(Digitale) Barrierefreiheit in der Hochschullehre: Praxisbeispiele für physische und virtuelle Räume

(Digitale) Barrierefreiheit in der Hochschullehre: Praxisbeispiele für physische und virtuelle Räume

24.06.24

Die Integration von Diversität und digitaler Barrierefreiheit in die Hochschullehre stellt ein interdisziplinäres Bekenntnis für die Anerkennung und Förderung von Vielfalt in der Hochschule dar. Insbesondere für Studierende mit Beeinträchtigungen und Behinderungen ist dies von zentraler Bedeutung, da sie tagtäglich mit Barrieren konfrontiert sind, die sie an einer gleichberechtigten Teilhabe hindern. Um eine inklusive Lehre aktiv und praxisnah zu gestalten, stellt Vanessa Fischer, Diversitybeauftragte an der TH Bingen und Lehrende an der HS Koblenz, in zwei Tools vor, die sich an der Schnittstelle zwischen Diversity und Digitalisierung bewegen und den Zusammenhang zwischen barrierefreien Lernumgebungen und der individuellen Haltung aufzeigen.

Unabhängig davon, ob Sie als Lehrende mit Studierenden, als Mitarbeitende in der Weiterbildung oder in einem Didaktikzentrum arbeiten, betrifft uns folgende Thematik gleichermaßen: In der vielfältigen Welt der Lehre stehen wir oft vor der Herausforderung, abstrakte Begriffe wie Diversity und digitale Barrierefreiheit mit Leben zu füllen. Wie können wir diese Themen in die Lehre oder die Dozierendenweiterbildung integrieren und dabei nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch erfahrbar machen? Nur durch konkrete Praxisbeispiele und eine individuelle Reflexion können wir eine Lehre schaffen, die für alle zugänglich und bereichernd ist.

Die Abbildung trägt den Titel “Rahmenbedigungen von Diversity und Inklusion (eigene Darstellung)”. Im Hintergrund zeigt sich eine Vielzahl von bunten Formen und Buchstaben. Die Begriffe Diversity und Inklusion stehen in blauer Schrift auf einem weißen Hintergrund im Mittelpunkt der Abbildung. Oberhalb werden die Schlagworte Sichtbarkeit, Sensibilisierung und Selbstreflexion in weißer Schrift auf blauem Hintergrund aufgeführt. Unterhalb und in etwas kleinerer Schrift sind die Auswirkungen von Diversity und Inklusion benannt: (digiale) Barrieren, chancengerechte Studienbedingungen und eigene Haltung.
Abbildung 1: Rahmenbedingungen von Diversity und Inklusion (eigene Darstellung)

Die deutschlandweite Studierendenbefragung „best3“ zeigt, dass die studienerschwerenden Beeinträchtigungen bei Studierenden in den letzten Jahren stark angestiegen sind. Das betrifft insbesondere den Anteil der Studierenden mit psychischen Erkrankungen (vgl. Steinkühler et al. 2023). In den vergangenen Jahrzehnten konzentrierte sich die Barrierefreiheit vor allem auf Studierende mit körperlichen Beeinträchtigungen. Jedoch zeigt der Hochschulalltag, dass sich Barrieren nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausgeweitet haben. Heutzutage müssen chancengleiche Studienbedingungen vielmehr kommunikative, didaktische und organisatorische Barrieren inkludieren. Wie kann Hochschullehre einen Beitrag zum bewussten Umgang mit Barrieren leisten und gleichzeitig Multiplikator:innen für Diversity hervorbringen?

Erstes Praxisbeispiel: Die “Diversitätsbrille” im physischen Raum

In dem Präsenzseminar “Diversität: Methodische Ansätze in der Sozialen Arbeit” (Fachbereich Sozialwissenschaften) der Hochschule Koblenz erhalten die Studierenden die Aufgabe, sich in die Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen hineinzuversetzen und alltägliche Barrieren der Hochschule zu identifizieren. Inspiriert von dem Wunsch eines Studenten, die Umsetzung von barrierefreien Konzepten in der Realität praktisch zu überprüfen, habe ich die Übungen “Diversitätsbrille” und “Blickwinkel” konzipiert. Ziel der Übung „Diversitätsbrille“ ist es, die Studierenden für Barrieren und ungleiche Teilhabechancen zu sensibilisieren, ihnen einen Perspektivwechsel zu bieten und dadurch eigene Privilegien zu erkennen. Dazu sollen die Studierenden die Hochschule (Gebäude, Räume und Außengelände) erkunden und nach Barrieren suchen, die den Alltag von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen erschweren. Dabei sollen sie auch bereits vorhandene barrierefreie Zugänge berücksichtigen. Ergänzend können sich die Studierenden im Vorfeld der Übungen mit dem Leitbild der jeweiligen Hochschule vertraut machen und im Nachhinein die Kongruenz von Leitbild und Realität überprüfen.

Praxisbeispiel "Diversitätsbrille"

In dem gemeinsamen Reflexionsprozess zeichnet sich ein klares Bild ab: Viele Studierende haben die Barrieren vor der Übung nicht als solche erkannt. Ebenso berichten Studierende einige Zeit später, dass sie durch die Übung für die Bedürfnisse und Problemlagen von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen sensibilisiert wurden – weil sie alltagsnahe Einblicke erhalten haben. Um den Reflexionsprozess einzuleiten, können einige Leitfragen verwendet werden. Sie sollen dazu anregen, über die eigenen Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe nachzudenken und sich der eigenen Macht bewusst zu werden.

Leitfragen

Zweites Praxisbeispiel: Der “Blickwinkel” im virtuellen Raum

In einem zweiten Schritt kann die Übung auf den virtuellen Raum ausgeweitet werden. Nach einer theoretischen Einführung in das Thema digitale Barrierefreiheit führen die Studierenden die Übung „Blickwinkel“ auf der hochschulinternen Website und Lernplattform durch. Aufbauend auf der „Diversitätsbrille“ ist das Ziel der Übung, die digitale Barriere- und Medienkompetenz der Studierenden zu stärken. Darüber hinaus sollen sie Tools wie die Vorlesefunktion von Texten oder Bildern auf Websites aktiv erproben und ihre Beobachtungs- und Vorstellungskraft schulen. Die Übung endet ebenfalls mit einer angeleiteten Reflexion im Plenum.

Praxisbeispiel "Blickwinkel"

Reflexion als Schlüssel zu inklusiver digitaler Lehre

Die Studierenden bzw. alle Teilnehmenden der Reflexionsübungen fungieren als Multiplikator:innen für die digitale Barrierefreiheit – innerhalb und außerhalb des Hochschulkontextes. Die aktive Auseinandersetzung mit individuellen Problemlagen sensibilisiert für ungleiche Chancen und kann zugleich die intrinsische Motivation fördern, sich für gesellschaftliche Teilhabe und Gerechtigkeit einzusetzen – jede:r im eigenen Lebens- und Arbeitsumfeld. 

Um die verschiedenen Lebensbedingungen und -situationen von Menschen systematisch erfassen zu können, muss Diversitätsreflexivität zu einer Querschnittsaufgabe werden. Durch praktische Übungen wie die Verwendung der „Diversitätsbrille“ oder das Einnehmen verschiedener „Blickwinkel“ können diese Themen in die individuelle Hochschullehre integriert werden. Es wird deutlich, wie Lehre interdisziplinär und reflexiv gestaltet und die Sichtbarkeit für ungleiche Teilhabemöglichkeiten gesteigert werden kann. Gleichzeitig erfahren die Studierenden die Selbstreflexion als Schlüssel zu einem macht- und selbstkritischen Umgang mit Diversity.

Weiterführende Literatur

Chainani-Barta, P., Henneberg, B., Kaufmann, R. (2020): Barrierefreiheit in der Online-Lehre – Eine Handreichung. Online verfügbar unter: https://hochschulforumdigitalisierung.de/barrierefreiheit-in-der-online-lehre-eine-handreichung/. Zuletzt abgerufen am 26.03.2024.

Deutsches Institut für Menschenrechte (o. J.): Die Welt mit anderen Augen sehen. https://www.kompass-menschenrechte.de/uebungen/die-welt-mit-anderen-augen-sehen. Zuletzt abgerufen am 27.03.2024.

Hartke, M., Gerber, J., Staufenbiel, K., Springob, J. (2019): Diversität und Inklusion in Ihrer Hochschullehre. Schritte für ein chancengerechtes Studium. Köln: Universität zu Köln. 

Steinkühler, J., Beuße, M., Kroher, M., Gerdes, F., Schwabe, U., … & Buchholz, S. (2023). Die Studierendenbefragung in Deutschland: best3. Studieren mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. Hannover: DZHW. 

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