Entwicklung eines KI-Studienganges – hochschulübergreifend und interdisziplinär
Entwicklung eines KI-Studienganges – hochschulübergreifend und interdisziplinär
13.01.25Der interdisziplinäre und hochschulübergreifende Bachelor-Studiengang „AI Engineering – KI in den Ingenieurwissenschaften” stellt mit fünf kooperierenden Hochschulen eine Besonderheit im deutschen Hochschulwesen dar. Johannes Schleiss, der als Projektmanager die Entwicklung des Studiengangs koordiniert, spricht mit beteiligten Hochschulleitungen und teilt seine Erfahrungen zur Konzeption und Einführung eines solchen Studiengangs.
Die Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) im Kontext verschiedener Fachgebiete wird in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. Dabei sind Lehrveranstaltungen und Studiengänge gefragt, die den Studierenden ein fundiertes Verständnis für KI-Technologien vermitteln und gleichzeitig auf die spezifischen Anforderungen der Fachgebiete eingehen (Schleiss, Laupichler et al. 2023). Das wiederum erfordert interdisziplinäre Ansätze der Curriculumentwicklung, eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachbereichen und ein Aufbrechen der Silos der Fakultäten. Anhand des Beispiels des Bachelorstudiengangs „AI Engineering – KI in den Ingenieurwissenschaften“ wollen wir in diesem Beitrag aufzeigen, wie interdisziplinäre Entwicklung und Gestaltung von Curricula fach- und hochschulübergreifend gelingen können. Entstanden aus einem Projekt der Bund-Länder-Initiative zu KI in der Hochschule, ist der Studiengang in seiner interdisziplinären Ausrichtung und auch in der Kooperation zwischen fünf Hochschulen in Sachsen-Anhalt einzigartig. Der Studiengang bietet die Möglichkeit, anwendungsnah KI in den Ingenieurwissenschaften umzusetzen. Im Folgenden nehmen wir euch mit in die Entstehung des Studiengangs und zeigen Herausforderungen und Umsetzungen auf.
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CHEtalk feat. Hochschulforum Digitalisierung: Kooperative Curriculumentwicklung – Erfolgreich zusammen: Wie können hochschulübergreifende Kooperationen aussehen?
Der Studiengang läuft seit dem Wintersemester 2023/24 und wurde in Zusammenarbeit von fünf Hochschulen und insgesamt acht Fachbereichen entwickelt. Er vermittelt Theorie und Anwendung von KI sowie ingenieurwissenschaftliche Prinzipien und Methoden. Die Studierenden haben die Möglichkeit, ihr Wissen in praxisnahen Projekten anzuwenden und sich auf die Herausforderungen einer komplexen und interdisziplinären Arbeitswelt vorzubereiten. Im Studiengang spezialisieren sich die Studierenden nach einem Grundstudium von vier Semestern an der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg (OVGU) in den letzten drei Bachelor-Semestern in einer von fünf ingenieurwissenschaftlichen Vertiefungen. Hierbei verantwortet jede Hochschule im Konsortium eine Vertiefung (siehe Abb. 1). Das bedeutet, dass Studierende im fünften Semester ggf. ihren Hochschulstandort wechseln, durch die Kooperation aber ein viel breiteres inhaltliches Angebot als nur an einer Hochschule zur Verfügung haben. Die Studierenden sind bei allen Hochschulen eingeschrieben und werden nach einem Verteilungsmodell auf die Studierendenstatistik der Hochschulen angerechnet.
Die Entwicklung des Studiengangs entstand aus einem gemeinsamen Verbundprojekt der fünf Hochschulen in der Bundesländer-Initiative, in dem der Wunsch nach neuen Lösungen für (KI-)Studiengänge gereift ist. Zentral war dabei die Frage, wie Ressourcen und Kompetenzen landesweit in einem Studienangebot vereint werden können. Durch die Entscheidung für einen Kooperationsstudiengang ermöglichen wir den Studierenden, ein vielfältiges und breites Angebot wahrzunehmen und stärken gleichzeitig die Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen. Die Entscheidung der Zusammenarbeit wurde frühzeitig in der Entwicklung getroffen und durch eine Absichtserklärung der Hochschulleitungen untersetzt. Die Entwicklung des Studiengangs möchten wir im Folgenden auf organisatorischer Ebene in Form der Gestaltung der Kooperation sowie auf inhaltlicher Ebene in Form der Beschreibung der partizipativen, hochschulübergreifenden Curriculumentwicklung erläutern.
Die organisatorische Ebene: Gestaltung der hochschulübergreifenden Kooperation
Die größte organisatorische Herausforderung im Projekt stellte die mangelnde Reglementierung und Formalisierung der Kooperation zwischen den Hochschulen vor dem Start des Verbundprojekts dar. Bisher erfolgte die Entwicklung von Studiengängen meist in spezifischen Fachbereichen, deren Gestaltung nicht zwangsweise gemäß des bestmöglichen Kompetenzprofils erfolgt, sondern danach, welche Personalkapazitäten in welchen Fachbereichen vorhanden sind, um ein Ausbildungsangebot realisieren zu können. Insbesondere im KI-Bereich fehlt es den meisten Hochschulen in Sachsen-Anhalt an ausreichenden Lehrenden, um Studiengänge mit einem starken KI-Schwerpunkt anzubieten.
Als Lösung und Baustein wurde durch das Projektteam das Kooperative, Integrative, Synergetische Studienmodell (KISS) entwickelt. Es basiert auf dem Willen zur Intensivierung der hochschulübergreifenden Zusammenarbeit, ausgelöst durch das AI Engineering Projekt. Die Ziele des KISS-Modells umfassen die Entwicklung eines kooperativen Studienangebots, die Bündelung der Ressourcen aller Partnerhochschulen, die Stärkung der interdisziplinären Zusammenarbeit über Hochschulgrenzen hinweg sowie die Realisierung von Synergieeffekten durch gemeinsame Entwicklungsarbeit und unbürokratischen Lehraustausch. Die drei Kernelemente des Modells umfassen gemeinschaftliche Studien- und Prüfungsordnungen, die Immatrikulation der Studierenden an allen beteiligten Hochschulstandorten und ein aufwandsgerechtes Mittelverteilungsmodell. Diese werden durch eine Kooperations- und Verwaltungsvereinbarung, einen gemeinsamen Prüfungs- und Studienausschuss sowie klare Verantwortlichkeiten und eine Prozessübersicht für Verwaltungsprozesse unterstützt. Das Curriculum und der Studienverlauf im Rahmen der Kooperation gewährleisten, dass das Ausbildungsangebot mit den verfügbaren Kapazitäten an den beteiligten Hochschulen umgesetzt werden kann. Ohne diese Kooperation wäre es nicht möglich, dass jede Hochschule einen eigenen AI-Engineering Studiengang in derselben Qualität anbietet.
Die hochschulübergreifende Zusammenarbeit ist auch für die Hochschulleitung strategisch von großer Bedeutung. Der Vizepräsident für Studium, Lehre und Weiterbildung der Hochschule Anhalt, Prof. Dr. Hans-Jürgen Kaftan, hebt hervor, dass sowohl Hochschulen als auch Unternehmen bei der Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) vor neuen Herausforderungen stehen. Künftige Lehrinhalte zu KI sollen in allen Wissenschaftsdisziplinen integriert werden, was langfristig auch anderen Studienangeboten zugutekommen kann. Dies ist besonders wichtig für Unternehmen, die ein breites Angebot an KI-Fachkräften benötigen. Der gemeinsame Studiengang verschiedener Hochschulen bietet dabei die Möglichkeit, Expert:innenwissen zu bündeln, Fachkräfte für unterschiedliche Branchen auszubilden und den Wissenstransfer zwischen Lehrenden zu fördern.
Prorektorin für Studium und Lehre der OVGU, Prof. Dr. Susanne Schmidt ergänzt, dass durch die Zusammenarbeit der Hochschulen in Sachsen-Anhalt den Studierenden ein breites Ausbildungsangebot zur Verfügung steht. Die Absolvent:innen werden in der Lage sein, innovative KI-Lösungen an der Schnittstelle zu den Ingenieurwissenschaften zu entwickeln. Der neuartige Studiengang kann als Leuchtturmmodell für weitere gemeinsame Studiengänge im Land und darüber hinaus dienen. Zudem schafft er Raum für weitere Kooperationen, Synergien und die Bündelung von Ressourcen zwischen den Hochschulen.
Eine der größten Herausforderungen aus Sicht der Hochschulleitung betrifft die Entwicklung und Umsetzung eines neuartigen grundständigen Studiengangs, der keine Referenzmodelle hat und Interdisziplinarität in den Vordergrund stellt. Prof. Schmidt betont, dass der Erfolg dieses Studiengangs stark von der effektiven Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den beteiligten Hochschulen abhängt. Dabei sind bürokratische Hürden und administrative Aufgaben, die durch einen standortübergreifenden Studiengang entstehen, besonders anspruchsvoll. Es ist notwendig, eine gerechte Verteilung der Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse sicherzustellen, um Konflikte und Missverständnisse zu vermeiden.
Prof. Kaftan ergänzt, dass das Hochschulgesetz eines Landes lediglich die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Einrichtung von Studiengängen vorgibt. Die Erarbeitung einer von den Gremien mehrerer Hochschulen bestätigten Studien- und Prüfungsordnung erforderte umfangreiche Abstimmungsprozesse. Es mussten zahlreiche Fragen geklärt werden, etwa zur Einschreibung, zum Studierendenstatus, zur Zuordnung von Lehrkapazitäten und zu den statistischen Meldungen. Auch gegenwärtig, ein knappes Jahr nach Einführung des Studiengangs, sind noch Aufgaben zu lösen, die sich aus der kooperativen und hochschulübergreifenden Durchführung des Studiengangs ergeben.
Ohne ein starkes Projektteam und die Finanzierung von Bund und Ländern wäre es wohl nicht möglich gewesen, diese Abstimmungsprozesse durchzuführen und Lösungen für die einzelnen Probleme zu finden. Um den Studiengang auch nach der Projektlaufzeit weiter zu begleiten, wurden bereits hochschulübergreifende Strukturen wie beispielsweise ein gemeinsamer Prüfungsausschuss und ein gemeinsamer Studienausschuss geschaffen. Diese werden den Austausch hochschulübergreifend sicherstellen und den Studiengang auch langfristig zum Erfolg führen.
Die inhaltliche Ebene: Partizipative Entwicklung des Curriculums
Im Bachelor-Studiengang AI Engineering wurden die Phasen im Rahmen mehrerer Curriculumwerkstätten (CW) umgesetzt. Die Curriculumwerkstatt, eine Methode zur Curriculumentwicklung, ermöglicht eine strukturierte und gleichzeitig flexible Erarbeitung der inhaltlichen Ausrichtung eines Curriculums unter Einbeziehung aller Stakeholder. Das Modell besteht aus fünf Phasen, die kompetenzorientiert den Prozess der Curriculumentwicklung leiten (Abb. 2).
Insgesamt wurden zehn Curriculumwerkstätten im Zeitraum von etwa sechs Monaten durchgeführt, um von der Problemidentifikation bis zur Entwicklung der Modulmatrix voranzuschreiten (ausführliche Informationen und Materialien zur Nachnutzung sind unter https://ai-engineer.de/wp/entwicklung/ verfügbar). Die benötigte Anzahl der Curriculumwerkstätten in den einzelnen Phasen wurde bewusst flexibel gehalten, um dem Entwicklungsprozess offen begegnen zu können. Teilnehmende waren die im Projekt beteiligten Professor:innen und wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen aller Hochschulen. Gesteuert und moderiert wurde der Prozess aus dem Projektteam heraus. Abbildung 2 beschreibt die Phasen sowie die Curriculumwerkstätten (CW), die für die Entwicklung von AI Engineering durchgeführt wurden.
Abb. 2: Phasen der Curriculumwerkstatt (CW) mit den für den Bachelor-Studiengang AI Engineering durchgeführten Workshops (eigene Abb.). Die Entwicklung und der Aufbau auf bestehenden Ansätzen von Curriculumwerkstätten ist in den folgenden Studien beschrieben: Manukjan et al. 2023, Bieber et al. 2023, Schleiss et al. 2023.
Lessons Learned
In der Nachfrage nach persönlichen Learnings aus dem Projekt betont Prof. Kaftan, dass das Projekt das große Potenzial hochschulübergreifender Studienangebote sichtbar gemacht und die Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen gestärkt hat. Ein persönliches Learning aus seiner Sicht ist, dass zur Entwicklung und Durchführung kooperativer Studiengänge sowohl rechtlich-organisatorische Rahmenbedingungen angepasst werden müssen als auch entsprechende IT-Schnittstellen zwischen den Campusmanagementsystemen der Hochschulen zu schaffen sind.
Prof. Schmidt fügt hinzu, dass die Entwicklung interdisziplinärer Studiengänge über verschiedene Hochschulstandorte hinweg einen strukturierten, aber auch flexiblen Ansatz erfordert. Die Hochschulen benötigen entsprechende Strukturen, um diese neuartigen Konzepte effektiv zu bearbeiten und alle beteiligten Bereiche wie Lehre und Verwaltung zu unterstützen. Die verstärkte Vernetzung und Kooperation durch dieses Studiengangsmodell bieten eine großartige Möglichkeit, um die Herausforderungen, vor denen die Hochschulen im Land stehen, anzugehen.
Im Prozess und der Gestaltung der Kooperation in unseren lokalen Rahmenbedingungen haben wir einige Erfahrungswerte mitgenommen.
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Einbindung aktiv gestalten: Prozesse müssen offen gestaltet sein und von einer guten Vor- und Nachbereitung flankiert werden, gleichzeitig braucht es eine klare Formulierung von Erwartungen und Aufgaben.
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Flexibilität und Struktur balancieren: Das Konzeptionsformat sollte strukturiert sein, aber gleichzeitig flexibel auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden eingehen, gerade in einer heterogenen Gruppe.
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In der Kürze liegt die Würze: Konzeptionsworkshops lieber kürzer mit klarem Fokus gestalten und dafür häufiger anbieten. Dabei klappt auch ein Online-Format sehr gut. Die Synthese von Ergebnissen kann auch im Nachgang von Konzeptionsworkshops erfolgen.
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Kommunikation ist aufwendig, aber lohnend: Die Neuentwicklung eines Studiengangs ist mit einem höheren Aufwand in Austausch und Erarbeitung verbunden, gerade fach- und hochschulübergreifend. Vor allem Gremien müssen auf Innovation vorbereitet werden, hierbei sind starke Befürworter der Entwicklung wichtig. Auch der Austausch zwischen Lehrenden in einem Fachsemester ist sehr lohnend.
Abschließend hoffen wir, dass dieser Beitrag neue Impulse für die Gestaltung zukunftsfähiger Curricula liefern konnte. Die intensive Zusammenarbeit über Fachgrenzen hinweg mag zwar anspruchsvoll sein, doch die daraus entstehenden Synergien und Erkenntnisse machen den Mehraufwand mehr als wett. Letztlich zeigt das Beispiel, dass Kooperation und Interdisziplinarität, so herausfordernd sie auch sein mögen, lohnenswerte Ergebnisse hervorbringen können.
Hier finden Sie weiterführende Informationen zum Studiengang: https://ai-engineer.de/
Quellen
Bieber, M., Manukjan, A., Schleiss, J., Neumann, F., Pohlenz, P. (2023): Die Nutzung der Curriculumwerkstatt im Rahmen der Curriculumentwicklung: Leitfaden und Fallbeispiel. In: Handbuch Qualität in Studium, Lehre und Forschung, S. 97–118.
Manukjan, A., Bieber, M. I., & Schleiss, J. (2023): Über die Curriculumwerkstatt zum Curriculum. Betrachtung anhand eines neuen Studiengangs an der Schnittstelle zwischen Künstlicher Intelligenz und Ingenieurwissenschaften. In: HDI 2023, S. 119.
Schleiss, J., Laupichler, M. C., Raupach, T., & Stober, S. (2023): AI course design planning framework: Developing domain-specific AI education courses. In: Education Sciences, 13(9), S. 954.
Schleiss, J., Manukjan, A., Bieber, M. I., Pohlenz, P., Stober, S. (2023): Curriculum Workshops As A Method Of Interdisciplinary Curriculum Development: A Case Study For Artificial Intelligence In Engineering. In: Proceedings of 51th European Society for Engineering Education (SEFI) Conference, S. 1180–1189.
Autor
Johannes Schleiß ist seit 2021 Projekt-Manager des AI Engineering Projekts und Doktorand im Artificial Intelligence Lab der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Er ist assoziierter Research Fellow beim KI-Campus und (ehemaliger) DigitalChangeMaker beim Hochschulforum Digitalisierung.
Interviewpartner:innen:
Prof. Dr. Susanne Schmidt ist Professorin für Internationales Management an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg und begleitet seit 2020 in ihrer Position als Prorektorin für Studium und Lehre u. a. die Entwicklung einer Digitalisierungsstrategie an der Universität.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Kaftan ist seit 2012 Vizepräsident für Studium, Lehre und Weiterbildung der Hochschule Anhalt. Aktuell verantwortet er mehrere Projekte zur Digitalisierung dieser Bereiche. An der Umsetzung des Projektes AI Engineering ist er insbesondere beratend und koordinierend beteiligt.