Im Sokratischen Gespräch mit KI
Im Sokratischen Gespräch mit KI
22.11.23In einer zunehmend digitalisierten Bildungswelt stehen Studierende vor der Verlockung, generative KI-Tools wie ChatGPT als bequeme Lösungen für ihre akademischen Anforderungen zu nutzen. Doch birgt diese Vorgehensweise die Gefahr, den Bildungsprozess zu untergraben. Katharina Opper, Bildungswissenschaftlerin und E-Learning-Entwicklerin, beschäftigt sich deshalb mit einer innovativen Herangehensweise: Wie können generative KI-Modelle nicht nur Antworten liefern, sondern Studierende auch dazu anreizen, ihr kritisches Denken zu fördern und Wissen interaktiv zu erarbeiten? Inspiration bietet die sokratische Gesprächsführung, die Fragen stellt, ohne Antworten zu liefern. Indem generative KI durch gezielte Fragen Studierende dazu anregt, ihre Gedanken zu ordnen und zu begründeten Haltungen zu gelangen, lässt sich dieses etablierte sokratische Gesprächsmodell auch im digitalen Zeitalter neu interpretieren und nutzen.
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: ein Studierender sitzt am Schreibtisch, dieses Semester steht eine Hausarbeit an. Das Thema lautet „Geschlechterrollen in den Medien“. Ein Griff zum Smartphone, ein schneller Befehl an ChatGPT und – voilà – eine komplette Ausarbeitung erscheint auf dem Bildschirm.
Was für ein Segen für den Studierenden! Für Lehrende wiederum keine schöne Vorstellung. Untergräbt diese Art der Abkürzung über ChatGPT doch jeden akademischen Anspruch an Bildung und Lernen.
Vom Faktenlieferanten zum Denkanstoß
Was aber, wenn man generative KI-Tools nicht als bloße Antwortmaschinen nutzt, sondern als Impulsgeber für kritisches Denken? Der Schlüssel liegt in der Umkehrung des gewohnten Prozesses: Nicht das KI-Tool liefert Fertiges, sondern fordert die Studierenden heraus, selbstständig zu denken. Statt Antworten zu konsumieren, erarbeiten sie Wissen interaktiv.
Wie genau kann eine generative KI, die doch so einfach vermeintliche Lösungen ausspuckt, Studierende zum Lernen anregen?
Windeier durch kritisches Denken entlarven
Das Prinzip des Fragenstellens ohne selbst Antworten zu liefern, kennen wir aus der Philosophie. Sokrates war bekannt für diese Methode der Gesprächsführung, die durch Nelson und Heckmann weiterentwickelt wurde und heute auch in der Psychologie und Pädagogik eingesetzt wird (Horster, 1994).
Mithilfe der sokratischen Gesprächsmethode entlarven Teilnehmende sogenannte „Windeier“. Damit sind Begriffe gemeint wie Freiheit, Bildung oder Wahrheit, die im Alltag oft unbedacht verwendet werden. Leicht werden sie zu Worthülsen, die wir nicht genauer hinterfragen oder reflektieren (Horster, 1994, S. 7; S. 125). Sokratische Gespräche gehen diesen „Windeiern“ auf den Grund: Was meinen wir genau, wenn wir über „Bildung“ sprechen, was bedeutet sie für uns?
Die sokratische Methode neu interpretiert
Generative KI-Modelle ermöglichen eine Neuinterpretation der sokratischen Methode im digitalen Zeitalter. Im Rahmen meiner Masterarbeit habe ich eine Eingabeaufforderung (Prompt) entwickelt, mithilfe derer generative KI gezielte Fragen stellt, statt Antworten zu liefern. So wird ein Raum geschaffen, in dem Studierende ihre Gedanken im Prozess des Schreibens ordnen und zu einer begründeten Haltung gelangen können. Diese Form der Interaktion könnte nicht nur das kritische Denken fördern, sondern auch die Fähigkeit, Wissen selbst zu konstruieren und zu reflektieren.
Ein wesentlicher Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass die Eigenleistung der Studierenden im Vordergrund steht. Mit KI als Wegweiser statt als Antwortgeber werden die Studierenden zu selbständigem Denken angeregt.
Geringeres Risiko von Fehlinformationen
Generative KI-Modelle arbeiten mit Wortwahrscheinlichkeiten. Sie lernen mithilfe großer Mengen an Trainingsdaten, wie Sprache typischerweise verwendet wird. Sie erkennen, dass nach „Frühstück“ oft Wörter wie „Kaffee“ oder „Eier“ folgen. So soll Sprache möglichst natürlich reproduziert werden (Salden, 2023, S. 7).
Damit sind die Modelle anfällig für das Phänomen des „Halluzinierens“. Dabei erscheinen die Antworten des KI-Modells plausibel, sind aber inhaltlich nicht korrekt. Gerade Lernende, die sich in ein neues Thema einarbeiten, können möglicherweise nicht einschätzen, ob die Ausgabe eines Chatbots inhaltlich korrekt ist.
Im Sokratischen Gespräch jedoch hat das KI-Modell nicht die Aufgabe, Informationen zu liefern, sondern Rückfragen zu stellen. Studierende sind in diesem Setting weniger anfällig für die unkritische Übernahme von Fehlinformationen.
Im Sokratischen Gespräch mit einem Chatbot
Nehmen wir das eingangs beschriebene Szenario und drehen es um. Der Studierende gibt den von mir erstellten Prompt „Sokratisches Gespräch mit KI“ ein und wird nach dem Gesprächsthema gefragt. Der Dialog zwischen dem Studierenden und dem Chatbot, in diesem Fall ChatGPT, könnte folgendermaßen weiterlaufen:
Studierender: Ich möchte über das Thema „Geschlechterrollen in den Medien“ sprechen.
Chatbot: Können Sie ein konkretes Beispiel oder eine persönliche Erfahrung nennen, die Ihre Wahl dieses Themas beeinflusst hat?
Studierender: Naja, ich sehe zum Beispiel im Baumarkt häufig Werbung, die ganz schön viele Klischees bedient. Der Mann mit der Bohrmaschine in der Hand, der Mann am Grill, die Frau wiederum strahlend mit einem besonders wirksamen Putzmittel in der Hand.
Chatbot: Wie empfinden Sie persönlich diese Darstellungen, wenn Sie solche Werbung sehen?
Studierender: Sehr platt und in meinem Umfeld auch gar nicht wirklich zutreffend.
Chatbot: Was glauben Sie, warum solche klischeehaften Darstellungen in der Werbung nach wie vor verwendet werden?
Studierender: Vielleicht, weil die Produkte so besser verkauft werden und bei der Zielgruppe besser ankommen.
Chatbot: Welche Wirkung könnte das kontinuierliche Anzeigen solcher Geschlechterklischees auf die Gesellschaft haben?
…
Die Fragen nehmen ihren Ausgangspunkt in persönlichen Erfahrungen oder konkreten Beispielen, etwa der klischeebeladenen Werbung im Baumarkt. Im Gesprächsverlauf fragt der Chatbot dann zum Beispiel, warum eine solche Werbung eingesetzt wird. So nähert sich der Studierende dem Kern seines Themas und leuchtet verschiedene Perspektiven und Aspekte aus.
Didaktische Umsetzung in der Lehre
Die Rolle der Lehrenden ist damit keineswegs durch KI ersetzt. Ihre Aufgabe liegt in der Begleitung des Lernprozesses. Eine didaktische Umsetzungsmöglichkeit kann so aussehen (siehe Abb.1):
Abb. 1: Lernphasen des Sokratischen Gesprächs mit KI
- Information: Die Studierenden erhalten zunächst eine Einführung zur Funktionsweise generativer KI, sowie zu den Lernzielen und dem Ablauf eines Sokratischen Gesprächs.
- Sokratisches Gespräch: Studierende treten in den Dialog mit einem KI-Sprachmodell.
- Reflexion: Studierende vergleichen ihre Gedanken und Schlussfolgerungen mit vorhandener Literatur und Forschung.
- Diskussion: Gemeinsam mit Peers und Lehrenden diskutieren die Studierenden die Erfahrungen aus dem Sokratischen Gespräch. Dies geschieht sowohl auf der thematischen Ebene als auch auf der technologischen. Etwaige Unzulänglichkeiten des Chatbots können dabei einen guten Ausgangspunkt für eine Diskussion über die Grenzen und Potenziale von KI in der Bildung darstellen.
Das Sokratische Gespräch mit KI in der Praxis
Für meine Masterarbeit an der FernUniversität in Hagen erforsche ich durch die Befragung von Lehrenden und die Erprobung mit Studierenden, inwieweit das Sokratische Gespräch mit KI kritisches Denken unterstützen kann.
Nachdem ein erster Prototyp des Sokratischen Gesprächs mit KI durch verschiedene Lehrende getestet wurde, folgt nun die Durchführung mit Studierenden des Bachelors Bildungswissenschaft an der FernUniversität. In einem gemeinsamen Online-Projektseminar durchlaufen die Studierenden die vier Lernphasen.
Auch im Rahmen einer Session des Barcamps „KI in der Hochschullehre – Beispiele aus der Praxis“ am 27.11.2023, das e-teaching.org in Kooperation mit dem KI Campus durchführt, wird das Sokratische Gespräch mit KI durchgeführt und diskutiert.
Abbildung 2: Gesprächsbeginn mit ClaudeInstant – über meinen Sokratischen Chatbot auf poe.com (eigener Screenshot)
Probieren Sie das Sokratische Gespräch mit KI doch gleich selbst einmal aus!
Auf der Plattform Poe habe ich den Sokratischen Chatbot für ChatGPT, Claude und Llama erstellt. Die Plattform erfordert zum Start der Chats eine Registrierung, diese ist jedoch kostenfrei.
Die besten Ergebnisse für diesen Anwendungsfall erreichen Sie aktuell mit Claude oder ChatGPT 4.0.
Über den Link gelangen Sie zu meinem Profil und zu den verschiedenen KI-Modellen: https://poe.com/kaop5
Mich interessiert, welche Erfahrungen Sie mit dem Sokratischen Gespräch machen, auf welche Überraschungen oder Hürden Sie treffen.
Nehmen Sie sich doch kurz Zeit für meine anonyme Befragung:
Dort finden Sie auch meinen Prompt „Sokratisches Gespräch mit KI“.
Verweise
Horster, D. (1994). Das sokratische Gespräch in Theorie und Praxis. Leske + Budrich.
Salden, P. (2023). Didaktische und rechtliche Perspektiven auf KI-gestütztes Schreiben in der Hochschulbildung. Zentrum für Wissenschaftsdidaktik der Ruhr-Universität Bochum. https://doi.org/10.13154/294-9734
Hallo Katharina,
zuerst möchte ich dir zu deinem inspirierenden Artikel über die Nutzung der sokratischen Methode im Dialog mit KI gratulieren. Als Mitglied einer Online-Marketing-Agentur, die sich ständig mit den neuesten digitalen Trends auseinandersetzt, finde ich deine Perspektive auf die Integration von KI in den Bildungsprozess besonders aufschlussreich und zukunftsweisend.
Dein Ansatz, KI nicht als eine bloße Antwortmaschine, sondern als ein Instrument zur Förderung kritischen Denkens zu verwenden, ist genau das, was wir in der heutigen schnelllebigen, informationsüberfluteten Welt brauchen. In unserem Berufsfeld ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir nicht nur Informationen konsumieren, sondern sie auch hinterfragen und kritisch bewerten können. Deine Idee, KI-gestützte Systeme als Werkzeug zur Förderung dieser Fähigkeiten zu nutzen, ist ein brillanter Ansatz, der den Bildungsprozess revolutionieren könnte.
Besonders beeindruckt hat mich der praktische Teil deines Artikels, in dem du einen Dialog zwischen einem Studierenden und einem KI-gestützten Chatbot beschreibst. Diese Art des interaktiven Lernens, bei der Studierende dazu angeregt werden, über ihre Antworten nachzudenken und sie zu begründen, ist ein wertvoller Ansatz, um kritisches Denken und unabhängiges Lernen zu fördern. Es zeigt, wie KI als ein kraftvolles Werkzeug eingesetzt werden kann, das über die reine Informationsvermittlung hinausgeht.
Aus unserer Erfahrung im Online-Marketing wissen wir, wie wichtig es ist, ständig neugierig zu bleiben und Informationen nicht nur zu akzeptieren, sondern sie zu hinterfragen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Dein Ansatz, die sokratische Methode mit KI zu verbinden, passt perfekt zu diesem Bedürfnis nach tiefgreifendem Verständnis und kritischer Auseinandersetzung.
Ich freue mich darauf, zu sehen, wie sich dein Projekt weiterentwickelt und welche Auswirkungen es auf die Bildungslandschaft haben wird. Es könnte ein wichtiger Schritt sein, um Studierende besser auf die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt vorzubereiten, in der analytisches Denken und kreative Problemlösungsfähigkeiten immer wichtiger werden.
Danke nochmals für deinen erhellenden Beitrag und die inspirierenden Einblicke in die Möglichkeiten der KI im Bildungsbereich.
Mit besten Grüßen aus Neuss,
Šukri Jusuf
Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, dass die Integration von KI in den Bildungsprozess zwar innovativ, aber auch herausfordernd sein könnte? Katharina Opper bringt mit ihrer Idee, KI im sokratischen Stil einzusetzen, eine spannende Perspektive ins Spiel. Statt Antworten zu liefern, regt die KI zum kritischen Denken und zur tiefgründigen Auseinandersetzung mit Themen an.
Dies könnte eine wertvolle Methode sein, um die reine Informationsaufnahme zu überwinden und stattdessen ein tieferes Verständnis und reflektiertes Lernen zu fördern.