„Die Hausarbeit ist tot, es lebe die Hausarbeit!“ – Entwicklungsorientierung, wissenschaftliches Arbeiten und KI gemeinsam denken
„Die Hausarbeit ist tot, es lebe die Hausarbeit!“ – Entwicklungsorientierung, wissenschaftliches Arbeiten und KI gemeinsam denken
17.02.23Wenn Lehrende sich mündige Absolvent:innen wünschen, müssen sie sich mit den Gedanken der Studierenden auseinandersetzen und dürfen ihnen nicht den Mund verbieten, nicht den Stift und auch nicht das KI-Tool, so die These von Dr. Andrea Klein. Auch und gerade in Zeiten leistungsstarker KI-Tools bleibe das Schreiben von Hausarbeiten ein wertvoller Bestandteil des Studiums. Der Einsatz von KI-Tools könne langwierige Arbeiten abkürzen und so Freiräume für weiterführende Gedanken eröffnen. Die Aufgabe der Lehrenden bestehe darin, den Studierenden offen und interessiert zu begegnen und deren Entwicklungsprozesse klug zu begleiten. Wie das gelingen kann, damit setzt sich dieser Blogbeitrag auseinander und gibt Vorschläge zur konkreten Umsetzung.
Seufz, die lieben Hausarbeiten …
Ein beträchtlicher Teil der Studierenden schreibt nicht gerade gern Hausarbeiten, gleichzeitig lesen viele Lehrende sie nicht unbedingt mit Freude. Wozu also das alles? Als Annäherung an die wissenschaftliche Praxis und als Lerngelegenheit gedacht, dient die Hausarbeit als Ausweis der Fähigkeit, ein begrenztes wissenschaftliches Feld zu beackern. Nun trägt dieses Feld im Fall einer Hausarbeit selten Früchte. Sie ahmt „echte Wissenschaft“ nur nach, ein wirklicher Beitrag der Studierenden zum Diskurs entsteht selten und ist auch nicht intendiert.
Dennoch haben die Hausarbeiten einen Wert. Dieser Wert liegt im Prozess. Die Person, die die Hausarbeit schreibt, durchläuft einen Denk- und Aneignungsprozess, wenn sie Gedanken in Worte fasst. Denn gerade das zeichnet das Schreiben besonders aus: Der ansonsten flüchtige Gedanke wird festgehalten. Das Schreiben hilft zugleich beim Denken (vgl. das Positionspapier der Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung 2022).
Aktuell rufen manche aufgrund des Aufkommens leistungsstarker KI-Tools den Tod der Hausarbeit aus. Dahinter stehen zwei Annahmen. Erstens, die Studierenden müssten nun nicht mehr selbst schreiben, und zweitens würden sie auch das Denken bleiben lassen. Aber: Es ist nicht egal, wer ein KI-Tool nutzt. Denn die sinnvolle Nutzung erfordert u.a. Vorwissen und die Fähigkeit zum kritischen Denken (vgl. der Beitrag von Weßels, Mundorf und Wilder 2022). So ist es relevant, welchen Prompt der Mensch in das KI-Tool eingibt. Zudem ist mindestens genauso wichtig, wie der Mensch die Ausgabe des Tools einschätzt.
Wenn die Hausarbeit schon immer ein Imitieren des wissenschaftlichen Diskurses war, dann sollten wir uns jetzt fragen: Wie wird das denn wohl in Zukunft aussehen, was da nachgeahmt werden soll? Was denken wir also, wie in Zukunft wissenschaftliche Ergebnisse entstehen und mitgeteilt werden? Es braucht für den Diskurs eine textliche Grundlage. Etwas, das man in Ruhe lesen und mehrfach gedanklich wenden kann. Etwas, auf das man sich auch Jahre später noch beziehen kann. Ob dieser Text dann allein im stillen Kämmerlein oder mit der Hilfe von KI entstanden ist, sollte uns beim Lesen zunächst nicht weiter kümmern. Natürlich muss der:die Autor:in auch mündlich über die Inhalte und den Weg der Erkenntnisgewinnung auskunftsfähig sein. Dies wird aber niemals die Verschriftlichung ersetzen. Auch bei studentischen Texten könnten mündliche Verteidigungen in die Prüfung integriert werden (vgl. Spannagel 2023). Aber ist das wirklich nötig? Der Prozess des Schreibens, ungeachtet seiner technischen Umsetzung, verleiht dem Text den oben beschriebenen Wert.
KI-Tools for the win
In vielen Bildungskontexten erscheint es sinnvoll, bestimmte grundlegende Kompetenzen aufzubauen, bevor Hilfsmittel und Abkürzungen genutzt werden, ganz im Sinne von „erst rechnen lernen, dann den Taschenrechner verwenden“. Studierende sollten daher eine – noch zu definierende – Ausprägung von Schreibkompetenz und vor allem Urteilskraft erreichen, damit sie KI-Tools sinnvoll einsetzen können. Diese Kompetenz müsste wohl für jede Textsorte (Aufsätze, Briefe, Protokolle, Hausarbeiten usw.) von Neuem aufgebaut werden. Vor allem aber sollten die Studierenden in dieser Zeit das eigene Schreiben als Kreativitäts- und Denkwerkzeug entdecken und kennenlernen, das sie nicht mehr missen wollen. Dann spricht auch nichts gegen den (zusätzlichen) Einsatz von KI-Tools.
Mein Plädoyer: Lassen wir Lehrenden in unseren Seminaren die Studierenden Texte schreiben, die wir auch lesen wollen und die wir dann ausführlich würdigen: fundierte – kreative und mutige Texte, in denen die Studierenden sich ausprobieren, anstatt nur für die Note zu schreiben. Nutzen wir die Texte der Studierenden, um mit ihnen gemeinsam darüber nachzudenken und sie mit ihnen weiterzudenken.
Ob diese Texte mit oder ohne KI-Tools entstehen, ist zweitrangig. Sie werden daran gemessen, ob sie uns im Seminar weiterbringen – vielleicht hilft uns ein Text, weil in ihm bekanntes Wissen auf eine neue Art dargelegt wird. Vielleicht wird in einem anderen Text eine ungeahnte Verbindung hergestellt. Vielleicht entfalten wir dadurch neue Gedanken.
Es mag durch all diese Änderungen die Zeit gekommen sein, in der Studierende eine Stimme im Diskurs erhalten, weil die Tools ihnen erlauben, lästige Vorarbeiten drastisch abzukürzen und dennoch einen Überblick über das Feld zu erhalten. Sie werden schneller Literatur recherchieren und Inhalte erfassen können. Das lässt mehr Zeit fürs Denken. Für Studierende können die jüngsten Entwicklungen auch mehr Bildungsgerechtigkeit bedeuten. Nicht mehr nur jene, die zuhause beim Abendbrot mit den promovierten Eltern über ihre Hausarbeit diskutieren können, erhalten Feedback und Unterstützung, sondern auch alle anderen, sofern sie in der Lage sind, KI-Tools gewinnbringend zu diesem Zweck einzusetzen.
Eine entwicklungsorientierte Haltung in der Lehre – Game Changer für Lehrende und Studierende
Wenn wir als Lehrende den Studierenden helfen wollen, ihr Denken und dabei auch sich selbst als Person zu entwickeln, kann uns wiederum das Ideal der Entwicklungsorientierung helfen ( Burk & Stalder 2022). Entwicklungsorientierte Bildung denkt die Kompetenzorientierung einen Schritt weiter: Nicht nur, was ein Mensch wissen oder können soll, ist wichtig, sondern auch wie er sich entwickeln kann. Ich gehe davon aus, dass die meisten Studierenden etwas lernen und sich entwickeln wollen. Jene, die das nicht wollen, dürfen wir als Lehrende in dieser Haltung freundlich hinterfragen („freundlich“ ist im Wortsinn und nicht euphemistisch gemeint).
Die Zeiten, in denen es zwingend einen Hochschulabschluss braucht, um Karriere zu machen, sind vorbei. Zeugnisse werden weniger wichtig, Wissen als solches ist zudem frei verfügbar. Was also suchen Studierende an der Hochschule, wenn nicht ein Umfeld, das sie in ihrer Entwicklung fördert? (Dazu auch die Gedanken zum Kulturwandel an den Hochschulen im HDF-Diskussionspapier „Zukunftsbild Hochschullehre 2025“). Lehrende, die sich nur über ihren Expert:innenstatus definieren, werden daher für die Studierenden als Vorbild zunehmend uninteressant. Lehrende, die Studierende bei ihrer Entwicklung unterstützen, prägen – hoffentlich – die Hochschule der Zukunft [ähnlich hierzu die Blogbeiträge von Hanke (2023) und Dolderer (2022)]. Um dies zu tun, werden für Lehrende andere Fähigkeiten wichtiger als bisher: Zuhören und Fragenstellen, den nächsten Schritt erkennen und Impulse geben statt Reden und Bewerten. Ausführlicher finden sich diese Gedanken in meinem Buch zur coachenden Haltung „Mit Freude lehren“ (Klein 2022) und einem darauf basierenden Artikel “Terra Incognita” sowie in einem Blogartikel zur Rolle des „sage on the side“ (vgl. Klein 2021).
Als Lehrende brauchen wir für diese neue (alte?) Art der Bildung mehr Gelassenheit. Wir müssen nicht alles wissen und können, müssen nicht unfehlbar sein und auch nicht immer einen perfekten Plan haben. Ebenso wenig zielt entwicklungsorientierte Bildung auf eine fremdbestimmte Optimierung der Studierenden ab. Die Studierenden werden in einem solchen Setting gehört und ernst genommen. In eine ähnliche Richtung denken Pietsch und Zybura im HFD-Diskussionspapier zu “Sozialer Barrierefreiheit in der (digitalen) Lehre” (2022).
Paradoxerweise führen die technischen Entwicklungen vermutlich über kurz oder lang dazu, dass die Menschen an den Hochschulen wieder wichtiger werden. Wenn wir uns angesichts der Herausforderungen der Zukunft Menschen wünschen, die kritisch denken und mit kreativen Ideen aufwarten (mit oder ohne Hilfe von KI-Tools!), müssen wir aufhören, den Studierenden vorgegebene Inhalte vorzukauen und Lösungswege vorzuzeichnen. Wenn wir uns mündige Absolvent:innen wünschen, müssen wir uns im Studium mit ihren Gedanken auseinandersetzen und dürfen ihnen nicht den Mund verbieten, nicht den Stift und auch nicht das KI-Tool.
Vorschläge zur konkreten Umsetzung
In kleinen Studiengängen sei es einfach, wird beständig als Argument vorgebracht: Da kenne man ja „seine Studierenden“, man sei viel näher dran und könne somit auch den Schreibprozess und die Genese des Texts verfolgen. Das ist sicher richtig. Die Frage ist nur, was das im Zweifelsfall bringen soll. Wenn es prüfungsrechtlich „hart auf hart kommt“, hat dieser Eindruck, den man von den Studierenden gewonnen hat, vor Gericht keinen Bestand.
Was also tun – in kleinen und in großen Fächern? Nutzen wir mit den Studierenden die Tools und testen sie gemeinsam aus. So begleiten wir den Prozess des Schreibens, egal ob er mit oder ohne Tools stattfindet, und bewerten das Ergebnis, wenn wir das denn unbedingt müssen. Alle Texte haben durch die dahinterstehenden Lern- und Entwicklungsprozesse einen Wert, demnach auch unbewertete Texte.
In Bezug auf den inhaltlichen und didaktischen Rahmen des Schreibens lässt sich an zwei Punkten ansetzen. Wir können:
- die Aufgabenstellung ändern und die Eigenleistung betonen (siehe dazu auch Friedrich & Tobor 2023), sowie
- die Bewertungskriterien anpassen. Die Ansprüche an Texte werden schnell steigen, das wird sich über kurz oder lang in den Bewertungen niederschlagen.
Die größere Umstellung gilt es bei den Lehrenden zu vollziehen – im Sinne einer entwicklungsorientierten Haltung. Selbstverständlich muss niemand eine solche Haltung einnehmen. Ich habe oben versucht darzulegen, wieso es sinnvoll sein könnte. Wenn wir als Lehrende loslassen, die Kontrolle abgeben und die Studierenden auch einfach einmal machen lassen, entsteht Raum zum Denken, Aktivwerden und Entwickeln. Diese Forderungen sind nicht neu. Ganz im Gegenteil: In der Hochschul- und insbesondere der Schreibdidaktik bestehen sie mitunter seit Jahrzehnten.
Ganz praktisch kann das so aussehen, dass wir:
- Das Schreiben in die Fachlehre integrieren und als Denkwerkzeug nutzen.
Nicht jeder Text muss von einer zweiten Person gelesen, geschweige denn bewertet werden. Oft genügt es bereits, für sich selbst zu schreiben, die eigenen Gedanken in Worte zu fassen oder sie beim Schreiben zu entwickeln. - Peer-Feedback etablieren.
Wenn Texte von anderen gelesen werden sollen, kann Feedback bei entsprechender Anleitung und Begleitung auch auf Peer-Ebene hervorragend funktionieren. Das entlastet uns Lehrende und stärkt die Entwicklung der Studierenden. - Ein Writing Fellows-Programm aufsetzen.
Eigens dafür ausgebildete Hilfskräfte unterstützen Fachlehrende bei schreibdidaktischen Aspekten. - Studierendenkonferenzen durchführen.
Die Studierenden tragen ihre Ergebnisse vor und diskutieren sie mit den anderen Teilnehmenden.
Fazit
Das Schreiben von Hausarbeiten bleibt auch und gerade in Zeiten leistungsstarker KI-Tools ein wertvoller Bestandteil des Studiums. Es hilft den Studierenden, ihr Fach gedanklich zu durchdringen, sich Inhalte zu erschließen und diese neu zu verbinden. Der Einsatz von KI-Tools kann langwierige Arbeiten abkürzen und so Freiräume für weiterführende Gedanken eröffnen. Die Aufgabe der Lehrenden besteht darin, den Studierenden offen und interessiert zu begegnen und deren Entwicklungsprozesse klug zu begleiten. Dies kann durch eine entwicklungsorientierte Haltung in der Kombination mit schreibintensiver Lehre unterstützt werden.
Literatur
Burk, W., Stalder, Ch. (Hrsg.). (2022): Entwicklungsorientierte Bildung. Beltz.
Klein, A. (2022a): Mit Freude lehren. Was eine coachende Haltung an der Hochschule bewirkt. Budrich.