Infopaket „Social Reading in der Hochschule – wissenschaftliches Lesen als soziales Erlebnis“

Infopaket „Social Reading in der Hochschule – wissenschaftliches Lesen als soziales Erlebnis“

26.09.24

Wissenschaftliches Lesen als interaktives Erlebnis mit sozialem Austausch?! Auf Social-Reading-Plattformen laden Dokumente zur Interaktion und zum Austausch von Wissen ein, indem Notizen, Kommentare oder sogar multimediale Inhalte an einen bestimmten Textabschnitt gesetzt und mit ihm verknüpft werden können. Dieser Beitrag thematisiert wissenschaftliches Lesen als soziales Erlebnis (Social Reading) und stellt das hierfür einsetzbare Online-Tool SHRIMP mit Blick auf für Lehre hilfreiche Nutzungsszenarien vor.

Was ist Social Reading?

Das Verständnis von Social Reading innerhalb dieses Infopakets fokussiert vor allem das Lesen als soziale Erfahrung und kommunikative Praxis. Social Reading kann folglich als gemeinsamer, online und dauerhaft stattfindender Austausch über Texte und in Texten verstanden werden (vgl. Pleimling 2012), „mit dem sich die wissenschaftliche Textarbeit kollaborativ, vernetzt und interaktiv gestalten lässt.“ (Schmohl 2021: 5). Technologische Unterstützung zur Strukturierung von Texten und zur Eröffnung von technischen Interaktionsmöglichkeiten innerhalb der Texte liefern dabei spezifische digitale Anwendungen.

Im Kontext von akademischen Lehrveranstaltungen erhalten Studierende die Möglichkeit, Gedanken und Fragen zum Text mit anderen zu teilen. Die gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text ermöglicht nicht nur ein tieferes Verständnis des Gelesenen, sondern fördert auch die Zusammenarbeit von Studierenden. Dies geschieht unter anderem durch die Möglichkeit, das eigene Textverständnis mit den Deutungen anderer Leser*innen abzugleichen sowie durch die daraus resultierenden Interaktions- und Reflexionsprozesse (vgl. Knipp 2017: 177f.). Über den textgebundenen Austausch mit Hilfe von Annotationen hinaus können selbst multimediale Inhalte hinzugefügt und bestimmten Textstellen zugeordnet werden.

Der digitale Aspekt des Social Readings ermöglicht orts- und zeitunabhängiges Lesen und Lernen, wodurch Studierende unabhängig von ihrem Standort oder physischen Barrieren am Lernprozess teilnehmen können. Darüber hinaus erwerben bzw. erweitern Studierende über die Rezeption von digitalen Texten ihre digitale Textkompetenz, die im digitalen Zeitalter eine Schlüsselkompetenz darstellt: „Digitale Textkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz des digitalen Zeitalters. Bezeichnet wird damit ein Bündel an Kompetenzen, die zur Rezeption und Produktion von digitalen Texten erforderlich sind […].“ (Frederking, Krommer (2019: 1). Diese Kompetenz umfasst nicht nur die Fähigkeit, Texte auf Bildschirmen zu lesen und zu schreiben, sondern auch den kritischen und reflektierten Umgang mit digitalen Medien und Tools.

Die im Folgenden beschriebenen Impulse veranschaulichen, wie anhand der Online-Tools SHRIMP kollaboratives Lesen mit Social Reading-Szenarien in der Hochschullehre gefördert werden kann.

Social Reading-Szenarien für Lehrveranstaltungen mit SHRIMP

Studierende können sich zur Vorbereitung auf Seminarsitzungen Texte kollaborativ erschließen, indem sie während des Lesens Kommentare zu bestimmten Abschnitten oder Passagen hinterlassen. So können sie ihre Gedanken mit Kommiliton*innen und der Lehrperson teilen oder (Verständnis-)Fragen stellen. Folglich kann eine Diskussion beginnen, die in der Sitzung aufgegriffen und vertieft werden kann. Außerdem können über die Kommentarfunktion zusätzliche Informationen wie Verlinkungen auf andere Textstellen oder weitere externe Quellen verweisen oder Textaufgaben (Lesefragen) hinterlegt werden. Die Strukturierung durch Lesefragen kann Studierenden bei der Texterschließung helfen und regt den Denkprozess zur Auseinandersetzung mit dem Text an. Außerdem werden Studierende dazu ermutigt, sich mit ihren eigenen Gedanken und Fragen aktiv einzubringen, indem sie auf die Lesefragen antworten. Gleichzeitig wird so die Reflexion des Gelesenen angeregt. Auf die Lesefragen und deren Antworten kann auch zu späteren Zeitpunkten wieder zugegriffen werden, beispielsweise zur Prüfungsvorbereitung.

Social Reading kann zur Vorbereitung und Aufbereitung von Hausarbeiten, Essays oder Referaten bzw. Präsentationen genutzt werden. Beispielsweise können Schlüsselaussagen im Text markiert und sowohl öffentliche Kommentare als auch private Notizen zu diesen anlegt werden. Zusätzlich erlauben Tags (Schlagwörter) die Verknüpfung von Textpassagen sowie die Strukturierung von Texten, beispielsweise können Definitionsansätze in unterschiedlichen Texten als solche benannt und im weiteren Verlauf des Leseprozesses vergleichend betrachtet werden. Auch die Korrektur einer Hausarbeit kann in der SHRIMP-Umgebung durch gegenseitiges Feedback über Kommentare realisiert werden. Durch die kollaborative Lernumgebung können unterschiedliche Perspektiven in den Dialog über den Text und im Text einbezogen werden.

Studierenden wird der Umgang mit wissenschaftlicher Literatur nahegebracht, wenn sie sich in einem Journal Club zu dieser austauschen. Beispielsweise können in einem wöchentlichen Termin reihum verschiedene, zu einem übergeordneten Thema relevante Paper mit einer Vor- und Nachbereitung, die gemeinschaftlich direkt im Dokument vollzogen wird, vorgestellt werden. Die Interaktion über die Social Reading-Funktionen hilft den Studierenden, inhaltlich ins Detail zu gehen. Durch den reflexiven Prozess im Austausch und Diskurs mit anderen Studierenden wird das tiefgehende Verständnis des Gelesenen gefördert.

Das Online-Tool SHRIMP für Social Reading in der Hochschule

Eine dediziertes Tool, das Social Reading ermöglicht und sich insbesondere für das kollaborative Arbeiten in und mit wissenschaftlichen Texten eignet, ist SHRIMP. Das browserbasierte Tool erweitert den Lesevorgang um eine interaktive, soziale Ebene und überträgt die zentralen Techniken des kritischen Arbeitens – Annotieren, Kommentieren, Diskutieren, Verknüpfen – in den digitalen Raum und ermöglicht dort kollaboratives Lernen (vgl. Universität Leipzig, Institute for American Studies 2022). Die Bedienung kann dabei abhängig vom Endgerät sowohl per Maus, per Touch oder per Stylus erfolgen. Lehrpersonen können PDFs in den sogenannten Pods hinterlegen, Rechte verwalten und bearbeitete Versionen der Dokumente herunterladen.

Der Screenshot zeigt eine Übersicht der Ordner und Dateien im Pod. Innerhalb der nach Wochen nummerierten Ordner befinden sich PDF-Dokumente. Diese Darstellung veranschaulicht, wie Inhalte innerhalb eines Pods thematisch oder chronologisch sortiert werden können.
Abbildung 1: Selbst erstellter Screenshot der Struktur eines Pods in SHRIMP mit Genehmigung von SHRIMP erstellt. CC BY-SA 4.0.

Für Markierungen innerhalb der Texte kann sowohl mit Texterkennung als auch mit Freihandmarkierungen gearbeitet werden, sodass auch per Texterkennung nicht erfassbare Scans (beispielsweise mittelalterliche Handschriften) oder auch Bildmaterial markiert werden können.

Feature-Tipp: Kommunizieren und diskutieren am Text

Texte können mit privaten Notizen versehen werden, die nur für die Ersteller*innen sichtbar sind und nicht mit anderen Nutzenden geteilt werden. Private Notizen werden am linken Rand und interaktive Elemente am rechten Rand angezeigt. Dies dient u.a. dem Erhalt der Übersichtlichkeit der Dokumente.

Der Screenshot zeigt ein Menü zur Erstellung verschiedener Anmerkungen in einem Dokument. Eine Stelle im Text ist markiert, zu der bereits eine private Notiz hinzugefügt wurde. Die private Notiz wird links neben dem Dokument angezeigt.
Abbildung 2: Selbst erstellter Screenshot von Kontextmenü, privater Markierung und privater Notiz in SHRIMP mit Genehmigung von SHRIMP erstellt. Textgrundlage Schmohl (2021: 1). CC BY-SA 4.0.

Außerdem können sichtbar für andere Mitglieder des Pods Kommentare verfasst werden. Mit diesen können beispielsweise Verständnisfragen gestellt, zusätzliche Informationen verlinkt oder Lernpfade angelegt werden. Die Studierenden können die Texte kollaborativ erarbeiten, sich über bestimmte Textstellen untereinander austauschen und miteinander diskutieren. Zusätzlich können Lesefragen, die beispielsweise von der Lehrperson angelegt werden, Studierende dabei unterstützen, den Text zielgerichtet zu lesen und Reflexionsprozesse anstoßen.

Screenshot eines PDF-Dokuments mit farblich unterstrichenen Textpassagen. Rechts im Bild befindet sich eine Kommentarspalte mit einer hinterlegten Lesefrage zur unterstrichenen Textstelle. Eine leere Textbox und ein Absende-Button zum Verfassen einer Antwort sind ebenfalls sichtbar. Darüber hinaus wird angezeigt, dass Antworten auf die Lesefrage bis zu einem bestimmten Datum gegeben werden können und für alle im Pod sichtbar sind.
Abbildung 3: Selbst erstellter Screenshot einer Lesefrage in SHRIMP mit Genehmigung von SHRIMP erstellt. Textgrundlage Schmohl (2021: 1). CC BY-SA 4.0.

Feature-Tipp: Sortieren und verknüpfen

Mithilfe von internen Links können zwei Textstellen bidirektional miteinander verbunden werden. Somit können Texte miteinander verglichen oder Rückbezüge hergestellt werden. Außerdem ist es möglich, auch Weblinks zu hinterlegen, die auf andere Seiten im Internet verweisen. Dies kann für erweiterte Fußnoten genutzt werden oder um multimediale Inhalte mit den Textstellen zu verknüpfen. Darüber hinaus können Textpassagen mit Tags (Schlagwörtern) versehen werden. So lassen sie sich mit Oberbegriffen oder wichtigen Konzepten verknüpfen. Die Texte werden so strukturiert und wiederkehrende Konzepte in verschiedenen Texten sichtbar gemacht.

as Bild zeigt eine Funktion zum Markieren von Textstellen mit benutzerdefinierten Tags. Eine Textpassage in einem PDF-Dokument ist ausgewählt und mit dem Tag „Didaktisches Konzept“ versehen. Die rechte Seitenleiste zeigt die Markierung und die Anzahl des ausgewählten Tags im Dokument.
Abbildung 4: Selbst erstellter Screenshot von verschiedenen Tags in SHRIMP mit Genehmigung von SHRIMP erstellt. Textgrundlage Schmohl (2021: 1). CC BY-SA 4.0.

Mit der Filterfunktion lassen sich gezielt verschiedenen Interaktionstypen, z.B. Kommentare, Links und Tags ein- und ausblenden.

Feature-Tipp: Reaktionen/Emojis

Auf Textpassagen, Kommentare und andere Interaktionen kann mit Emojis reagiert werden. Dies kann u.a. hilfreich sein, um das Augenmerk anderer Leser*innen auf bestimmte Textstellen zu lenken, visuelle Marker zu setzen oder non-verbal auf Kommentare zu reagieren. So werden soziale Interaktionen in der Textlandschaft gefördert und gleichzeitig individuelle Lernpfade unterstützt. Alltägliche und vertraute Kommunikationsgewohnheiten können somit in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Text übertragen werden.

Der Screenshot zeigt auf der linken Seite farblich markierte Textstellen im Dokument. Rechts befindet sich eine Kommentarspalte mit einer großen Auswahl an Emojis, mit denen auf eine markierte Textstelle reagiert werden kann.
Abbildung 5: Selbst erstellter Screenshot der Emoji-Funktion in SHRIMP mit Genehmigung von SHRIMP erstellt. Textgrundlage Schmohl (2021: 1). CC BY-SA 4.0.

Weitere Informationen zu SHRIMP

Frederking, Volker; Krommer, Axel (2019): Digitale Textkompetenz. Ein theoretisches wie empirisches Forschungsdesiderat im deutschdidaktischen Fokus. Verfügbar hier (letzter Zugriff 20.08.2024).

Knipp, Raphaela (2017): Gemeinsam lesen. Zur Kollektivität des Lesens in analogen und digitalen Kontexten (LovelyBooks). In: Böck, Sebastian; Ingelmann, Julian; Matuszkiewicz, Kai; Schruhl, Friederike (Hrsg.): Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen: V & R unipress, S. 171–190. Verfügbar hier (letzter Zugriff 20.08.2024).

Pleimling, Dominique (2012): Social Reading – Lesen im digitalen Zeitalter. Bundeszentrale für politische Bildung. Verfügbar hier (letzter Zugriff 19.08.2024).

Schmohl, Tobias (2021): Lektüreseminar online? Social-Reading-Tools als Grundlage für eine mediendidaktische Neukonzeption am Beispiel eines Moduls in einem universitären Masterstudiengang. In: Bremer, Kai; Ernst, Thomas; Geier, Andrea; Horstmann, Jan; Larrat, Ariane; Ries, Thorsten; Sittig, Claudius (Hrsg.): Während und nach Corona: Digitale Lehre in der Germanistik. Ergebnisse der digitalen Konferenz am 25./26. August 2020. Frankfurt am Main: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, S. 1-9. Verfügbar hier (letzter Zugriff 19.08.2024).

Universität Leipzig, Institute for American Studies (2022): Projekt der Leipziger Amerikanistik wird Teil der Nationalen Bildungsplattform. Verfügbar hier (Letzter Zugriff 19.08.2024).

Diese frei verfügbaren Publikationen geben weitere Einblicke und Anregungen zum Verständnis von Social Reading und zur Umsetzung von Social Reading in der Lehre:

  • Frederking, Volker; Krommer, Axel (2019): Digitale Textkompetenz. Ein theoretisches wie empirisches Forschungsdesiderat im deutschdidaktischen Fokus. Verfügbar hier (letzter Zugriff 20.08.2024).

Frederking und Krommer diskutieren, wie sich die Fähigkeiten zu digitalem Lesen und digitalem Schreiben zu einer gesamten Digitalen Textkompetenz bündeln, und thematisieren dabei u.a. den kompetenten Umgang mit dem Interaktivitätspotenzial eines Textes.

  • Schmohl, Tobias (2021): Lektüreseminar online? Social-Reading-Tools als Grundlage für eine mediendidaktische Neukonzeption am Beispiel eines Moduls in einem universitären Masterstudiengang. In: Bremer, Kai; Ernst, Thomas; Geier, Andrea; Horstmann, Jan; Larrat, Ariane; Ries, Thorsten; Sittig, Claudius (Hrsg.): Während und nach Corona: Digitale Lehre in der Germanistik. Ergebnisse der digitalen Konferenz am 25./26. August 2020. Frankfurt am Main: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, S. 1-9. Verfügbar hier (letzter Zugriff: 19.08.2024).

Der Beitrag beschreibt die Konzeption und Umsetzung von kollaborativen Textrezeptionsphasen im Rahmen eines Online-Lektüreseminars in einem Masterstudiengang am Hamburger Zentrum für Lehren und Lernen.

  • Schweighauser, Philipp; Regenscheit, Marion; Schmid, Jelscha (2014): Vom Close Reading zum Social Reading: Lesetechniken im Zeitalter des digitalen Texts. In: Dichtung Digital. Journal für Kunst und Kultur digitaler Medien, 16(2), S. 1-24. Verfügbar hier (letzter Zugriff 19.08.2024).

Die Publikation gibt einen Überblick über verschiedene Formen des Lesens vor dem Hintergrund des technologischen Fortschritts und der zunehmenden Digitalisierung. Neben Social Reading thematisieren die Autor*innen auch Close Reading und Distant Reading als Lesetechniken.

Disclaimer: Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Verbundprojektes Co³Learn der Technischen Universität Braunschweig, Georg-August-Universität Göttingen und Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Laufzeit 01.08.2021 – 31.12.2025) in Kooperation mit dem Projekt SHRIMP der Universität Leipzig. Das Ziel des Projektes Co3Learn ist es, die universitäre Lehre mit digitalen Tools (Programme, Apps) für die Kommunikation, Kooperation und Kollaboration in Studium und Lehre zu unterstützen. Das Projekt SHRIMP beschäftigt sich mit digital gestütztem Lernen im Hochschulkontext, didaktischen Potenzialen neuer Medien und dem Lesen im Hypertext. 

 

Derzeit wird die Entwicklung des Onlinetools SHRIMP durch öffentliche Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert. Im Rahmen von Test- und Entwicklungsphasen ist die Nutzung des Tools bis Ende des Sommersemesters 2025 kostenfrei möglich. (Stand 06-2024)

 

Informationen zum Datenschutz finden Sie unter: https://app.shrimpp.de/data-privacy.html

Eine Übersicht aller Co³Learn-Beiträge finden Sie hier:

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