Die Hochschullehre muss sich in einer digitalisierten Welt umfassend ändern – Klaus Diepolds Kommentar zu den Empfehlungen des WR-Berichts
Die Hochschullehre muss sich in einer digitalisierten Welt umfassend ändern – Klaus Diepolds Kommentar zu den Empfehlungen des WR-Berichts
10.08.22Nicht zu kurz(fristig) denken – so der Appell von Prof. Klaus Diepold (TU München) zu den kürzlich veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Digitalisierung in Lehre und Studium. Die Digitialisierung sei ein mittelfristig angelegter Änderungsprozess, bei dem Online-Klausuren und Video-Vorlesungen nicht ausreichen würden. Doch Diepold bemerkt auch Positives – in seinem Kommentar der Empfehlungen.
Der Wissenschaftsrat hat sich in einem kürzlich veröffentlichten Dokument mit dem Thema der Digitalisierung der Hochschullehre auseinandergesetzt. Mit großem Interesse habe ich als Hochschullehrer diesen Text gelesen und versuche, zum Gelesenen kurz zu reflektieren. Insgesamt behandelt der Wissenschaftsrat das Thema Digitalisierung in einer sehr umfassenden Weise – die einschlägigen Interessengruppen und relevanten Themen werden angesprochen und diskutiert.
Die Digitalisierung der Lehre hat natürlich eine technische Komponente, wenn es um vielfältige digitalen Medien und unterschiedliche Darreichungsformen von Lehrinhalten geht. Fragen der digitalen Ausstattung von Hochschulen werden ebenso diskutiert wie weitreichenden didaktischen Aspekte. Mehrfach wird darauf verwiesen, dass die Digitalisierung neben dem Notfallmodus während der Pandemie auch eine Reihe von Chancen zur Weiterentwicklungen der Lehre bzgl. der Internationalisierung, der Diversität und im Umgang mit Heterogenität sowie einer qualitativen Verbesserungen der Lehre gibt. Um diese Verbesserungspotentiale zu heben, bedarf es aber auch einer didaktischen Überarbeitung traditioneller Lehr/Lernformen. Eine simple Substitution der traditionellen Frontalvorlesungen durch Videos und die Verteilung von Lehrmaterialien in digitaler Form über entsprechende Webseiten und Servern wird nicht ausreichen. Auch das Thema Prüfungen reiht sich hier ein. Dort ist es zu kurz gedacht traditionelle Klausurformate durch Online-Prüfungen mit Orwellschen Überwachungsmethoden (Proctoring) als einen Weg einer gelungen Digitalisierung zu feiern.
Insgesamt ist klar, dass sich die Hochschullehre in einer digitalisierten Welt umfassend ändern werden muss. Eine Interessensgruppe, auf deren Schultern ein erheblicher Teil dieser Änderungsprozesse lastet, sind die Lehrenden. Mit Blick auf den reichhaltigen Katalog an Änderungenbedarfen stellt sich dem Hochschullehrenden die Frage, wie dies zu bewerkstelligen sei. Erst kürzlich wurde das originäres Aufgabenspektrum der Hochschulen bereits durch Punkte wie Wissenschaftskommunikation und Transfer erweitert.
Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates behandeln an dieser Stelle die Digitalisierung im 360° Modus, in dem er feststellt, dass das Umfeld für Hochschullehre sich ebenfalls grundlegend ändern muss. Das betrifft eine Neuordnung der Berechnungsmethoden, die von Seiten der Politik zur Anwendung kommen um Kapazitäten von Hochschulen zu berechnen, Lehrdeputate zu bemessen, curriculare Normwerte festzulegen und Betreuungsverhältnisse zu erfassen. Die traditionellen Werkzeuge stammen aus dem letzten Jahrhundert, sind in einer digitalisierten Lehrwelt nicht mehr angemessen und brauchen eine grundlegende Überholung und Anpassung an eine digitale Lehrwirklichkeit. Der Arbeits- und Betreuungsaufwand setzt sich bei einer konsequent digital umgesetzten Lehre, insbesondere in einem Mischbetrieb bestehend aus Online- und Präsenzlehre, in völlig neuer Form. Wir brauchen neue Berechnungsgrundlagen und Anreize für Lehrende, um sich wirksam für die Digitalisierung der Lehre bei einer gleichzeitigen Verbesserung der Qualität zu engagieren.
Wer unterstützt die hauptamtlich Lehrenden bei der Umsetzung und dem dauerhaften Betrieb digitaler Lehre? Es entsteht ein erheblicher Aufwand für den Aufbau und vor allem auch für den Betrieb und die Pflege der digitalen Infrastruktur. Server müssen aktualisiert, Hardware muss installiert und Software muss gepflegt werden. Diese Aufgaben erfordern technisch qualifiziertes Personal, das es in dieser Form an Hochschulen viel zu wenig und viel zu schlecht bezahlt gibt. Digitalisierung ist keine einmalige Investition, sondern eine Daueraufgabe, sie braucht Budget und qualifiziertes Personal. Der Wissenschaftsrat spricht diesen Umbau des wissenschaftsstützenden Personals klar an, der aus Sicht der Hochschullehrenden unerlässlich ist.
Die Empfehlungen beinhalten mit der Diskussion um die Entwicklung und die Bereitstellung digitaler Lehrmaterialien ein weiteres wichtiges Themenfeld. Durch den breiten Zugriff auf Lehrmaterialien entsteht Unsicherheit bei den Lehrenden bzgl. der Verwendung von möglicherweise urheberrechtlich geschütztem Materialien. Um hier Sicherheit zu schaffen und Studierenden die bestmögliche Unterstützung zu bieten ist „Open Educational Resources“ (OER) ein zentrales Thema. Die effektive Bereitstellung von lizenzfreiem Lehrmaterial erfordert ein weitergehendes Engagement, z.B. für den Aufbau einer digitalen Infrastruktur über die ich als Lehrender existierendes OER-Materialien suchen und finden kann und über die ich auch die von mir erzeugten Lehrmittel anbieten und verteilen kann.
Die Digitalisierung kann auch einen Beitrag leisten, um den Lehrbetrieb an Hochschulen zu organisieren. Das Dokument des Wissenschaftsrats spricht in diesem Kontext über den „Digital Campus“. Dieser Campus erlaubt den gesamten „Student Life Cycle“ durchgehend digitalisiert und weitgehend automatisiert zu organisieren. Das beginnt mit der Immatrikulation, geht über die Prüfungsverwaltung, beinhaltet die Zeugniserstellung und geht bis zur Betreuung von Alumni-Programmen. In einem digitalen Campus sind Identitäten in elektronischer Form sichergestellt, Unterschriften können durchgehend digital erstellt und authentifiziert werden. An einigen Hochschulen gibt es in dieser Richtung bereits Ergebnisse und Fortschritte in Form von Campus Management Systemen, es bleibt aber noch viel zu tun, um hier die weitreichende Vision eines digitalen Campus zufriedenstellend zu realisieren.
Ein Thema, das mir im Bericht gefehlt hat, ist die Aufgabe die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen den Studierenden in einem gesicherten digitalen Raum abzubilden. So wie die traditionelle Hochschule Räume für die Lehre vorsieht, so braucht die Hochschule der Zukunft auch digitale Begegnungsräume. Wir können die Studierenden nicht sich selbst und den datenschutzrechtlich bedenklichen Anbietern überlassen. Die Kommunikation zwischen den Studierenden ist auch digital von zentraler Bedeutung.
Eine Problematik, die im Bericht angesprochen wird, die aber noch nach funktionierenden Lösungen sucht ist, wer die hochschulspezifischen IT-Systeme bereitstellt und kontinuierlich weiterentwickelt. Die Dynamik, die von kommerziellen Anbietern bzgl. Cloud-Dienste, Social Media, Streaming Services etc. betrieben wird, ist mit öffentlichen Einrichtungen kaum zu schaffen. Entsprechende Märkte für die Entwicklung von entsprechenden Unternehmen gibt es kaum.
Die Digitalisierung der Lehre ist ein umfassender, mittelfristig angelegter Änderungsprozess für die Hochschulbildung, der zwischenzeitlich signifikante Investitionen erfordert, aber auch Sparpotentiale mit sich bringt. Der Änderungsprozess verlangt allen beteiligten Interessengruppen die Bereitschaft zur Änderung ab. Aus meiner Sicht ist die Bewältigung der Herausforderungen eine essentielle Überlebensfrage für unser Bildungssystem und unseren Wohlstand.