ChatGPT – Eine Chance zur Wiederbelebung des kritischen Denkens in der Hochschullehre
ChatGPT – Eine Chance zur Wiederbelebung des kritischen Denkens in der Hochschullehre
16.02.23Prof. Dr. Nina Weimann-Sandig sieht in der Veröffentlichung von ChatGPT einen Anlass, über unsere Prüfungskultur und die damit verbundene Vermittlung von Kompetenzen nachzudenken, anstatt mit Verboten zu reagieren. In ihrem Blogbeitrag plädiert sie dafür, lebensweltlich relevante Tools in die Hochschullehre einzubinden – und demonstriert anhand eines Beispiels, wie die Auseinandersetzung mit ChatGPT das kritische Denken der Studierenden fördern kann.
ChatGPT verbieten oder nutzen?
Begleitend zu allen Diskussionen um die „Wunder-KI“ ChatGPT werden nun die ersten Verbote an Universitäten bekannt. So gab beispielsweise, als erste französische Hochschule, das Pariser Institut für Politikwissenschaft (Sciences Po) bekannt, dass man den Einsatz der Software ChatGPT und künstlicher Intelligenz generell untersagt habe (Link). Begründet wurde dies mit der Sorge vor Plagiaten und Betrug bei Prüfungsleistungen. Diese Sorge ist sicherlich nicht unbegründet, scheint ChatGPT doch bei Klausuren an amerikanischen Universitäten gut abgeschnitten zu haben.
Mit Blick auf andere Prüfungsleistungen wie Hausarbeiten oder Essays ist dies allerdings eine sehr einseitige Argumentation. Sie unterstellt Studierenden eine gewisse Bequemlichkeit mit einem Hang, sich Prüfungsleistungen zukünftig mittels KI erstellen zu lassen. Angemessen wäre allerdings auch eine kritische Reflektion des aktuellen Standes und Zustandes dieser Prüfungsleistungen, gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Will sagen: Die Diskussionen um die Künstliche Intelligenz ChatGPT kommen zur rechten Zeit, denn wir brauchen längst eine Debatte über die Ausgestaltung traditioneller Prüfungsleistungen wie Hausarbeiten oder Essays. Bisher blieb diese Diskussion an vielen Hochschulen aus. ChatGPT, der „zaubernde“ Chatbot, der in Sekunden ganze Hausarbeiten produziert, leitet – endlich! – einen notwendigen turn ein: Wir müssen uns überlegen, wie Hausarbeiten und Essays zukünftig aufgebaut werden sollen, wenn wir sicherstellen wollen, dass sie tatsächlich von Studierenden und nicht vom Autor ChatGPT angefertigt werden sollen. Damit müssen wir aber auch uns Lehrende vermehrt in den Fokus rücken und die Frage stellen, welche Kompetenzen wir derzeit mit dem Anfertigen von Hausarbeiten bei unseren Studierenden schulen wollen – und ob uns dies gegenwärtig überhaupt gelingt. Damit bietet sich einmal mehr die Chance, das kritische Denken in der Hochschullehre zu forcieren und das Anfertigen von Hausarbeiten und Essays nicht mehr nur als reine Prüfungsleistungen, sondern als Möglichkeiten des Erwerbs grundlegender Schlüsselkompetenzen zu verankern. Wir müssen uns also der Frage widmen, warum kritisches Denken in der Hochschullehre eine Schlüsselkompetenz für die Zukunft unserer Studierenden darstellt und wie ChatGPT vielleicht dazu beitragen kann, kritisches Denken im deutschen Hochschulsystem breiter zu verankern.
Lohnenswert scheint zunächst eine Ist-Stand-Betrachtung. Diejenigen, die wissenschaftliches Arbeiten an Hochschulen lehren, kennen die zentrale Problematik beim Anfertigen von Hausarbeiten oder auch Essays: Viele dieser Schriftstücke werden heute ohne Fragestellung und Zuspitzung der Thematik, ohne Reflexionsteil oder Begründung der Vorgehensweise bei Literaturanalysen angefertigt. Dies bringt viele Studierende in Nöte, weil ihnen schlicht der vielzitierte rote Faden fehlt, um eine Hausarbeit in einem Umfang von durchschnittlich 15 Seiten wissenschaftlich angemessen anfertigen zu können. Gerade für Studierende, denen schriftliches bzw. akademisches Argumentieren schwerfällt, ist dies eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Dies liegt oftmals aber daran, dass die Studierenden keine klaren Vorgaben bekommen und es insgesamt eine große Heterogenität bei den Aufgabenstellungen gibt. Grundsätzlich ist zu beobachten: Je breiter die Themenstellung ist und je weniger eine differenzierte Fragestellung sowie ein explizit formuliertes, erkenntnisleitendes Interesse vorhanden sind, desto höher ist auch die Gefahr, ein bewusstes oder unbewusstes Plagiat bei der Korrektur von Hausarbeiten in den Händen zu halten. Denn je offener das Thema formuliert ist, desto mühevoller wird es für die Studierenden, sich einen Weg durch die Massen an Fachliteratur und verschiedenen Literaturquellen zu bahnen, und umso verlockender ist es, sich nach bereits existierenden Arbeiten umzusehen und hier und dort Textpassagen zu entnehmen, ohne diese umzuformulieren oder als Zitate und Quellen kenntlich zu machen. Die Orientierungslosigkeit führt also oftmals zu einer Überforderung, manchmal vielleicht auch zu einer Bequemlichkeit. Übernommen wird zumeist – das zeigen Plagiatssoftwares wie Turnitin in der Analyse von Hausarbeiten deutlich – aus ersten, also prominent in den Suchmaschinen platzierten, Quellen. Nur selten wissen Studierenden (gerade zu Beginn des Studiums), welche Qualität welcher Quelle zugrunde liegt und wählen bewusst aus. Sicherlich können wir sagen, dass die Möglichkeiten der Plagiatssoftwaren uns heute erlauben, viele Plagiate direkt zu erkennen. Wir könnten und sollten uns aber auch fragen, ob es nicht fehlende Diskussionen über Anforderungen von Hausarbeiten und verbindliche Qualitätskriterien innerhalb der Disziplinen sind, die Plagiate ermöglichen. Die Freiheit der Lehre ist ein hohes Gut, auch die Individualität der Dozierenden bei der Betreuung ihrer Studierenden. Allerdings machen bereits die gängigen Plagiatssoftwaren deutlich, dass die Qualität abgegebener Arbeiten mit der Qualität der dezidierten Fragestellung sowie den Gliederungsvorgaben einhergehen.
Nichts anderes offenbart sich auch durch die Nutzung der KI ChatGPT. Sie zwingt uns darüber nachzudenken, wie differenziert eine Fragestellung sein muss, damit wir ein Niveau von Hausarbeiten bekommen, das gängigen Kriterien des wissenschaftlichen Arbeitens entspricht und uns eine Grundlage für einen Diskurs über allgemeingültige Qualitätskriterien innerhalb der Disziplinen ermöglicht. Geübt werden kann dies am besten im Zusammenspiel zwischen Lehrenden und Studierenden, denn beide Seiten profitieren von dieser Auseinandersetzung mit den Angeboten der KI.
Praxistest: Studierende evaluieren ChatGPT-Ergebnisse
Hierzu ein Beispiel aus dem Testlabor unseres BediRa-Projektes. Ausgangspunkt war hier das Anfertigen einer Hausarbeit im Modul Familiensoziologie. Die Studierenden sind hierbei frei in der Themenwahl, dieses muss lediglich zum Seminarkontext passen. Die Studierenden waren aufgefordert, sich ein erkenntnisleitendes Interesse vorab zu überlegen. Dementsprechend wurde ChatGPT von den Studierenden folgende Aufgabenstellung übermittelt:
„Erstelle eine Hausarbeit zum Thema Regenbogenfamilien in Deutschland. Definiere den Begriff Regenbogenfamilien, grenze ihn von anderen Familienformen ab und beschreibe, wie sich die Zahl der Regenbogenfamilien in den vergangenen zehn Jahren verändert hat.“
Als Ergebnis kam folgende Verschriftlichung [27.01.2022]:
Regenbogenfamilien sind Familien, die aus gleichgeschlechtlichen Eltern und ihren Kindern bestehen. Diese Familienform unterscheidet sich von traditionellen Familienformen, die aus einem Mann und einer Frau sowie deren Kindern bestehen.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Regenbogenfamilien in Deutschland erhöht. Dies ist auf eine zunehmende Akzeptanz und Rechtsaufenthalte für gleichgeschlechtliche Paare zurückzuführen, die es ihnen ermöglichen, Kinder zu adoptieren oder durch künstliche Befruchtung zu bekommen. Außerdem ist auch das Bewusstsein für die Rechte und Bedürfnisse von Regenbogenfamilien gestiegen.
Obwohl es in Deutschland eine zunehmende Akzeptanz für Regenbogenfamilien gibt, gibt es auch noch viele Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen. Viele Regenbogenfamilien haben immer noch Schwierigkeiten, gesellschaftliche Anerkennung und rechtliche Absicherung zu erlangen. Daher ist es wichtig, dass Regenbogenfamilien unterstützt und geschützt werden, damit sie ein gleichberechtigtes und erfülltes Leben führen können
Eine Hausarbeit ist dies bei weitem nicht. Nach Durchsicht mit den Studierenden kam sofort die Einsicht, dass man ChatGPT um einen Gliederungsvorschlag hätte bitten können. Ebenso bemerken die Studierenden sofort, dass die Definition von Regenbogenfamilien sehr rudimentär ist. Auch werden keine konkreten Zahlen angegeben. Wir versuchen es also zu verbessern und die Studierenden geben nun folgende Aufgabenstellung ein:
„Das reicht uns noch nicht aus. Erstelle eine mögliche Gliederung für diese Hausarbeit. Ebenso brauchen wir eine differenziertere Definition. Ebenso benötigen wir konkrete Zahlen zur Verbreitung von Regenbogenfamilien in Deutschland. Gibt es diese?“
Während wir die erste Anfrage in 20 Sekunden beantwortet bekommen haben, dauert diese nun länger. Nach 90 Sekunden erhalten wir folgende Rückmeldung von ChatGPT [27.01.2022]:
1. Einleitung
a. Definition Regenbogenfamilien
b. Bedeutung des Themas
c. Ziel der Hausarbeit
2. Definition Regenbogenfamilien
a. Begriffsabgrenzung
b. Ursprung und Entwicklung
c. Charakteristika
3. Rechtliche Situation von Regenbogenfamilien in Deutschland
a. Ehe für alle
b. Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare
c. Stiefkindadoption
d. Fortpflanzungsmedizinische Behandlungen
e. Rechtliche Herausforderungen
4. Verbreitung von Regenbogenfamilien in Deutschland
a. Zahlen und Statistiken
b. Regionale Unterschiede
c. Vergleich zu anderen Ländern
5. Herausforderungen für Regenbogenfamilien
a. Gesellschaftliche Akzeptanz
b. Diskriminierung
c. Bildung und Erziehung
d. Finanzielle Situation
6. Unterstützung und Förderung von Regenbogenfamilien
a. Maßnahmen auf politischer Ebene
b. Initiativen und Organisationen
c. Bedeutung von Bildung und Sensibilisierung
7. Fazit
a. Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse
b. Perspektiven für die Zukunft
c. Handlungsempfehlungen
Zu den konkreten Zahlen zur Verbreitung von Regenbogenfamilien in Deutschland: Die Daten sind schwierig zu erfassen, da es keine spezifischen Angaben darüber gibt, wie viele Regenbogenfamilien es in Deutschland gibt. Laut einer Studie von 2019 gab es in Deutschland etwa 160.000 gleichgeschlechtliche Paare. Es ist anzunehmen, dass ein Teil dieser Paare Kinder hat, aber genaue Zahlen sind nicht verfügbar.
Zwischenfazit
Für die Studierenden ist dies zunächst faszinierend. Die umfassende Gliederung empfinden viele als absoluten Treffer. Bei einigen keimen jedoch große Zweifel auf: Wie soll diese Gliederung im Rahmen einer 15-seitigen Hausarbeit abgearbeitet werden? Inwiefern spielen diese Gliederungspunkte für eine soziologisch motivierte Hausarbeit eine Rolle bzw. ist die Gewichtung angemessen? Schnell wird deutlich: ein erkenntnisleitendes Interesse war bei den ersten Eingaben gar nicht formuliert worden, weil man thematisch viel zu wenig informiert war. ChatGPT gibt nun die Möglichkeit, Schwerpunkte zu setzen. In einer Mind-Map greifen Studierende das Unterthema „gesellschaftliche Herausforderungen für Regenbogenfamilien (Punkt 5) heraus und fächern dieses Thema weiter auf. Nach und nach erarbeiten sie individuelle Fragestellungen. Ebenso sind etliche Studierende von der Zahlenangabe noch immer nicht zufriedengestellt. Stimmt das wirklich, was ChatGPT hier angibt? Die ersten Studierenden machen sich sofort an die eigene Recherche und befragen Datenportale wie Destatis.
ChatGPT als Lerntool für Schlüsselkompetenzen
Dank ChatGPT sind wir also mitten im kritischen Denken angekommen! Die Studierenden erkennen die Möglichkeiten, die ChatGPT ihnen bietet, und sicherlich hätten einige bedenkenlos die Gliederung übernommen und sich zu jedem Gliederungspunkt von ChatGPT eine Textpassage erarbeiten lassen. Allerdings: die Zweifel, ob sie damit tatsächlich eine Hausarbeit mit einer differenzierten Fragestellung vorlegen könnten, bleiben ebenfalls bei diesen Studierenden. Auch hier entsteht also erhöhter Diskussionsbedarf. Auf diesem Weg verhilft uns ChatGPT zu etwas, was oftmals im Hochschulalltag auf der Strecke bleibt: Wir diskutieren gemeinsam und auf Augenhöhe über die Schwerpunktsetzungen von Hausarbeiten und die Kompetenzen, die wir durch das Anfertigen schulen wollen.
Aber was bedeutet kritisches Denken in der Hochschullehre überhaupt? Tatsächlich hat kritisches Denken sowohl in der psychologischen wie auch pädagogischen Forschung eine lange Tradition, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Disziplinübergreifende Übereinstimmung herrscht darin, kritisches Denken als Fähigkeit zu definieren, den Inhalt von Informationen (egal welcher Art) zu bewerten und Schlussfolgerungen abzuleiten, inwieweit man diesen Informationen Glauben schenken kann bzw. diskutieren muss, was man von ihnen halten soll (Paul/Elder 2010). Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Informationsdichte in den vergangenen drei Jahrzehnten – seit dem Durchbruch des World Wide Webs, der verschiedenen Internetsuchmaschinen und nunmehr entwickelter Chatbots – ist kritisches Denken als Schlüsselkompetenz in der Hochschullehre zu betrachten. Die Förderung kritischen Denkens ist eine der zentralen Bildungsaufgaben und wird im Europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (EQR) als Zielkategorie ausgewiesen (Jahn 2013). Kritisches Denken subsumiert insofern einzelne Kompetenzen wie Problemlösungskompetenz und Entscheidungsfindung nicht nur, sondern verbindet sie durch ihre Weiterentwicklung zur Reflexionskompetenz (Stifterverband 2021). Reflexionskompetenz ist elementar für das Kritische Denken, weil sie bisher etablierte Normen oder Wertekonzepte, Handlungsvollzüge, Informationen oder Entscheidungen auf den Prüfstand stellt.
Dem psychologischen Ansatz liegen zwei unterschiedliche Perspektiven zugrunde: die konstruktivistische und die soziokulturelle (Fthenakis 2021). Gerade mit Blick auf die Einbeziehung künstlicher Intelligenz in den Studienbetrieb an Hochschulen und in die Diskussion, ob man ChatGPT bei der Erstellung von Hausarbeiten oder Essays zulässt, kann die soziokulturelle Perspektive einen gelingenden Bezugspunkt bieten. Im Sinne einer soziokulturellen Deutung kritischen Denkens gehen wir davon aus, dass Kompetenzentwicklung und das Lernen an sich in den soziokulturellen Kontexten der Lernenden stattfinden. Der Wissenserwerb speist sich damit in der heutigen Welt sicherlich nach wie vor durch die Interaktion mit Menschen und nach wie vor durch persönliche Zusammenkünfte. Aber zusätzlich eben auch durch Interaktionen im digitalen Raum, die einerseits die Interaktion mit unbekannten Menschen, andererseits aber auch die Interaktion mit künstlicher Intelligenz beinhalten. Die Lebenswelten junger Menschen verändern sich zusehendes (ARD/ZDF-Onlinestudie 2017). Wenn wir Lernen als sozialen Prozess definieren, der eingebettet ist in die konkreten sozialen und kulturellen Kontexte von Menschen, dann müssen wir auch alle Entwicklungen im digitalen Raum einbeziehen. Die jungen Generationen werden sozialisiert durch umfassende mediale Erfahrungen und davon geprägt auch ihr Studium an den verschiedenen Hochschulen beginnen. Wenn wir heute über lebenslanges Lernen sprechen, dann muss die Hochschule selbstverständlich ein Ort sein, an dem neue digitale Entwicklungen ausprobiert werden können. Ob sie uns Sorge machen, wir ihnen skeptisch gegenüberstehen oder sie nur bestimmte Subgruppen erreichen, steht hier nicht zur Debatte. Wir müssen im Sinne des soziokulturellen Ansatzes anerkennen, dass jeder Mensch, jede Generation, unterschiedlich sozialisiert wird (Vygotsky 1978). Das Verständnis der Entwicklung kritischen Denkens hat sich während der letzten Jahre von einer angeborenen Fähigkeit immer mehr hin zu einer erlernbaren Kompetenz gewandelt. Der soziokulturellen Perspektive zufolge, kann kritisches Denken also im Lebensverlauf erworben und kontinuierlich trainiert werden, wenn man die Reflexionskompetenz von Menschen in allen Lernphasen grundlegend fördert. Mit Verboten neuer Entwicklungen aus dem Hochschulleben wird dies nicht erreicht und widerspricht zugleich auch dem Verständnis von Hochschulen als Orten neuester Entwicklungen und deren kritische Begleitung. Dabei ist kritisches Denken kein Standardkonzept. Wir brauchen intensive Diskussionen über die Art und Weise, wie kritisches Denken in der Hochschullehre umgesetzt werden kann. Das hier genannte Beispiel ist nur eines von vielen und durchaus nicht erschöpfend. Im Sinne eines Verständnisses von kritischem Denken als analytisch-epistemisches Denken (Jahn/Cursio 2021), kann ChatGPT einen grundlegenden Beitrag zur Weiterentwicklung dieser Kompetenz leisten. Denn hier geht es um ein Denken, das die Stimmigkeit von Argumentationen – mögen sie noch so überzeugend klingen und schnell produziert werden – hinterfragt. Es geht um ein Denken, das Analyseschritte entwickelt und zugleich nach empistemischer Gültigkeit fragt. Hierfür braucht es empirische, also überprüfbare Daten. Im Falle unseres kleinen Beispiels konnten die Studierenden beispielsweise recherchieren, dass im Jahr 2020 rund 12.000 gleichgeschlechtliche Familien mit Kindern in Deutschland lebten (Link), gemäß den Daten des Mikrozensus waren es im Jahr 2018 15.000 Mädchen und Jungen unter 18 Jahren, die in gleichgeschlechtlichen Paarfamilien aufwuchsen, 5.000 bei gleichgeschlechtlichen Ehepaaren und 10.000 bei eingetragenen Lebensgemeinschaften. Die Recherchen waren aufwändig und keinesfalls in 90 Sekunden möglich, denn: Vergleichskategorien für die Bewertung des Datenmaterials mussten erst einmal gefunden und diskutiert werden. Zugleich stellten sie fest, dass ChatGPT mit der Aussage über die schwere Erfassbarkeit durchaus nicht Unrecht hat, identifizierten jedoch auch die Gründe: Kinder von alleinerziehenden oder alleinlebenden LSBTI werden nämlich gegenwärtig in keiner Statistik erfasst. Und das haben sie ChatGPT dann auch so mitgeteilt…
Für uns als Lehrende (ge)bietet ChatGPT folglich auch ein Hinterfragen unseres Verständnisses von schriftlichen Prüfungsleistungen wie Hausarbeiten und Essays. Wenn wir von unseren Studierenden erwarten, dass sie auch zukünftig selbstständig wissenschaftliche Arbeiten anfertigen, dann ist es an uns zu hinterfragen, welche Kompetenzen ihnen die KI nicht abnehmen kann, welche wir aber mittels KI gemeinsam üben und erarbeiten können. Kritisches Denken ist eine solche Schlüsselkompetenz.
Literatur
- ARD/ZDF-Onlinestudie. (2017). Online verfügbar unter: Studie – Digitale Lebenswelten (bdkj.de)
- Fthenakis, W. (2021). Kritisches Denken als Kompetenz der Zukunft. In: Meine Kita 04-2021, S. 6-8.
- Jahn, D., Cursio, M. (2021). Kritisches Denken. Eine Einführung in die Didaktik der Denkschulung. Wiesbaden 2021: Springer VS.
- Jahn, D. (2013). Was es heißt, kritisches Denken zu fördern. Ein pragmatischer Beitrag zur Theorie und Didaktik kritischen Nachdenkens. In: Mediamanual, Texte 2013, Nr. 28.
- Paul, R., Elder, L. (2010). The Miniature Guide to Critical Thinking Concepts and Tools. Dillon Beach: Foundation for Critical Thinking Press.
- Stifterverband (Hg.). (2021). Future Skills. 21 Kompetenzen für eine Welt im Wandel. Online verfügbar unter: Startseite | Future Skills (future-skills.net)
- Vygotsky, L. S. (1978). Mind in society: The development of higher psychological processes. Cambridge, MA: Harvard University Press.