversitätsreflexivität verstehen wir als Querschnittsaufgabe, als die systematische Wahrnehmung und Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenssituationen und -bedingungen von Menschen. Gender-/diversitätsreflektierend zu lehren heißt, nicht von einem vermeintlichen „Normstudenten“ auszugehen, sondern von einer Vielzahl an unterschiedlich positionierten Personen, die sehr verschiedene Fähigkeiten, Ressourcen, Vorkenntnisse, Erfahrungen und Bedürfnisse mitbringen. Das hängt auch mit Erfahrungen von Diskriminierung und Privilegierung in gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen zusammen. Diese strukturellen Ungleichheiten und individuellen Verschiedenheiten gilt es wahrzunehmen und sie in der Gestaltung der Lehre zu berücksichtigen. Es bedeutet auch, die Inhalte und Methoden der eigenen Lehre zu reflektieren und anzupassen, um allen Beteiligten die gleichen Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen.

1 (Selbst-)Reflexion als Grundlage für eine gender- und diversitätsreflektierende (digitale) Lehre 

Das lateinische Wort „reflektere“ bedeutet widerspiegeln und kann als „ein bewusstes Überlegen bzw. Nachdenken vor, während oder nach bestimmten Handlungen oder Situationen“ (Wyss, 2008) festgehalten werden. Reflexion kann nach Christina Hager (2009) als Denkvorgang beschrieben werden, welcher das Ziel verfolgt, Erkenntnisse über bereits Vergangenes zu erlangen, um diese für zukünftiges Handeln oder Entscheidungen nutzen zu können. Insgesamt kann Reflexion ganz unterschiedliche Ziele verfolgen, zum Beispiel ein Nachvollziehen einer bestimmten Situation in Zeitlupe, ein Verstehen von Handlungsabfolgen, den eigenen Umgang mit herausfordernden Situationen zu analysieren oder die Verbesserung der eigenen Lehre. 

Es gibt unterschiedliche Formen der Reflexion: Die Selbstreflexion als Nachdenken im Dialog mit sich selbst sowie die Fremdreflexion als Nachdenken im Dialog mit anderen Personen. Beide Formen der Reflexion können den Fokus auf gender- und diversitätsreflektierende (digitale) Lehre legen. Innerhalb des Reflexionsprozesses kann dieser offen (– sprich nach eigenen Kriterien) oder geschlossen (– nach vorgegebenen Kriterien) gestaltet werden. Der Zeitpunkt der Reflexion ist je nach Rahmenbedingungen variabel, so kann er in der Handlung oder über die Handlung, also danach, praktiziert werden.

„Wer nicht weiß, was er gut macht und warum es gut ist, kann seine Stärken nicht ausbauen (…)“ (Hager 2009). Dies ist ein wichtiger Grundsatz für alle Lehrenden. Dass problembehaftete Situationen, Eskalationen oder misslungene Wissensvermittlungen reflektiert werden, um Veränderungen anzustreben, ist weitestgehend bekannt und akzeptiert. Doch dass Reflexion stetig praktiziert werden sollte, um herauszufinden, welche Bedingungen positive oder als normal identifizierte Situationen hervorgerufen haben, ist weniger bekannt. In Bezug auf gender- und diversitätsreflektierende Lehre bedeutet dies z.B. die Gründe für den positiven Sitzungsverlauf oder die rege Diskussion zu identifizieren, um diese im besten Fall wiederholbar zu machen. 

Erdbeere fällt in Wasserglas. Das herausspritzende Wasser ist zu sehen.

Zusätzlich kann der Anspruch einer gender- und diversitätsreflektierenden Hochschullehre, die Anregung bieten, die eigene Lehre zu reflektieren. Mit diesem Schwerpunkt können bestimmte Kriterien als Reflexionsgrundlage die Analyse bestimmter Situationen erleichtern. Grundlegend notwendig für die Reflexion der eigenen (digitalen) Lehre sind folgende Rahmungen zu bedenken: Wer sind die beteiligten Personen? Wie verhalten sich diese? Wie ist mein eigenes Verhalten? Um welche Situation/Rahmenbedingung handelt es sich? Weiterführende Schwerpunktfragen mit dem Fokus auf eine gender- und diversitätsreflektierende (digitale) Lehre finden sich in Abschnitt 5.

Einfluss auf unsere Lehre haben allerdings nicht nur offensichtliche Bedingungen, wie Rahmung, Modul, Raum, Zielgruppe usw., sondern auch unbewusste Faktoren, die über Reflexion offengelegt werden können. Zum Beispiel die individuelle Bildungsbiografie, welche die (unbewusste) Wahrnehmung von Differenzkategorien beeinflusst, die Ausgestaltung von Lehr-Lernsituationen, die Wahrnehmung von Ungleichbehandlung und der individuelle Umgang mit antinomischen[1] Strukturen innerhalb der Lehre und des Bildungssystems sowie die dadurch bedingte Konstruktion von Situationen als Problem-Situationen. Insbesondere im Hinblick auf gender- und diversitätsreflektierende Lehre ist es wichtig, sich dieser unbewussten Denkstrukturen und -prozesse bewusst zu werden und sie durch bewusste Reflexion zu identifizieren und offen zu legen. Dies ist relevant, weil Stereotype und Vorurteile häufig unser Verhalten gegenüber anderen Menschen lenken und beeinflussen, ohne dass uns dies bewusst ist. Stereotype decken sich häufig erst in einem selbstreflexiven Prozess auf. Im Zweifel kann dies bedeuten, dass Lehrende bestimmte Vorannahmen über alle Studierende oder über eine bestimmte Gruppe von Studierenden oder über einzelne Student*innen haben, die nichtzutreffend oder unzureichend sind.

Dies kann sich in der digitalen Lehre zum Beispiel in der stereotypen Zuschreibung äußern, dass Lehrende davon ausgehen, dass alle männlichen Studierenden keine Probleme mit dem technischen Umgang in der Online Lehre haben, Studentinnen diese Kompetenz jedoch abgesprochen wird. Entsprechende Vorannahmen oder Vorurteile können dann zu diskriminierenden Handlungen und Praxen führen, und dass auch dann, wenn es den diskriminierenden Personen nicht bewusst ist. So könnte es passieren, dass aufgrund der Vorannahme, dass Studentinnen nicht mit Technik umgehen können, diesen Lern- und Beratungsangebote gemacht werden, Studenten hingegen nicht. (Vgl. dazu Gender Bias in Abschnitt 2.)

 

2 Unbewusste Denkprozesse und ihre möglichen Folgen für die Lehre

Unbewusste und automatische Denkprozesse leiten häufig unser Handeln. Informationen über Gegenstände, Situationen, Kontextfaktoren, aber auch über Merkmale von Menschen werden häufig unbewusst und unkontrolliert abgerufen und ermöglichen somit schnelles Reagieren und Handeln. Diese kognitiven Strukturen und neuronalen Netze werden im Verlauf des Lebens erworben und sind zentral für den Menschen. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, das regelmäßig mit anderen Menschen interagiert, sind Informationen über Merkmale bestimmter Individuen oder Gruppen von Menschen wichtige Informationen für das Zusammenleben. Diese kognitiven Strukturen, in denen sozial geteilte Annahmen über Merkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen von Mitgliedern einer sozialen Kategorie bzw. sozialen Gruppe repräsentiert sind, werden als Stereotype bezeichnet (siehe Steffens und Ebert, 2016). Beispiele für solche Stereotype sind vielfältig und beziehen sich häufig auf bestimmte soziale Gruppen. Typische soziale Gruppen finden wir in den genannten Kerndimensionen von Diversität wieder: Ethnizität, Nationalität, Alter, Klasse, Religion, Weltanschauung und Geschlecht (Eckes, 2004). Immer dann, wenn es vermeintlich „offensichtliche“ bzw. sichtbare/ öffentliche Merkmale gibt, sind die Stereotype leichter abrufbar, als bei weniger sichtbaren Merkmalen. 

Frau hält Spiegel vor Gesicht

Die Tendenz zu stereotypisieren ist allgemein verbreitet und hat einen Sinn: Stereotypisierung vereinfacht die Welt. Stereotype Wahrnehmungen unterliegen in der Regel automatischen Informationsverarbeitungsprozessen. Diese automatischen Prozesse sind unbewusst, unkontrolliert und in der Regel nicht intendiert. Da Menschen kognitive „Geizkragen“ sind, ermöglicht diese automatische Verarbeitung wichtige Ressourcen zu schonen, für Prozesse die bspw. mehr Ressourcen erfordern. Dies ist effizient und effektiv. Der Rückgriff auf automatische Prozesse wird bei routinierten, geübten und leichten Aufgaben wahrscheinlicher, sowie in Stresssituationen und Situationen mit einer hohen Informationsdichte (Aronson, Wilson & Akert 2014, S. 63 ff.). Beides trifft für Lehrveranstaltungen häufig zu. Insbesondere dann, wenn Lehrenden schon lange in der Lehre tätig sind.

Verdeutlichen wir dies an einem Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie stehen als dozierende Person in einem vollen Hörsaal und versuchen jede*n Student*in, mit den je individuellen Merkmalen und Eigenschaften bewusst wahrzunehmen. Sie schauen sich jede Person an und nehmen ganz individuelle Merkmale wahr, prägen sich diese ein, überlegen wie der Name war usw. Sicherlich waren Sie schon einmal in dieser Situation. Diese Situation kann schnell aus unterschiedlichen Gründen überfordern. Noch herausfordernder wird diese Situation im digitalen Raum, in dem Lehrende die Studierenden − wenn überhaupt − nur über den Bildschirm sehen und hören. Hinzu kommt, dass in digitalen Räumen die Kontextinformationen größer und vielfältiger sind, weil z.B. die privaten Lebensräume der Studierenden sichtbar sind. Es liegt eine enorme Informationsdichte vor, die möglichst effizient und effektiv verarbeitet sein will. In solchen und ähnlichen Situationen wird es wahrscheinlicher, dass automatisch und schnell zugängliche Informationen abgerufen werden. Dies stellt an sich noch kein Problem dar. Denn eigentlich ist dieser Prozess ein sehr gesunder und menschlicher (siehe ebd.). Problematisch wird er dann, wenn die verarbeiteten Informationen zu vorurteilsbehaftetem und diskriminierendem Verhalten gegenüber bestimmten Studierenden und Studierendengruppen führen. In der Lehre sind diese nicht besonders akkuraten Informationen insbesondere auch immer dann problematisch, wenn wir davon ausgehen, dass es sich hier zudem um Lehr-Lern-Settings handelt, die in der Regel durch irgendeinen Leistungsnachweis der Studierenden definiert werden. D.h. im schlimmsten Fall haben die nicht akkurat gebildeten Informationen auch einen Einfluss auf die Leistung der Studierenden[2].

Stereotype, als kognitive Komponente von Einstellungen, werden insbesondere immer dann zum Problem, wenn die dahinterliegende Einstellung eine negative emotionale Komponente enthält (negative Vorurteile) und wenn diese benachteiligendes Verhalten auslöst (Diskriminierung). Dies gilt es immer zu vermeiden, und insbesondere in Situationen in denen Menschen von einer anderen Person abhängig sind, weil sie beispielsweise von dieser benotet werden. Wichtig ist zu betonen, dass das hier beschriebene Phänomen keine Ausnahme ist. Diese automatischen Prozesse können auch zu Vorurteilen und Diskriminierung führen, wenn Personen eigentlich von sich überzeugt sind, dass sie diese Denkmuster nicht haben. Dies liegt daran, dass wir alle mit bestimmten impliziten Denkmustern bzw. Einstellungen über andere Menschen oder Gruppen von Menschen sozialisiert werden. So lernen wir bereits sehr früh, dass Mädchen diese Merkmale, Jungen jene Merkmale hätten, dass Menschen unterschiedlich aussehen und wir daran vermeintlich ihre Herkunft ableiten könnten etc..

Diese gelernten Einstellungen sind in der Regel implizit, können aber dennoch unser Denken und Handeln leiten. Explizite und implizite Einstellungen können in bestimmten Fällen auch voneinander abweichen, ohne, dass uns dies bewusst ist. (Hier können Sie ihre eigenen impliziten Assoziationen/ Einstellungen testen). Implizite Einstellungen werden im Verlauf der Sozialisation erworben und sind unbewusste Wissensbestände, die durch einen bewussten Reflexionsprozess überdacht werden können (Aronson, Wilson, & Ekert, 2014, S. 222 ff.). Für die Lehre ist das Wissen um diese automatischen Prozesse daher sehr relevant. Lehrende unterrichten und prüfen Menschen. Das Lehr-Lern-Setting und vor allem auch Prüfungssituationen sollten möglichst frei von Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung sein. Ein wichtiger Grundsatz ist die Gleichbehandlung der Studierenden. Um diese zu Gewährleisten und diskriminierende Praxen zu vermeiden, ist die Selbstreflexion der eigenen Person und der eigenen Lehrveranstaltung zentral

3 Reflexion als Element professioneller Handlungskompetenz

Die Reflexion mit dem Fokus auf eine gender- und diversitätsreflektierende Lehre verfolgt die Ziele einer gleichberechtigten Teilhabe an Bildung durch die Förderung der Potentiale aller Studierender, dem Abbau von Diskriminierung in der Lehre und an der Hochschule sowie dem Aufbrechen von Stereotypen und Vorurteilen. Reflexion dient somit als zentrales Element professioneller Handlungskompetenz und sollte immer fester Bestandteil von Lehre sein, da sie die Möglichkeit bietet, praktische Erfahrungen strukturiert aufzuarbeiten und in Verbindung mit einer theoriegeleiteten Reflexion neue Blickwinkel auf bereits routiniertes Lehrhandeln ermöglicht. Dies ist zentral, denn insbesondere routiniertes Lehrhandeln birgt die Gefahr auf automatischen Denkprozessen aufzubauen. Die Reproduktion von Machtstrukturen durch unreflektierten Rückgriff auf altbekannte Verhaltensweisen in Krisensituationen kann zu unbeabsichtigtem und diskriminierendem Verhalten in der eigenen Lehre führen.  

Die Ungewissheit innerhalb pädagogischer Interaktionssituationen sowie gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und daraus resultierende (neue) Herausforderungen und Chancen erfordern eine stetige Befragung unserer eigenen Lehre. Diese ermöglicht, die eigenen Verstrickungen, die eigene (Lehr-)Konzeptionen und die individuellen Vorstellungen von der Rolle als Lehrperson immer wieder wahrzunehmen. Dieser stetige Prozess der Reflexion ist grundlegend für professionelles Handeln innerhalb der Lehre. Kaum eine Lehrperson möchte diskriminierend gegenüber Studierenden handeln. Dass dies dennoch innerhalb diskriminierender Gesellschaftsstrukturen als unbewusster Prozess abläuft, ist nicht verwunderlich. Es bedarf einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Position und den Verstrickungen innerhalb der Machtverhältnisse, um diese aufzubrechen und zu dekonstruieren. Spezifisch angeregte Reflexionseinheiten könnten z.B. Normalitätskonstruktionen hinterfragen, Stereotype und Vorurteile offenlegen, Zuschreibungen innerhalb der Lehrveranstaltung aufdecken, das eigene Involviertsein kritisch thematisieren, Gegenhorizonte und Handlungsalternativen aufzeigen um so eine Haltung zu entwickeln, die begründetes, theoretisch fundiertes und reflektiertes Handeln in Vermittlungssituationen ermöglicht.

Reflexion als fester Bestandteil von Lehre (im Dreischritt von Planung, Durchführung, Reflexion) gehört in die Nachbereitung jeder Sitzung. Diese kann als Routine etabliert werden, entweder mit der Nutzung von vorbereiteten Reflexionsbögen, die hilfreich zur Strukturierung und unterstützend für Anfänger*innen sind (siehe dazu Hager, 2009) oder in einer freien Reflexion, die für bereits erfahrene Lehrende leichter durchzuführen ist. In allen unterschiedlichen Formen der Reflexion sind die Themen Gender und Diversität gegenwärtig, denn in einer Auseinandersetzung mit bestimmten Situationen in der eigenen Lehre ist ein Analysieren der Rahmenbedingungen, der eigenen Vorannahmen und Einstellungen sowie des Verhaltens aller Akteur*innen grundlegend. Dies kann als fester Punkt in den individuellen Reflexionsbogen aufgenommen werden oder in einer freien Reflexion immer miteinbezogen werden. Folgend werden stichpunktartig Anregungen für eine gender- und diversitätssensible Reflexion angeführt. Die folgenden Fragen dienen als Impuls und können beliebig erweitert und auf die eigene Lehre angepasst werden. 

blauer Stuhl mit Tisch vor einer blauen Wand

4 Impulse zur (Selbst-) Reflexion für Lehrende – Reflexionsfragen konkret

Der Reflexionsprozess kann detailliert nach jeder Sitzung erfolgen und/oder in einem etwas größeren Rahmen am Ende einer Lehrreihe oder des Semesters. Die Reflexion kann jede*r Lehrende für sich alleine machen, es ist aber auch sehr hilfreich, die Studierenden mit in den Reflexionsprozess einzubinden. Grundsätzlich empfiehlt es sich, nicht erst am Ende des Semesters eine Reflexion vorzunehmen, sondern Reflexion als einen Prozess zu verstehen und zumindest im Verlauf des Semesters immer wieder in den Reflexionsprozess einzusteigen. Hierfür ist es gut, sich auch an den eigenen Zielen der Lehrveranstaltung zu orientieren und sich immer wieder zu fragen, ob diese Ziele erreicht werden können bzw. wurden. Des Weiteren ist es gut, sich auch zu Beginn des Semesters bewusst Zeit zu nehmen und über die eigenen Vorannahmen und Stereotype zu reflektieren. Hier bietet es sich zusätzlich an, mit anderen Lehrenden in den Austausch zu gehen z.B. durch die Thematisierung im Kollegium und in Teamsitzungen oder durch die Auseinandersetzung in Weiterbildungsangeboten. Die Erkenntnisse aus diesen wichtigen Prozessen können dann in den weiteren Reflexionsprozess im Laufe des Semesters einbezogen werden. Sich also immer wieder zu fragen, beeinflussen diese Vorannahmen mein Handeln und Entscheiden in einer konkreten Lehrsituation? Wenn ja, warum und wenn ja, welche Auswirkungen hat dies und kann ich dies ggf. verändern. 

Folgende Fragen bieten Impulse für eine Reflexion mit dem Fokus auf (digitale) gender- und diversitätsreflektierende Lehre. Die konkreten Fragen gliedern sich in zwei Ansätze, welche sich über den Zeitpunkt der Reflexion zuordnen lassen. Zunächst finden sich Anregungen für Reflexionseinheiten die übergeordnet, d.h. vor dem Semesterstart und regelmäßig in Bezug auf die eigene Lehre durchgeführt werden können. Die nun folgenden Abschnitte liefern konkrete Fragen, die zur seminarbegleiteten Reflexion anregen sollen.

4.1 Übergeordnete Reflexion

Diese grundlegenden Fragen zur Reflexion sollten im Prozess von Lehre stattfinden, immer wieder im Verlauf des Semesters berücksichtigt werden und am besten schon direkt zu Beginn der Planung mit einbezogen werden:

  • Was habe ich für ein Bild von den Studierenden? Was beeinflusst dieses Bild (z. B. Beteiligung der Studierenden)?
  • Welche Privilegien habe ich? Und wie beeinflussen diese meine Lehre? Und mein Bild von den Studierenden? 
  • Wo sehe ich das eigene Entwicklungspotential in Bezug auf die Gestaltung (digitaler) Lehre und warum?
  • Wo sehe ich das Entwicklungspotential der Studierenden in Bezug auf die Lehre?
  • Wo sind meine Grenzen in der digitalen Lehre?

4.2 Detailhafte Reflexion

Folgende Frage können die Reflexion in Bezug auf digitale gender- und diversitätsreflektierende Lehre innerhalb der Sitzungsnachbereitung unterstützen.

Ziel dieser Reflexion mit einem Fokus auf die aktuelle Lehrveranstaltung ist die Frage danach: Was kann ich in der nächsten Sitzung verändern und wieso? Aber auch die Beantwortung der folgenden Fragen mit einem positiven Ergebnis, z.B. dieser Aspekt ist sehr gut gelaufen, hilft dabei die Bedingungen, solcher als positive bewerteten Einheiten, zu ergründen und wiederholbar zu machen. 

  • Welche Vorannahmen hatte ich? Hatten diese Einfluss auf die Sitzung? Haben diese Einfluss auf meine Wahrnehmung der Studierenden? Wenn ja, welchen? Wenn sie einen negativen Einfluss hatten, wie kann ich dies beim nächsten Mal anders machen?
  • Wer hat sich beteiligt und wer hat sich nicht beteiligt? Welche Schlussfolgerung kann ich daraus ableiten? Warum haben sich die einen beteiligt und die anderen nicht?
  • Welche Methoden habe ich in der Veranstaltung genutzt und für wen sind diese zugänglich?
  • Wie hat meine aktuelle Stimmung das Seminar und die Studierenden beeinflusst? Was kann ich daran ändern?
  • Welche Voraussetzungen/Anforderungen habe ich an die Studierenden (z. B. Beteiligungsgrad / Kamera- und Toneinstellungen / Einschalten)? Waren diese transparent und realistisch?
  • Haben sich die Studierenden „abgeholt“ und aufgehoben gefühlt? 
  • Spielen das Geschlecht oder andere Diversitätsmerkmale für mich in der aktuellen Lehre eine Rolle? Wenn ja, was für eine? Bewerte ich Studierende explizit oder implizit nach diesen Kategorien?

4.3 Feedback als Anregung zur (Selbst-) Reflexion

Um Feedback von und mit allen Beteiligten konstruktiv umsetzen zu können, ist es notwendig von Beginn der Lehrveranstaltung an eine offene Kommunikationskultur zu etablieren. Grundlegend für ein gutes Gelingen dieser Kommunikation kann das Konzept der Fehlerfreundlichkeit genutzt werden. (Vgl. Goel 2016)

Holen sie sich so oft wie möglich ein Feedback ein oder geben sie ein Feedback. Eine offene Kommunikation und das bewusste Einfordern von Rückmeldungen fördert den Austausch mit der Gruppe sowie der Gruppenmitglieder untereinander und gibt der Gruppe und ihnen eine Rückmeldung über die aktuelle Stimmung. So können Missverhältnisse, die ihnen in der Rolle als Lehrperson entgangen sind über die Beteiligten selbst aufgedeckt werden und damit besprechbar werden. Anonyme Feedbackmethoden eigenen sich, um sich ehrliche Rückmeldungen der Studierenden einzuholen. In einer vertrauten, offenen Gruppe in der Fehlerfreundlichkeit gelebt wird, kann z.B. auch über ein Blitzlicht ein Stimmungsbild eingeholt werden. Hier geben sie eine Fragestellung vor und jede*r äußert sich kurz zum aktuellen Stand.

beschlagene Fensterscheibe auf die ein Fragezeichen gemalt wurde

 

5. Checkliste mit themenbezogenen Reflexionsfragen

Folgende Checkliste enthält Fragen, die aus der „Handreichung für eine diversitätssensible digitale Lehre“ der Goethe-Universität Frankfurt entnommen sind. Diese Handreichung gibt spezifische Fragen an die Hand, welche als Anhaltspunkte für eine reflexive Hilfestellung von (digitalen) Lehr- und Lernsettings gedacht werden können.

5.1 Selbstreflexion

  • Bin ich mir meiner Stereotype, Vorurteile und Normalitätskonstruktionen bewusst?
  • Gelingt es mir, meine eigenen Vorannahmen über Einzelne oder Gruppen von Studierenden zu erkennen, zu reflektieren und zu revidieren?
  • Fühle ich mich dazu in der Lage, gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskriminierungsformen wie z. B. (Hetero-)Sexismus, Rassismus, Klassismus, Diskriminierung aufgrund von Behinderung oder Altersdiskriminierung wahrzunehmen und zu thematisieren?[3]
  • Reflektiere ich den Einfluss meiner eigenen sozialen Positionierung auf das Lehren und Lernen?
  • Fühle ich mich in der Lage dazu, bei diskriminierendem Verhalten in meiner Lehrveranstaltung einzugreifen?

5.2 Reflexion unterschiedlicher Ausgangsbedingungen von Studierenden

Berücksichtige ich in der Planung und Durchführung meiner Lehre unterschiedliche (technische und inhaltliche) Kenntnisstände sowie Lebens- und Arbeitsumstände der Nutzer*innen? Insbesondere: 

  • unterschiedliche und – bei einigen nur rudimentäre – Vorerfahrungen mit digitalen Lernformaten 
  • Verunsicherung und Überforderung im Falle geringer digitaler Kenntnisse und Zugriffsmöglichkeiten
  • Bedenke ich unterschiedliche Lebenssituationen und damit einhergehende Kapazitäten und Partizipationsmöglichkeiten meiner Studierenden? 
    • Familien- und Pflegeaufgaben, Fürsorgearbeit
    • Finanzierungsschwierigkeiten
    • Arbeitsmöglichkeiten und Zeitbedarf 
  • Achte ich darauf, dass Studierende möglichst zeitlich flexibel in Lehrveranstaltungen (asynchrone Formate) mitarbeiten können bzw. ich Live-Formate aufzeichne und nachträglich zugänglich mache? 
  • Achte ich auf verlängerte Bearbeitung- und Abgabezeiten, Nachteilsausgleiche in Fällen, in denen die Arbeitsleistung nur eingeschränkt erbracht werden kann (aufgrund fehlender Kinderbetreuung, Erkrankungen etc.)? 
  • Biete ich vielseitige, flexible und interaktive Lernangebote an (Screencast, Audiodateien, Texte, Liveschaltungen, Aufzeichnungen bei synchronen Formaten)?
  • Beinhaltet mein Seminar vielfältige interaktive (moderierte) Kommunikationsangebote, bspw. synchron und asynchron, die Beteiligungsmöglichkeiten für (eher) introvertierte Studierende schaffen? 

5.3 Reflexion der Rahmenbedingungen und (sozialen) Organisation 

  • Gebe ich den Studierenden die Möglichkeit, unterschiedliche Bedarfe zu Beginn des Semesters anzusprechen (Barrierefreiheit, Sprache, Zeiteinteilung…)?  
  • Achte ich darauf, dass Studierende, die zur sog. Risikogruppe gehören, sich schützen können, ohne dass sie gezwungen sind, ihre Situation zu erläutern? 
  • Lege ich Kommunikationsregeln fest, die Studierenden auch im digitalen Raum Schutz vor ungerechter Behandlung, diskriminierenden Kommunikationsstrukturen oder Dominanzverhalten einzelner Teilnehmender bieten?                                 
  • Mache ich deutlich, dass und wie Studierende ihren privaten Raum in Videokonferenzen schützen können und sollten, z.B. durch virtuelle Hintergründe, geeignete Platzierung des Laptops oder durch das An- und Abschalten von Ton- und Bild? 
  • Habe ich thematisiert, welche Teile einer Konferenz aufgezeichnet oder veröffentlicht werden und welche nicht? 
  • Bietet meine Seminargestaltung Anerkennungsstrukturen an (Feedback, Bewertung der Aufgaben, bilateraler Austausch)? 
  • Gebe ich rechtzeitig vorab Auskunft über gemeinsame Termine und den zeitlichen Umfang von spezifischen Online-Meetings/Aufgabenstellungen?
  • Bedenke ich, das Seminar gemeinsam mit den Studierenden möglichst partizipativ zu gestalten?
  • Habe ich darauf hingewiesen, dass gemeinsam Verantwortung für ein faires Miteinander übernommen werden kann? 
  • Trotz aller Anforderungen: Habe ich den Mut zur Nicht-Perfektion? Bin ich fehlerfreundlich mir, den Studierenden und der Situation gegenüber?

5.4 Reflexion zur Gestaltung und Vermittlung  

  • Gestalte ich meine Lehrmaterialien möglichst leicht zugänglich bzw. barrierefrei? Als Lehrende unterstützen Sie damit behinderte Studierende, aber z.B. auch Nutzer*innen mobiler Endgeräte.  Dazu zählen:
  • digitale Gliederung (Verwendung von Formatvorlagen für Überschriften etc.)
    • ausreichende Schriftgröße, Kontraste, Verzicht auf Hintergrundbilder, möglichst serifenlose Schriften
    • Bildbeschreibungen als Alternativtexte, Texte zu Audios und Videos, … 
  • Biete ich meine Lernmaterialien mit möglichst großem zeitlichen Vorlauf (für Studierende mit zeitlichem Mehrbedarf, unregelmäßiger Arbeitszeit) an[4]? Biete ich Ausweichformate bzw. nicht-digitale Formate wie Texte/Hausarbeiten? 
  • Achte ich auf eine durchdachte Vermittlung meiner Inhalte mit angemessener Sprache und Medien? Ist meine digitale Lehre durch eine genderinklusive transparente (An-)Sprache geprägt[5]?
  • Gestalte ich meine Online-Lehre mithilfe diversitätssensibler Medien[6] (Bilder, Videos)? Vermeide ich stereotype und simplifizierende Darstellungen? Reflektiere ich kritisch über meine (Bild-)Quellen- Auswahl?  

5.5 Reflexion zur Organisation und Technik 

  • Kann ich technischen Support anbieten oder auf technischen Support verweisen?
  • Gibt es Lernräume an der Universität, auf die ich Studierende, die nicht über einen optimal ausgestatteten Arbeitsplatz zuhause verfügen, verweisen kann?                        

5.6 Reflexion zu gerechten Rahmenbedingungen

  • Achte ich darauf, dass eine Online-Lehrveranstaltung nicht zeitaufwendiger ist als dieselbe Lehrveranstaltung in Präsenz – für Lehrende und für Studierende? 
  • Signalisiere ich den Studierenden, dass ich bei Problemen ansprechbar bin und mache auf Beschwerdemöglichkeiten im Falle von ungerechter Behandlung und Diskriminierung auch in digitalen Räumen aufmerksam, bspw. bei der Antidiskriminierungsstelle? 

 

Fußnoten

[1] Antinomien im Lehrhandeln beschreiben unauflösbare Spannungsverhältnisse mit denen sich Lehrende in Ihrer Praxis auseinander setzen müssen um handlungsfähig zu bleiben. (Vgl. Werner Helsper, 2000)

[2] Zum Einfluss von Stereotypen auf Leistungen von Menschen in Lehr-Lern-Situationen sieht die umfangreiche sozialpsychologische Literatur und empirischen Belege zu Stereotype Threat https://gender-glossar.de/s/item/29-stereotype-threat. Zugegriffen 9.11.2020.

[3] Alle themenspezifischen Begriffe im Kontext von Diversität können unter nachstehendem Link nachgelesen werden: http://www.diversity.uni-freiburg.de/Lehre/Glossar. Zugegriffen 9.11.2020

[4] Nähere Hinweise finden Sie z.B. auf den Seiten der TU Dortmund (s.u.) oder der Universität Kassel: www.unikassel.de/themen/barrierefreie-hochschule/inklusion-hochschulen/materialien-und-links/barrierefreie-lehre.html. Zugegriffen 9.11.2020. 

[5] Hierzu zählt auch die Verwendung von selbst gewählten Personal-Pronomen bei nicht-binären Personen, die weder männlich noch weiblich angesprochen werden wollen oder sich selbst einem Pronomen zuordnen.

[6] https://www.uni-frankfurt.de/66760835/Diversitaetssensible-Mediensprache.pdf. Zugegriffen 9.11.2020

 

Literatur und Links:

Aronson, Elliot, Wilson, Timothy & Akert, Robin (2014): Sozialpsychologie. 8., aktualisierte Aufl. Pearson: Halbergmoos.

Ebenfeld, Melanie (2017): Checkliste zur gender- und diversitätsbewussten Didaktik. In: Freie Universität Berlin. Toolbox Gender und Diversity in der Lehre. URL: genderdiversitylehre.fu-berlin.de/toolbox/_content/pdf/methodenblatt_checkliste.pdf (zuletzt abgerufen: 24.06.2020). 

Eckes, Thomas (2008): Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen. In: Ruth Becker und Beate Kortendiek (Hg.) unter Mitarbeit von Barbara Budrich, Ilse Lenz, Sigrid Metz-Göckel, Ursula Müller, Sabine Schäger: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung.

Theorie, Methoden, Empirie. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl. Bd. 35: Springer-Verlag (35), S. 171 – 182.

Goel, Urmila (2016): A.3 Die (Un)Möglichkeiten der Vermeidung von Diskriminierungen. In: ZtG (Hrsg.): Diskriminierungskritische Lehre. Denkanstöße aus den Gender Studies, Universitätsdruckerei der HU: Berlin, S. 39 – 46.

Hager, Christina (2009): Selbstreflexion. Pädagogische Hochschule Wien. URL: http://www.ectaveo.ch/Mediathek/2015/01/Hager_6.-Selbstreflexion-DE.pdf (zuletzt abgerufen: 15.06.2020).

Handreichung diversitätssensible digitale Lehre: https://www.uni-frankfurt.de/87954647/2020_04_29_DiversitDigitaleLehreHandreichung.pdf (zuletzt abgerufen: 21.09.2020)

Helsper, W. (2000): Antinomien des Lehrerhandelns und die Bedeutung der Fallrekonstruktion — Überlegungen zu einer Professionalisierung im Rahmen universitärer Lehrerausbildung. In: Cloer, E., Klika, D., & Kunert, H. (Hrsg.): Welche Lehrer braucht das Land? VS Verlag für Sozialwissenschaften: Weinheim, München, S. 142–178.

Schnabel, Konrad, Nosek, Brian, Banaji, Mahzarin, & Greenwald, Tony: Impliziter Assoziationstest unter https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/ (zuletzt abgerufen: 18.09.2020)

Steffens, Melanie C. & Ebert, Irena D. (2016): Frauen – Männer – Karrieren. Eine sozialpsychologische Perspektive auf Frauen in männlich geprägten Arbeitskontexten. Wiesbaden: Springer.

Wyss, Corinne (2008): Zur Reflexionsfähigkeit und –praxis der Lehrperson. In: bildungsforschung, Jg. 5, Ausgabe 2. Frankfurt am Main: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, S. 1-15.

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