Ein Jahr ChatGPT in der Hochschule – Ein Zwischenfazit

Ein Jahr ChatGPT in der Hochschule – Ein Zwischenfazit

30.11.23

Wie hat das erste Jahr ChatGPT die Bildungslandschaft verändert? Welche Erkenntnisse ziehen wir daraus? Und natürlich: Wie geht es weiter? Doris Weßels ist Professorin für Wirtschaftsinformatik an der FH Kiel und Gründerin des VK:KIWA. Als Expertin für Natural Language Processing hat sie im deutschsprachigen Raum den Diskurs um ChatGPT im Hochschulkontext entscheidend mitgeprägt. Welches Zwischenfazit zieht sie aus einem Jahr ChatGPT?

Das erste Jahr mit ChatGPT glich einer Achterbahnfahrt der Gefühle, die von tiefem Schock bis zu ungläubigem Staunen reichte und bis heute anhält. Unmittelbar nach der Veröffentlichung am 30.11.2022 zeigte sich die große Irritation, die diese Form von Software bei uns Menschen auslöst. Sie sprengte unsere Vorstellungskraft. Nie zuvor hatten wir eine Software erlebt, die so produktiv Antworten auf alle möglichen (und unmöglichen) Fragen generierte und der wir menschliche Eigenschaften wie vorbildliche Höflichkeit, beneidenswerte Geduld und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein – bei völliger Unwissenheit – attestierten. Dazu kam der Spaß, wenn ChatGPT kompletten „Bullshit“ produzierte. Gerade die unterentwickelten Rechenkünste, die selbst bei einfacher Addition einem beliebigen Würfelergebnis ähnelten, sorgten in den ersten Monaten für viel Heiterkeit.

ChatGPT polarisierte daher von Anfang an. Während eine Gruppe von Nutzern das Tool in den ersten Wochen mit nicht enden wollenden Superlativen feierte, bewertete eine andere Gruppe diese Technologie als einen kurzen und flüchtigen Hype, den die Welt nicht braucht. ChatGPT löste bei den Lernenden eine Welle der Begeisterung aus, während die Lehrenden dieser neuen Technologie zumindest in den ersten Monaten sehr skeptisch gegenüberstanden, so dass mancherorts sogar Verbote ausgesprochen wurden – wie ein Reflex aus Überforderung im Umgang mit dieser Disruption und aus Unkenntnis der Technik und der Tool-Vielfalt in diesem Bereich. Für mich war es sehr überraschend, welche Ängste und Sorgen dieses Tool selbst bei digital affinen Lehrenden auslöste, die offensichtlich aus Gründen der Überforderung nach der ersten Schockphase versuchten, diese Entwicklung in ihrer Lehre auszublenden und „teaching as usual“ zu betreiben.

Positiv zu bewerten ist, dass diese Technologie eine Dynamik in den Bildungssektor gebracht hat, die ich so noch nicht erlebt habe und die uns geradezu zwingt, unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion und Weiterentwicklung unter Beweis zu stellen. Die „Sinnfrage“ von Bildung, neue Bildungsziele im Zeitalter der generativen KI, die notwendige Reform der Prüfungskultur, Bildungsgerechtigkeit, neue Formen des selbstgesteuerten Lernens, Future oder Next Skills – nahezu alle Bildungsthemen wurden und werden seit dem 30.11.2022 so intensiv und kontrovers diskutiert wie nie zuvor.

Überraschend war die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich ChatGPT bis heute entwickelt hat. Immer wieder wurde artikuliert, dass man sich wie ein Getriebener dieser disruptiven Veränderung fühle und mit diesem Tempo auf Dauer nicht mithalten könne, aber auch nicht abgehängt werden wolle. Wir haben in diesem Jahr gelernt, dass wir als Lehrende trotz aller Anstrengungen nun das lebenslange Lernen täglich und „vorbildlich“ praktizieren müssen, um unserer Rolle gerecht zu werden. Diese Technologie ist ein Game Changer und führt uns immer wieder eindrucksvoll vor Augen, dass die Anpassungsfähigkeit im Bildungsbereich mit der technologischen Entwicklungsgeschwindigkeit kaum mithalten kann und wir einen „Change“ im Mindset der Organisationsmitglieder, aber auch im Selbstverständnis und in den Prozessen unserer Organisationen benötigen. Die Zukunft von KI im Bildungsbereich wird davon abhängen, ob es uns gelingt, schnell genug – und im Konsens mit allen relevanten Stakeholdern – Mechanismen zur kontinuierlichen Neujustierung an veränderte Rahmenbedingungen zu schaffen und einen ausbalancierten Weg zu finden, der die Stärken von Mensch und Maschine bestmöglich kombiniert und zugleich die Risiken kontinuierlich im Blick behält und sie beherrschbar hält.

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