Barrierefreiheit in der digitalen Lehre: Die USA als Vorbild für deutsche Hochschulen?
Barrierefreiheit in der digitalen Lehre: Die USA als Vorbild für deutsche Hochschulen?
31.08.21Der barrierefreie Zugang zu Angeboten der Hochschulbildung ist in Deutschland gesetzlich verankert. Dabei geht es nicht allein um physische Barrieren. Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie ist klar, dass auch der Abbau digitaler Barrieren einen elementaren Baustein inklusiver Hochschullehre darstellt. Allerdings stehen viele Hochschulen in Bezug auf die Umsetzung barrierefreier digitaler Lehre noch am Anfang. Dieser Blogbeitrag beschäftigt sich mit den Fragestellung, was deutsche Hochschulen hinsichtlich der Barrierefreiheit in der digitalen Lehre von US-amerikanischen Hochschulen lernen können. Dabei beziehen wir uns auf die Ergebnisse der Studie von Dr. Axel Oberschelp “Informationsportale für eine barrierefreie digitale Lehre. Was können deutsche Hochschulen von den USA lernen?” sowie auf den Austausch im Rahmen des HFD-Digitaltags im Juni 2021 zum Thema „Digitale Barrieren – Strategien und Perspektiven“.
Inklusion und Digitalisierung
Laut einer Erhebung des Studierendenwerkes zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit sind rund 11% der fast 2,8 Mio. Studierenden an deutschen Hochschulen von einer studienrelevanten Beeinträchtigung betroffen. Es ist Aufgabe der Hochschulen, diesen Studierenden einen gleichberechtigten Zugang zu Hochschulbildung zu ermöglichen. Auch wenn die Hochschulen bereits an vielen Stellen um physische Barrierefreiheit bemüht sind, gewinnt angesichts der rasanten Entwicklungsgeschwindigkeit informationstechnischer Kommunikation und der damit verbundenen Zunahme digitaler Lehrangebote auch die Barrierefreiheit im virtuellen Raum an Bedeutung. Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie hat sich dieser Trend dramatisch verschärft: Seitens der Hochschulen besteht akuter Handlungsbedarf. Bei der Gestaltung inklusiver Hochschulbildung spielt die Digitalisierung der Lehre eine Schlüsselrolle. Durch die mit ihr verbundenen flexiblen, zeit- und ortsunabhängigen Lehr- und Lernarrangements können die Bedarfe diverser Zielgruppen in den Blick genommen werden. Damit die Chancen digitaler Angebote entsprechend genutzt werden und durch die Digitalisierung keine neuen Barrieren entstehen, bedarf es der „Umsetzung der gesetzlich verankerten Standards von Barrierefreiheit im Bereich E-Learning und digitaler Infrastruktur durch Länder und Hochschulen“.
Unabhängig von den aktuellen Entwicklungen im Zuge der COVID-19-Pandemie hat die EU mit Ihrer Richtlinie 2016/2102 bereits im Jahr 2016 einen klaren rechtlichen Rahmen zur Umsetzung digitaler Barrierefreiheit für öffentliche Institutionen gesetzt. Auch die Hochschulen wurden damit verpflichtet, entsprechende Maßnahmen bis zum 23. September 2021 vollumfänglich umzusetzen. Die Maßgaben der Richtlinie finden durch das Bundesgleichstellungsgesetz (BGG) und die Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BITV 2.0) ihre nationalstaatliche Umsetzung und Konkretisierung. In Deutschland geht diese noch über die Anforderung der europäischen Vorgaben hinaus.
Umsetzung an deutschen Hochschulen
Trotz der gesetzlichen Rahmenbedingungen und des darauf erfolgten Ausbaus unterstützender Infrastruktur ist die Umsetzung barrierefreier digitaler Lehre an vielen deutschen Hochschulen längst nicht so weit fortgeschritten wie notwendig. Hierzu gehört etwa etwa die barrierefreie Gestaltung von Webseiten, Texten und sämtlichen Lehrmaterials sowie die barrierefreie Planung und Durchführung von Lehrveranstaltungen und Prüfungen. Auch wenn konkrete Daten fehlen, ist zu konstatieren, dass die bisherigen Bemühungen der Hochschulen zur Förderung digitaler Barrierefreiheit kaum über Einzelmaßnahmen hinausgehen. Diese werden oftmals weder hochschulintern über verschiedene Stellen hinaus koordiniert noch hochschulübergreifend miteinander verbunden. Vielerorts agieren Betroffene, Lehrende und andere Hochschulmitarbeiter*innen gleichsam als Einzelkämpfer. Dieser Eindruck bestätigt sich auch in vielen Rückmeldungen, die das Hochschulforum Digitalisierung (HFD) im Rahmen seiner Community-basierten Arbeit erreichen. Mit einer Reihe von Formaten möchte das HFD die Thematik daher aufgreifen und gezielte Unterstützung im (Neu-)Gestaltungsprozess der Hochschulen bieten.
Internationale Perspektive
Im internationalen Vergleich nimmt das US-amerikanische Hochschulsystem eine beispielgebende Rolle ein, was Rahmenbedingungen und Supportstrukturen betrifft, die beeinträchtigten Personen den Zugang zu Bildungsangeboten ermöglichen. Die Vorreiterrolle der USA basiert insbesondere auf den weitreichenden Bundesgesetzen, die die Benachteiligung beeinträchtigter Studierender verbieten. Diese nahmen ihren Anfang bereits mit dem Rehabilitation Act von 1973. Wesentliche Gesetzesgrundlagen bilden u.a. der Rechtsanspruch auf den gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungsangeboten und damit verbunden auf alle notwendigen Unterstützungsleistungen unabhängig vom Kostenfaktor. Dieser Rechtsanspruch kann – im Gegensatz zur Situation in Deutschland – individuell eingeklagt werden. Weitere Gründe für die Vorreiterrolle der USA sind die starke Kunden- und Wettbewerbsorientierung und der ausgeprägte Digitalisierungsstand der US-amerikanischen Hochschulen.
Um von der vorbildhaften Situation in den USA potenzielle Handlungsfelder für die Verbesserung der Situation an deutschen Hochschulen abzuleiten, hat das HFD das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) mit einer Studie beauftragt, die die an US-amerikanischen Hochschulen entwickelten und implementierten Strukturen, Maßnahmen und Standards zur Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit detailliert analysiert.
Studie zu webbasierten Unterstützungsangeboten in den USA
Gegenstand der Studie ist eine quantitative Inhaltsanalyse der webbasierten Unterstützungsangebote von 20 exemplarisch ausgewählten US-amerikanischen Hochschulen. Die Stichprobe berücksichtigt Hochschulen unterschiedlicher Größe und räumlicher Lage sowie alle sogenannten Ivy-League-Hochschulen und Hochschulen, die in zwei zentralen Disability-Rankings der USA positiv bewertet wurden. Es werden vorrangig Hochschulen betrachtet, die bezüglich ihrer Lehr- und Forschungsprofile mit deutschen Hochschulen vergleichbar sind.
Ziel der Studie ist einerseits eine Bestandsaufnahme der inhaltlichen Ausgestaltung einschlägiger Informationsportale nach Angebotsform, Zielgruppe und inhaltlichen Aspekten. Andererseits wird untersucht, inwieweit die Ausgestaltung der Angebote mit bestimmten hochschulspezifischen und organisationsinternen Faktoren zusammenhängt. Ergänzend identifiziert die Studie Best-Practice-Beispiele und gibt erste Anhaltspunkte für die Übertragbarkeit auf das deutsche Hochschulsystem.
In Bezug auf die Ausgestaltung der Angebote zeigt sich in der Webseitenanalyse, dass die Unterstützungsangebote vor allem in Form externer Links und textlicher Hinweise vorliegen. Ebenso besteht eine Fokus auf assistiven Technologien sowie der barrierefreien Gestaltung von Webseiten, Dokumenten und bildlichen Darstellungen. Die Mehrheit der Angebote richtet sich nicht spezifisch an eine bestimmte Adressatengruppe. Sofern adressatenspezifische Angebote vorliegen, wenden sich diese deutlich häufiger an Lehrende als an Studierende. Angebote für Mitarbeiter*innen und Lehrende stehen häufig in Form von Webinaren, Workshops und (Video-)Tutorials zur Verfügung und bieten Unterstützung für die barrierefreie Gestaltung von Bildern, Videos, Webseiten und Dokumenten. Angebote für Studierende zielen dagegen vorrangig auf die Nutzung von Technologien, insbesondere von Audio-Text-Umwandlern, ab.
Laut der Studie besteht kein Zusammenhang zwischen dem Umfang der Unterstützungsangebote und hochschulspezifischen Faktoren, d.h. Forschungsorientierung, Anteil der Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Größe oder Ranking bzw. Renomée der Hochschulen. Das bedeutet auch, dass sich in Bezug auf die Zahl der Unterstützungsangebote weder die in der Studie untersuchten Ivy-League-Hochschulen noch diejenigen Hochschulen besonders auszeichnen, die in beiden Disability-Rankings positiv bewertet wurden. Letztere weisen sogar eine geringere Zahl von Unterstützungsangeboten auf – wenngleich es zu berücksichtigen gilt, dass die Quantität der Angebotsstruktur allein noch keinen Rückschluss auf die Qualität der Angebote zulässt.
Gleichzeitig zeigt sich ein gewisser Zusammenhang zwischen Größe, Art und Organisationsstruktur der Hochschulen und Form und Zielgruppen der Angebote: So richten kleine und mittelgroße sowie Ivy-League-Hochschulen ihre Angebote stärker an Bedarfen von Studierenden aus. Für die Ivy-League-Hochschulen wird ein doppelt so hoher Anteil von Angeboten für Studierende identifiziert, als es bei anderen Hochschulen der Fall ist. Grund hierfür könnten die hohen Kundenorientierung der Ivy-League-Hochschulen und damit verbundene Finanzierungsaspekte sein. Ein weiteres Ergebnis ist, dass in mittelgroßen bis großen Hochschulen die Unterstützungsangebote von wenigen, d.h. von ein bis zwei hochschulinternen Organisationseinheiten, verantwortet werden. Diese stellen gleichzeitig auch die am stärksten diversifizierten Angebote zur Verfügung. An Hochschulen mit weniger als 10.000 Studierenden besteht die Unterstützung hingegen vor allem in der Bereitstellung externer Links und textlicher Hinweise.
Insgesamt wird ein großer Einfluss der innerorganisatorischen Zuständigkeit auf Angebotsumfang und -formen deutlich. Zentraler Akteur zur Bereitstellung von Unterstützungsangeboten sind die IT-Services der Hochschulen. Von Ihnen allein werden 40 % der Leistungen angeboten. Gleichzeitig stellen sie die Organisationseinheit dar, die an 14 der 20 untersuchten Hochschulen an der Umsetzung der Angebote beteiligt sind. Dies ist auch der Grund dafür, dass der Schwerpunkt aller Angebote auf technologischen Aspekten der Barrierefreiheit liegt – etwa auf der barrierefreien Gestaltung von Webseiten, Dokumenten und bildlichen Darstellungen – und dass sich die Mehrheit der Angebote an keine spezifische Zielgruppe richten. Weitere wichtige Organisationseinheiten sind die Zentren für Didaktik und digitale Lehre, die an 16 von 20 Hochschulen an der Umsetzung spezifischer Angebote beteiligt sind und 24% der Angebote auch verantworten. Ihr Fokus liegt auf Lehr- und Lern-Technologien und auf Aspekten inklusiver Lehre. Die Angebote der Zentren für Didaktik und digitale Lehre sind deutlich diverser als die der IT-Services. Sie beinhalten vor allem Workshops, Webinare oder Tutorials und richten sich überwiegend an Lehrende mit dem Ziel, diese bei der barrierefreien Gestaltung von Bildern, Videos, Webseiten und Dokumenten für die Lehre zu unterstützen. Wichtige Inhalte sind digitale Unterrichts- und Prüfungsformen sowie der Einsatz von Lernmanagement-Systemen. Ein dritter wichtiger Akteur sind die Disability Services, die in 15 von 20 Hochschulen Unterstützung anbieten und ein Fünftel aller in der Studie ausgewerteten Webseiten und Angebote bereithalten. Die Angebote der Disability Services richten sich vorrangig an Studierende. Organisationseinheiten wie Bibliotheken, fachliche Einrichtungen, Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle in der Bereitstellung webbasierter Unterstützungsangebote.
Insgesamt zeigt sich, dass an den Hochschulen, an denen vorwiegend die Hochschul-IT das Angebot verantwortet, fast doppelt so viele Angebote vorliegen wie an denjenigen, wo überwiegend die Zentren für Didaktik bzw. digitale Lehre in der Verantwortung für die Unterstützungsleistungen stehen. Lediglich an den Ivy-League-Hochschulen haben die IT-Abteilungen bzw. die Hochschulverwaltungen einen geringeren Einfluss auf die Zahl der Unterstützungsangebote. Auch wenn die Studie nicht belegen kann, ob die Unterschiede strategisch bedingt sind, wird deutlich, dass organisationsinterne Strukturen großen Einfluss auf die Situierung von Maßnahmen und Angeboten innerhalb der Hochschulen haben.
Übertragbarkeit und Ausblick
Die Ergebnisse der Studie sind nicht eins zu eins auf die deutsche Hochschullandschaft übertragbar. Dies liegt insbesondere daran, dass das US-amerikanische Hochschulsystem angesichts der historisch gewachsenen rechtlichen Rahmenbedingungen, Strukturen und Digitalisierungsstände große Unterschiede zum deutschen Hochschulsystem aufweist. Nichtsdestotrotz bietet die Analyse verschiedene Erkenntnisse, die für die Betrachtung und Weiterentwicklung des deutschen Hochschulsystems interessant sind. Insbesondere macht die Untersuchung deutlich, dass hochschulinterne Organisationsstrukturen großen Einfluss auf die Anzahl und Struktur sowie die Zielgruppen von Unterstützungsangeboten haben. Für eine umfängliche und übergreifende Implementierung digitaler Barrierefreiheit bedarf es demnach sowohl klarer Zuständigkeiten innerhalb der Hochschulorganisation als auch einer weitreichenden Beteiligung der IT-Services, der Zentren für Didaktik bzw. digitale Lehre sowie der Hochschulverwaltung. Nur so können ausreichend vielfältige Angebote für diverse Zielgruppen entwickelt werden, die auch pädagogisch-didaktische Aspekte in angemessener Weise berücksichtigen.
Mindestens ebenso wichtig ist es, einen Werte- und Kulturwandel herbeizuführen, durch den (digitale) Barrierefreiheit statusübergreifend, proaktiv und selbstverständlich im Hochschulalltag mitgedacht und umgesetzt wird. Sensibilisierung und Aufklärung sind dabei wichtige Bausteine, um die unterschiedlichen Bedarfe Studierender mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen anzuerkennen und ihnen zu begegnen. Den Hochschulleitungen kommt bei der Initiierung dieses Werte- und Kulturwandels eine zentrale Rolle zu, sowohl in Bezug auf die programmatische Formulierung von Leitbildern und Zielen als auch hinsichtlich der Gestaltung der organisatorischen Rahmenbedingungen für die konkrete Umsetzung. Dazu gehört, dass bestehende hochschulinterne Strukturen und Maßnahmen auf ihre Eignung hin überprüft und ggf. angepasst werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Hochschulpolitik gefragt: Für die Umsetzung entsprechender Maßnahmen bedarf es finanzieller Ressourcen, die eine angemessene personelle Ausstattung einschlägiger Service-Einrichtungen erlauben. Eine tragende Maßnahme kann zudem die Etablierung zentraler Informationsportale sein, die etwa über assistive Technologien aufklären oder Orientierung in didaktischen Fragestellungen bieten. Sowohl Betroffene als auch ein möglichst breites Spektrum relevanter Akteure sollten in die Konzeption mit eingebunden werden, um den Erfolg und auch die Akzeptanz entsprechender Initiativen zu sichern.
Bei Rückfragen zum Thema Digitale Barrierefreiheit im Kontext des HFD wenden Sie sich bitte an:
Dr. Corinna Porsche | porsche@hrk.de | T 0228 887 – 187
Dr. Inken Rabbel | rabbel@hrk.de | T 0228 887 – 122
Bei Rückfragen zur Studie wenden Sie sich bitte an den Verfasser:
Dr. Axel Oberschelp | oberschelp@dzhw.eu | T 0511 450670 – 348