Lernerlebnisse durch formatives Peer- und Self-Assessment fördern
Lernerlebnisse durch formatives Peer- und Self-Assessment fördern
10.04.25
Ein häufiges Problem in der traditionellen Bildung ist, dass Studierende Feedback nur passiv aufnehmen. Prof. Steve Joordens erklärt in diesem Blogartikel, wie Studierende durch Peer- und Self-Assessment aktiv am Bewertungsprozess teilnehmen können. Auf diese Weise werden Bewertungen zu einer Gelegenheit für Reflexion und Kompetenzentwicklung. Außerdem hilft es den Studierenden, kritisches Denken und Selbstbewusstsein zu entwickeln, was letztendlich zu einem sinnvolleren Lernen führt.
In der Bildung besteht eine der größten Herausforderungen darin, tiefgreifendes Lernen zu fördern – Lernen, das über Auswendiglernen hinausgeht und kritisches Denken, Metakognition und sinnvolles Engagement bestärkt. Herkömmliche Beurteilungen, insbesonders komplexe Gesamtevaluationen, spielen eine wichtige Rolle bei der Messung von Wissen, aber sie sind nur begrenzt dazu in der Lage, den Lernprozess selbst zu fördern.
Eine vielversprechende Alternative ist formatives Peer- und Self-Assessment, das Bewertungen von einem reinen Beurteilungsinstrument in eine aktive Lernerfahrung verwandelt. Wenn diese Methoden effektiv eingesetzt werden, helfen sie Studierenden, sich kritisch mit den Inhalten auseinanderzusetzen, über ihr Lernen zu reflektieren und Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts wie Kommunikation, Zusammenarbeit und Selbstregulierung zu entwickeln.
Angesichts der vielversprechenden Möglichkeiten vom formativem Peer- und Self-Assessment hat mein Labor ein Tool namens peerScholar entwickelt, das es Pädagog:innen ermöglicht, dieses Potential in einer leistungsstarken, aber einfach zu bedienenden Plattform formell zu nutzen. Das Erlebnis der Studierenden sieht folgendermaßen aus. Studierenden werden zunächst gebeten, alleine oder Gruppen einen Entwurf für einen Aufsatz zu erstellen, den sie in der „Erstellungsphase“ einreichen. Anschließend loggen sie sich in der „Beurteilungsphase“ ein, wo sie eine auf Mikrolernen basierende Schulung zum Thema Feedback erhalten, die sie sofort in die Praxis umsetzen, indem sie drei oder mehr Beiträge von anderen Teilnehmenden bewerten und anschließend ihre eigenen Beiträge selbst bewerten. In der „Reflektierungsphase“ schließlich erhalten sie ein auf Mikrolernen basierendes Training, wie sie aus dem Feedback lernen können. Anschließend beantworten sie Fragen zu dem Feedback, das sie zu ihrem Entwurf erhalten haben, und haben dann die Möglichkeit, dieses Feedback nach eigenem Ermessen zu nutzen, um ihre Arbeit für die endgültige Abgabe zu verbessern. Als letzten Schritt in dieser Phase werden die Studierenden gebeten, über die Änderungen, die sie vorgenommen haben, zu reflektieren und ihre Überlegungen in Bezug auf die Empfehlungen, denen sie nicht gefolgt sind, zu begründen.
Was also macht Peer- und Self-Assessments so wirkungsvoll, und wie können wir sie für maximale pädagogische Wirkung nutzen?
Von passiven Empfänger:innen zu aktiv Lernenden
Ein häufiges Problem in der traditionellen Bildung ist, dass Studierende passive Empfänger:innen von Feedback sind. Sie erhalten Noten und Kommentare von ihren Lehrkräften, aber oft setzen sie sich entweder nicht mit dem Feedback auseinander oder fühlen sich durch dessen Endgültigkeit entmachtet.
Peer- und Self-Assessment verändert diese Dynamik, indem es die Studierenden zu aktiven Teilnehmer*innen am Bewertungsprozess machen.
- Self-Assessment fördert die Metakognition – die Fähigkeit, über das eigene Lernen und die eigene Leistung nachzudenken. Wenn Studierende ihre Arbeit anhand eines Bewertungsschemas oder anhand von Lernzielen bewerten, gewinnen sie ein klareres Verständnis von Qualität und Fortschritt.
- Die Beurteilung durch Gleichaltrige macht Studierenden mit verschiedenen Perspektiven vertraut und hilft ihnen, Stärken und Schwächen sowohl in der Arbeit ihrer Kommiliton*innen als auch in ihrer eigenen zu erkennen. Darüber hinaus wird durch das Geben von Feedback ihre Fähigkeit verbessert, konstruktive Kritik zu analysieren und zu formulieren – eine entscheidende Fähigkeit in jedem Beruf. Tatsächlich werden bei der Beurteilung durch Gleichaltrige fast alle Fähigkeiten trainiert, die wir als entscheidend für den Erfolg von Studierenden ansehen, darunter kritisches Denken, kreatives Denken, rezeptive Kommunikation, expressive Kommunikation und, wenn dies in der Gruppe geschieht, Kooperation.
Indem wir Studierende in den Bewertungsprozess einbeziehen, verwandeln wir Bewertungen in eine Gelegenheit zur Reflexion, zum vertieften Lernen und zur Entwicklung von Fähigkeiten.
Die psychologische Kraft des „Lernens durch Lehren“
Ein interessantes Phänomen in der Bildungspsychologie ist der Protegé-Effekt – das Konzept, dass wir am besten lernen, wenn wir andere unterrichten. Peer-Assessment macht sich dieses Prinzip zunutze, indem es Studierende dazu zwingt, sich aktiv mit den Kriterien auseinanderzusetzen und ihre Bewertungen so zu erklären, dass sie für jemand anderen Sinn ergeben.
Bedenken Sie:
- Ein Studierender, der einfach nur einen Aufsatz schreibt, macht sich vielleicht keine Gedanken darüber, was einen Aufsatz stark oder schwach macht.
- Ein Studierender, der fünf von Gleichaltrigen verfasste Aufsätze bewertet, muss vergleichen, analysieren und darlegen, warum bestimmte Elemente funktionieren und andere nicht.
- Feedback zu geben festigt ihr Verständnis und ermöglicht es ihnen, dieses Wissen auf ihre eigene Arbeit anzuwenden.
Studierende lernen davon, andere bewerten – manchmal sogar mehr als wenn sie selbst Feedback erhalten.
Jenseits der Note: Die Rolle der formativen Beurteilung
Nicht alle Beurteilungen müssen endgültig sein. Bei der formativen Bewertung geht es um den Lernprozess, bei dem das Feedback nicht zur Beurteilung, sondern zur Verbesserung gegeben wird. Dies ist der Punkt, an dem Peer- und Self-Assessment wirklich glänzen.
- Bei traditionellen Prüfungen erhalten Studierenden eine Abschlussnote und befassen sich nicht weiter mit ihrer Arbeit.
- Bei formativem Peer- und Self-Assessment erhalten Studierenden vor der endgültigen Abgabe ein Feedback, das es ihnen ermöglicht, ihren Text zu überarbeiten, zu reflektieren und zu verbessern.
Die Forschung zeigt, dass Studierende effektiver lernen, wenn sie mehrere Gelegenheiten erhalten, ihre Arbeit auf der Grundlage von Feedback zu überarbeiten (Sadler, 1989). Formative Beurteilung verbessert nicht nur die akademischen Leistungen, sondern auch die Fähigkeit der Studierenden, sich selbst zu regulieren und Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen (Nicol & Macfarlane-Dick, 2006).
Ein einfaches, aber demonstratives Beispiel:
Stellen Sie sich einen Geschichtskurs vor, in dem Studierenden den Entwurf ihres Aufsatzes zur Begutachtung einreichen müssen, bevor sie die finale Version einreichen. Jeder Studierende erhält Feedback von drei Kommiliton:innen, arbeitet die Vorschläge ein und gibt dann eine überarbeitete Endfassung ab. Im Vergleich zu Studierenden, die einen Aufsatz nur zur Bewertung einreichen, produzieren diejenigen, die an der Peer-Bewertung teilnehmen, häufig qualitativ hochwertigere Arbeiten und haben mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten.
Die Herausforderungen von Peer- und Self-Assessment bewältigen
Trotz der Vorteile zögern einige Lehrkräfte, Peer- und Self-Assessment einzuführen, weil sie Bedenken haben:
- Voreingenommenheit – Werden Studierenden in ihren Bewertungen fair und objektiv sein?
- Qualität des Feedbacks – Werden Studierenden nützliche, konstruktive Kritik üben?
- Akzeptanz des Feedbacks von Gleichaltrigen – Werden Studierende dem Feedback ihrer Kommiliton:innen vertrauen und es einbeziehen?
Lösungen:
- Bewertungsschemata und klare Kriterien: Die Forschung zeigt, dass Studierende viel effektiver bewerten, wenn sie explizite Bewertungsschemata erhalten, die beschreiben, wie eine „gute Arbeit“ aussieht (Panadero & Jonsson, 2013).
- „Just-in-Time“-Mikro-Lernressourcen, wie sie in peerScholar verwendet werden, können ebenfalls die Qualität und Konstanz des Feedbacks verbessern.
- Kalibrierungsübungen: Bevor Studierenden an einer Peer-Assessment-Übung teilnehmen, können sie gemeinsam eine Arbeitsprobe bewerten und ihre Bewertungen und Begründungen besprechen, um ihre Standards anzugleichen.
- Anonyme Bewertungen: Durch die Anonymität von Peer-Bewertungen werden Voreingenommenheiten reduziert und Studierenden fühlen sich wohler, ehrliches zu Feedback geben und zu erhalten.
- Mehrere Gutachter:innen: Wenn mindestens drei Gutachter:innen jede Einreichung bewerten, werden individuelle Voreingenommenheiten ausgeglichen und ein umfassenderes Feedback gewährleistet.
Wenn diese Strategien angewandt werden, werden Studierende zu erstaunlich genauen Bewerter:innen, deren Einschätzungen oft denen der Lehrkräfte ähneln (Topping, 1998).
Real-World Applications: Studierenden auf die Zukunft vorbereiten
Beim Einbeziehen von Peer- und Self-Assessment im Unterricht geht es nicht nur darum, Noten zu verbessern, sondern auch darum, Studierende auf die reale Welt vorzubereiten. In praktisch jedem Beruf muss man:
- Die eigene Arbeit bewerten,
- Kolleg*innen Feedback geben,
- konstruktive Kritik akzeptieren und einbeziehen.
Durch formatives Peer- und Self-Assessment entwickeln Studierende diese lebenslangen Fähigkeiten in einer strukturierten und unterstützenden Umgebung.
Diese Strategien werden in dem Maße, in dem sich die Bildung zunehmend auf aktives Lernen und kollaborative Modelle verlagert, noch wichtiger werden.
Schlussfolgerung: Ein Aufruf für eine Feedbackkultur
Wenn wir Studierende wirklich mit den Fähigkeiten ausstatten wollen, die sie für ein lebenslanges Lernen benötigen, müssen wir über einmalige Beurteilungen hinausgehen und eine Kultur des kontinuierlichen Feedbacks und der Verbesserung einführen.
Formative Peer- und Self-Assessments sind nicht einfach nur Beurteilungsinstrumente – sie sind wirkungsvolle Lernerfahrungen. Wenn wir sie effektiv einsetzen, können wir Studierenden helfen, kritisches Denken, Kommunikationsfähigkeiten und Selbstbewusstsein zu entwickeln, was letztlich zu einem tieferen und sinnvolleren Lernen führt.
Wenn Sie also das nächste Mal eine Bewertung entwerfen, fragen Sie sich: Gibt es eine Möglichkeit, die Studierenden in den Bewertungsprozess einzubeziehen? Sie könnten ihre Lernerfahrung verändern.
Referenzen
- Nicol, D. J., & Macfarlane‐Dick, D. (2006). Formative assessment and self‐regulated learning: A model and seven principles of good feedback practice. Studies in Higher Education, 31(2), 199-218.
- Panadero, E., & Jonsson, A. (2013). The use of scoring rubrics for formative assessment purposes revisited: A review. Educational Research Review, 9, 129-144.
- Sadler, D. R. (1989). Formative assessment and the design of instructional systems. Instructional Science, 18(2), 119-144.
- Topping, K. J. (1998). Peer assessment between students in colleges and universities. Review of Educational Research, 68(3), 249-276.
Autor

Professor Steve Joordens ist Professor für Psychologie an der University of Toronto Scarborough, wo er sich auf kognitive Psychologie und Bildungstechnologie spezialisiert hat. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem menschlichen Gedächtnis, dem Bewusstsein und dem Einsatz von Technologien zur Verbesserung des Lernens, wobei er sich besonders auf die Beurteilung durch Gleichaltrige und die Entwicklung von kritischem Denken konzentriert. Als Direktor des Advanced Learning Technologies Lab hat er innovative Projekte zur Integration von KI und digitalen Tools in die Bildung geleitet. Als leidenschaftlicher Pädagoge hat Professor Joordens mehrere Auszeichnungen für seine Lehrtätigkeit erhalten und ist bekannt für seine ansprechenden Online-Kurse, die Lernende auf der ganzen Welt erreichen. Außerdem ist er ein gefragter Redner zu den Themen pädagogische Psychologie, technologiegestütztes Lernen und psychische Gesundheit von Studierenden. Über seine Erkenntnisse wurde in verschiedenen Medien berichtet, und er setzt sich weiterhin für aktive, auf Studierende ausgerichtete Lernansätze ein.