20 Thesen zur Digitalisierung der Hochschulbildung
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Wie wir uns informieren, miteinander kommunizieren und umgehen, arbeiten und einkaufen: Digitale Medien haben sich fest im Alltag etabliert und verändern zunehmend unser gesellschaftliches Zusammenleben, mit weitreichenden Auswirkungen auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene. Auch in den Hochschulen sind die Veränderungen und Herausforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, ganz grundlegender und struktureller Art und gehen weit über rein technologische Aspekte hinaus. In diesem Verständnis bezeichnet die Digitalisierung nicht nur die Überführung „analoger" Informationen und Verhaltensweisen ins Digitale. Vielmehr markiert das Stichwort „Digitalisierung" einen fundamentalen Wandlungsprozess, der etwa bestehende Konzepte der Wissensver- und -ermittlung sowie des Kompetenzerwerbs, Rollenverständnisse und Strukturen der Organisation und Zusammenarbeit in und um Hochschulen sowie politische Rahmenbedingungen umfasst. Das Diskussionspapier macht die darin enthaltenen Potenziale und Herausforderungen und den damit verbundenen Handlungsdruck sichtbar, der sich für die Politik, die Hochschulleitungen wie für die Lehrenden und alle weiteren Hochschulangehörigen ergibt: teils in Form von pointierten Zustandsbeschreibungen oder Entwicklungstendenzen, teils in Form von Empfehlungen oder Forderungen. Es zeigt sich, dass die einzelnen Facetten der Digitalisierung sich nicht allein auf die Lehre beschränken, sondern die Hochschule in ihrer Gesamtheit beeinflussen. Jenseits der technischen und didaktischen Gestaltung digitaler Lehr- und Lernangebote bedarf es daher einer strategischen Auseinandersetzung der Hochschulen mit der Digitalisierung und politischer Weichenstellungen zur Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen. Die Digitalisierung ist dabei nicht losgelöst von den bestehenden grundlegenden Herausforderungen im Hochschulsystem zu betrachten. Gestiegene Studierendenzahlen und die damit einhergehende Diversität zählen ebenso dazu wie eine nur langsam steigende Studierendenmobilität ausländischer Studierender und teilweise hohe Studienabbrecherzahlen von Bachelor-Studierenden. Die steigende Nachfrage nach hochwertig ausgebildeten Fachkräften und nach akademischen Weiterbildungsangeboten wird im Hinblick auf den sich abzeichnenden demografischen Wandel neue Lösungskonzepte erfordern. Im Zuge der Globalisierung stehen deutsche Hochschulen unter einem zunehmenden Wettbewerbs- und Innovationsdruck bei gleichbleibender bis sinkender Grundfinanzierung. Die Digitalisierung kann in diesem Kontext zur Verschärfung bestehender Herausforderungen beitragen und inhärente Spannungsverhältnisse intensivieren, etwa hinsichtlich der Finanzierung der Hochschulen. Sie bringt auch neue, eigene Herausforderungen mit sich, insbesondere im Hinblick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen. Zugleich trägt sie aber auch zur Bewältigung vieler der bestehenden Herausforderungen bei und zeigt neue Lösungswege auf. Nicht zuletzt bietet sie bisher nicht dagewesene Chancen zur Weiterentwicklung der Lehre und der Hochschulen. Die Auswirkungen und die Dynamik dieser Veränderungen, insbesondere hinsichtlich der drängenden hochschulpolitischen Gestaltungsprozesse, werden in den nachfolgenden Thesen adressiert. Die Thesen sind ein Zwischenergebnis der gemeinsamen Arbeit von über siebzig Experten aus Hochschulen, Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik in sechs Themengruppen des nationalen „Hochschulforums Digitalisierung", eines gemeinsamen Projekts des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft, der Hochschulrektorenkonferenz und des CHE Centrums für Hochschulentwicklung unter Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ziel des Hochschulforums ist es, die verschiedenen – potenziell vor- wie nachteilhaften – Auswirkungen der Digitalisierung zu untersuchen und konkrete Handlungsoptionen für Hochschulen und Politik zu entwickeln. Auf dem Weg dorthin sieht das Hochschulforum eine seiner zentralen Aufgaben darin, die aktuellen Veränderungen und Entwicklungen von lehrbezogenen Digitalisierungsprozessen aufzugreifen und zentrale Stakeholder aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft in einem übergreifenden Dialog zusammenzuführen. Das vorliegende Diskussionspapier dient als Beitrag zu dieser Debatte und bietet Anregungen zur kritischen Diskussion und Reflexion der aktuellen Entwicklungen an deutschen Hochschulen.
ZUM VERHÄLTNIS VON DIGITALISIERUNG UND HOCHSCHULENTWICKLUNG
Die deutsche Hochschullandschaft ist geprägt von großer Vielfalt und Heterogenität. Einen einheitlichen Weg zur Digitalisierung der Hochschullehre kann es bereits aufgrund dieser Diversität kaum geben. Darüber hinaus fordert die Digitalisierung eine noch deutlichere Profilbildung der Hochschulen als bisher. Digitale Lehr- und Lernangebote, Curricula und Studienstrukturen müssen sehr genau auf die jeweiligen Hochschulen, Zielgruppen und Kooperationspartner zugeschnitten sein. Beispielhaft ist hier das Zusammenspiel von digitalen Lehr- und Lernangeboten und Präsenzlehre, das sich je nach Studierendengruppe unterscheiden kann. Während für „traditionelle“ Studierende womöglich eine durch digitale Lehr- und Lernangebote angereicherte Präsenzlehre der richtige Weg ist, ermöglichen überwiegend digitale Bildungsangebote „nicht-traditionellen“ Studierenden neue Möglichkeiten der Verbindung von Studium und Berufstätigkeit oder Studium und Familie. Der Weg der Digitalisierung kann an den Hochschulen also sehr unterschiedlich verlaufen. Mit der erweiterten Differenzierung eröffnet die Digitalisierung den Hochschulen außerdem neue Möglichkeiten der Positionierung sowohl innerhalb der deutschen als auch insbesondere in der internationalen Hochschullandschaft.
Digitale Medien intensivieren den nationalen und globalen Wettbewerb. Digitale Lehr- und Lernangebote wie beispielsweise Massive Open Online Courses (MOOCs) oder online verfügbare Open Educational Resources (OER) machen nicht nur auf Hochschulen weltweit aufmerksam, sie bieten Studieninteressierten auch die Möglichkeit, sich vorab mit dem Studienangebot einer Hochschule vertraut zu machen und erste Kontakte zu Lehrenden zu knüpfen. Sie eröffnen der Hochschule daher als Marketinginstrumente Differenzierungspotenzial und werden weltweit bereits als solche Instrumente genutzt. Insbesondere kleine deutsche Hochschulen, die sich bislang wenig über Spitzenforschung im internationalen Hochschulfeld positionieren konnten, finden in digitalen Bildungsangeboten das Potenzial zur Profilbildung in exzellenter Lehre. Darüber hinaus bieten digitale Medien grundsätzlich neue und erweiterte Möglichkeiten, über Lehrangebote und Forschungsaktivitäten der Hochschule zu informieren. Hochschuleigene Websites und Social-Media-Kanäle sind bereits heute die meistgenutzten Informationsquellen für ausländische Studieninteressierte. Dabei fehlt es vielen deutschen Hochschulen noch an einer zielgruppengerechten internationalen Webseite zur Darstellung des Lehrangebots und der Forschungsaktivitäten, insbesondere in Form eines mehrsprachigen Informationsangebots. Mithilfe der Digitalisierung sollten sich Hochschulen daher um eine ganzheitliche Marketingund Kommunikationsstrategie mit zielgruppenspezifischen Angeboten bemühen. Das erhöht die Sichtbarkeit auf dem nationalen und internationalen Bildungsmarkt und führt zu einer besseren Rekrutierungsquote.
Der Einsatz digitaler Lehr- und Lernangebote unterstützt die Hochschulen grundsätzlich dabei, eine zunehmend heterogene Studierendenschaft in den verschiedenen Phasen des Studienverlaufs zu unterstützen. Digitale Lehr- und Lernangebote ermöglichen nichttraditionellen Studierenden einen erleichterten Zugang zum Hochschulstudium, indem sie sich prinzipiell flexibler an die individuellen Bedürfnisse und Wünsche von Studierenden, unterschiedliche Lebensformen, Bildungsbiografien und Studienstrategien anpassen lassen. Berufstätige, aber auch Studierende mit familiärer Verantwortung oder Menschen mit Behinderungen haben durch digitale Lehr- und Lernszenarien etwa die Möglichkeit, ein sowohl räumlich als auch zeitlich flexibleres Studium zu absolvieren. Dies gilt auch für Studierende aus dem Ausland, insbesondere aus Entwicklungs- und Schwellenländern sowie aus Krisenregionen, die flexibler einen Hochschulzugang erlangen und über digitale Angebote bei der Studienvorbereitung und -durchführung unterstützt werden können. Darüber hinaus können mithilfe digitaler Medien auch neue Lehr- und Lernangebote für die stetig wachsende Nachfrage nach wissenschaftlicher Weiterbildung im Kontext des lebenslangen Lernens geschaffen werden. Dabei gilt es zu beachten, dass der Studienerfolg insbesondere von nicht traditionellen Studierendengruppen in virtuellen Lehr- und Lernzusammenhängen stark mit der Verfügbarkeit von begleitenden Betreuungsangeboten zusammenhängt.
Im Rahmen der Individualisierung und Flexibilisierung des Studiums fördert der Einsatz digitaler Lehr- und Lernangebote die internationale Mobilität und erlaubt es Studierenden, einen Auslandsaufenthalt effizienter, erfahrungsintensiver und erfolgreicher in ihr Studium einzubinden. Dies geschieht auf drei Ebenen: Durch eine geschickte Kombination von Präsenz- und Fernstudium sowie digitale Prüfungen können Auslandsaufenthalte besser in den individuellen Studienverlauf integriert werden, beispielsweise im Falle sich überschneidender Semesterzeiten oder zu absolvierender Pflichtkurse. Diese Flexibilisierung kann bis zu einer „virtuellen Mobilität“ reichen, durch die ein Studium an einer deutschen Hochschule möglich sein wird, ohne notwendigerweise die gesamte Studiendauer in Deutschland verbracht zu haben. Darüber hinaus kann der interkulturelle Austausch durch eine frühe Vernetzung mit Studierenden vor Ort eine verbesserte Integration ausländischer Studierender ermöglichen. Nicht zuletzt kann der Einsatz digitaler Lehr- und Lernangebote den Erfolg eines Auslandsstudiums erhöhen. Insbesondere bei Bachelor-Studierenden liegen die Abbruchquoten ausländischer Studierender in Deutschland deutlich über denen deutscher Studierender. Intelligente digitale Auswahltests können Hochschulen dabei helfen, ihre Auswahlprozesse zu optimieren und ausländische Studierende nach Leistungen und individueller Eignung für die Hochschule auszuwählen. Intensive Vorbereitung ausländischer Studierender, die nicht nur darauf abzielt, ausreichende Vorkenntnisse aufzubauen, sondern auch eine Bindung zu Hochschule, Lehrenden und Kommilitonen herzustellen, kann ausländische Studierende dann dabei unterstützen, ihr Studium erfolgreich zu absolvieren.
Die weitreichenden Veränderungen der Digitalisierung in der Lehre beeinflussen auch die Rollen und Anforderungsprofile von Studierenden, Lehrenden und Verwaltungsmitarbeitern. Die neuen Formen kollaborativen Arbeitens und studierendenzentrierten Lernens fordern von den Studierenden eine stärkere Eigenverantwortung für ihren Lernprozess und eröffnen Möglichkeiten der Mitgestaltung der Lehre. Die Rolle des Lehrenden lässt sich in digitalen Lehr- und Lernszenarien eher als begleitende und ermöglichende Funktion im individuellen Lernprozess der Studierenden charakterisieren denn als die des Wissensvermittlers. Auch teilen sich die Aufgaben des Lehrenden heute so auf, dass mehrere Personen mit unterschiedlichen Funktionen die Lehre gemeinsam gestalten. Mediendidaktiker unterstützen bei der strukturellen und didaktischen Gestaltung der Lehre, Programmierer bauen die technische Infrastruktur auf, Lehrassistenten können Gruppen von Studierenden betreuen und durch angeleitete Peer-Reviews können Studierende selbst einen Teil der Leistungsüberprüfung ihrer Kommilitonen übernehmen. Entsprechend den neuen Aufgaben und Rollen bedarf es Beratungsangeboten zu Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten von Lehrenden und Mitarbeitern sowie eines personellen Kompetenzaufbaus zur Gestaltung von digitalen Lehr- und Lernangeboten an Hochschulen.
Die Hochschule ist der Ort der akademischen Lehre. Auch die Hochschulbibliothek behält ihre Funktion als zentraler Akteur in der Bereitstellung akademischen Wissens. Durch die Omnipräsenz von Informationen und Wissen im Digitalen entstehen heute jedoch neue Formen des akademischen Lehrens, Lernens und der Wissensproduktion auch außerhalb der Hochschulen. Insbesondere auf Lernplattformen erworbene Erkenntnisse und Kompetenzen erhalten zunehmend Anerkennung und Nachfrage, vor allem im Rahmen der beruflichen Qualifizierung. Diese Entwicklung läutet zwar nicht das Ende der klassischen Hochschulbildung ein, jedoch werden Studieninteressierte und Studierende zukünftig verstärkt die formale Anerkennung von außerhochschulischen, non-formalen und informell erworbenen Kompetenzen fordern beziehungsweise alternative Lernangebote wahrnehmen. Die Entwicklung qualitätsgesicherter Anerkennungsverfahren wäre ein erster Schritt, diesen neuen Wettbewerbsfaktor zu nutzen. Will die Hochschule ihre herausragende Stellung innerhalb der Gesellschaft beibehalten, bedarf es zudem einer vertieften Auseinandersetzung darüber, wie Hochschulen und Zertifizierungsakteure auf diese Entwicklungstendenzen reagieren können.
ZUM VERHÄLTNIS VON DIGITALISIERUNG UND AKADEMISCHER LEHRE
Unter dem Einfluss der Digitalisierung verändern sich die Strukturen der Lehr- und Lernorganisation grundlegend. Dies ist sowohl eine Steuerungsaufgabe für die Hochschulleitung als auch eine Anforderung an die Gestaltung konkreter Kurse und LehrLernmaterialien. Es entstehen neue didaktische Möglichkeiten der Wissens- und Kompetenzvermittlung. Die Entwicklungen in der Lehre auf eine Digitalisierung von akademischen Inhalten zu reduzieren, greift daher zu kurz. Auch ist der Einsatz innovativer Medien und technischer Infrastrukturen immer nur „Ermöglicher“ der Weiterentwicklung von Lehre, der sich stets an seinem Nutzen messen lassen muss. Innovationen sollten in didaktischer, curricularer und organisatorisch-struktureller Hinsicht einen konkreten Mehrwert liefern. Dabei bedingen sich technische und didaktische Entwicklung gegenseitig: Im Rahmen des technischen Fortschritts werden neue didaktische Fragestellungen aufgeworfen, während umgekehrt ebendiese die technische Entwicklung fordern und fördern. Hochschulen sollte es folglich nicht ausschließlich darum gehen, technische Innovationen voranzutreiben, beispielsweise durch die Entwicklung eigener Apps und Plattformen. Vielmehr sollten sie didaktische, organisatorische, strukturelle und curriculare Entwicklungen forcieren und dafür noch stärker als heute auf Kooperationen und bestehende Infrastrukturen und Anwendungen zurückgreifen.
E-Learning-Angebote werden an deutschen Hochschulen seit rund zwei Jahrzehnten in substanziellem Umfang eingesetzt. Weitreichende Veränderungen in der Lehre zeichnen sich allerdings nur langsam ab. Der Schlüssel zu einer besseren und individuelleren Hochschulbildung liegt nicht nur in der Verlagerung von Lehre auf digitale Plattformen, sondern vor allem in der Ermöglichung kollaborativen Lernens und neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Individuen und zwischen Institutionen. Die Erweiterung der Lehr- und Lernformen durch onlinebasierte Angebote ermöglicht aktivierende, motivierende und individualisierte Lernerlebnisse, die in diesem Umfang in Präsenz nicht abbildbar wären. Über digitale Plattformen können praxisorientierte und/oder forschungsnahe Kollaborationen ausgebaut werden, die Studierenden über virtuelle Gastvorträge, Podiumsdiskussionen und Q&A-Sessions, gemeinsam erstellte Materialien und vieles mehr eine projektbezogene Zusammenarbeit erlauben. Mithilfe digitaler Medien kann dabei auch die Zusammenarbeit zwischen Lehrenden auf nationaler und internationaler Ebene neu gestaltet werden: Lehrende können Lehr- und Lernmaterialien, wie z.B. Videos zu Lehreinheiten eines Kurses gemeinsam mit anderen Lehrenden vorbereiten oder online unter freier Lizenz verfügbare Lehreinheiten von weltweit anerkannten Dozenten für ihre Studierenden nutzen und diese dann in Präsenzseminaren an ihren jeweiligen Hochschulen vertiefen. Das stärkt nicht nur die Vielfalt und Qualität der Lehre, sondern auch die Zusammenarbeit beteiligter Wissenschaftler an Institutionen weltweit. Derartige innovative Kollaborationsformen haben durch den Einsatz digitaler Medien das Potenzial, internationale Hochschulkooperation neu zu denken. Die Institutionalisierung einer solchen Kollaborationsform zwischen Wissenschaftlern stellt für Hochschulverwaltungen und den jeweils nationalen Rechtsrahmen jedoch häufig eine Herausforderung dar.
Der Einsatz digitaler Medien ermöglicht grundsätzlich eine aktivierende, studierendenzentrierte Lehre und erweitert das Spektrum an Prüfungsszenarien. Studierende haben im Rahmen digitaler Lehr- und Lernangebote die Möglichkeit, in ihrer eigenen Geschwindigkeit zu lernen, und können stärker selbst festlegen, welche Lernmedien sie einsetzen und welche Plattformen sie im Lernprozess nutzen wollen. Auch können Studieninhalte besser an die Lebenswirklichkeit der Studierenden und an veränderte berufliche und wissenschaftliche Anforderungen angepasst werden. Der Einsatz von audiovisuellen und interaktiven Medien erlaubt es, authentischere Lehrmaterialien und Aufgaben zu stellen. Digitale Formate, die interkulturell sensibel gestaltet sind und an internationale Kontexte anschließen, können zudem das gemeinsame Lernen und Kooperieren von Studierenden aus verschiedenen Regionen der Welt und somit die Stärkung von Global Citizenship ermöglichen. Digital angereicherte Prüfungsformate können neben der reinen Leistungsmessung auch genutzt werden, um den individuellen Lernprozess der Studierenden besser zu begleiten und zu unterstützen. Digitale Medien bieten damit eine Vielzahl von Möglichkeiten, bestehende Formen der Präsenzlehre zu erweitern und zu verbessern. Durch ihren Einsatz werden die digitalen Kompetenzen der Studierenden gezielt gefördert, was auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung und Globalisierung der Arbeitswelt eine zentrale Anforderung an die Hochschulbildung darstellt.
Die umfassende Erhebung und statistische Auswertung lehr- und lernbezogener Daten, die unter dem Stichwort Learning & Academic Analytics gefasst wird, bietet eine Reihe von Chancen, die über die reine Lehr- und Lernsituation hinausgehen und eine intelligente Verzahnung von Hochschullehre und Hochschulmanagement ermöglichen. Die systematische Erhebung und Analyse der anfallenden Daten macht die Hochschulbildung transparenter und leichter vergleichbar. Vertiefte Erkenntnisse über Lehr- und Lernprozesse können zu einer Verbesserung von Lehrqualität und Studienbedingungen beitragen. Mittels komplexer Datenanalysen könnten in Zukunft unmittelbare Anhaltspunkte zum Lernstand von Studierenden gegeben und Kurse entsprechend flexibel angepasst werden, beispielsweise wenn ein Großteil der Studierenden Schwierigkeiten mit bestimmten Lerninhalten hat oder einzelne Studierende Gefahr laufen, das Kursziel nicht zu erreichen. Damit würde der Einsatz von Learning & Academic Analytics auch dazu beitragen, die Hintergründe von Studienabbrüchen noch besser zu verstehen und dem Verfehlen von Lernzielen frühzeitig entgegenzuwirken. Sie würden zugleich als Feedback für Lehrende dienen und könnten eine mögliche Ergänzung zu bisher weitgehend subjektiven Lehrevaluationen sein. Der Einsatz dieser technischen Möglichkeiten bietet somit auch die Chance, Ressourcen effizienter einzusetzen, und hat Auswirkungen auf Kernbereiche der Hochschulsteuerung, wie etwa die Personalkapazitätsplanung. Zentrale Voraussetzungen sind, dass die bestehenden und gegebenenfalls neu zu schaffenden Regelungen des Datenschutzes eingehalten werden, und dass nicht nur die Erhebung persönlicher Daten einvernehmlich und transparent geschieht, sondern dass auch der Einsatz von Learning Analytics auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basiert und einen konkreten Mehrwert für Studierende und Lehrende bietet. Auch darf nicht vergessen werden, dass die quantitative ebenso wie die qualitative Datenanalyse ihre Grenzen hat, insbesondere wenn es um die Erfassung von Kompetenzen, beispielsweise der Handlungsfähigkeit in komplexen Situationen, geht. Dennoch bieten Learning & Academic Analytics eine Vielzahl von bisher nicht existenten Möglichkeiten, den erheblichen Forschungsbedarf zu Lehr- und Lernprozessen zu decken, die Qualität von Lehr- und Lernprozessen zu erhöhen und die Hochschulsteuerung zu optimieren.
Mit der Verlagerung eines Teils der Lehr- und Lernaktivitäten in den digitalen Raum verändern sich auch bestehende physische Lernwelten. Die Berücksichtigung von neuen didaktischen Lehr- und Lernstrukturen in der Architektur der Hochschulen – zum Beispiel in den Hochschulbibliotheken – steht vielerorts aber noch aus. Neben der Notwendigkeit zur technischen Ausstattung von Vorlesungs- und Seminarräumen müssen diese vor allem so gestaltet werden, dass sie neue Formen der Zusammenarbeit in Präsenz abbilden. Der klassische Ansatz der Wissensvermittlung, wie ihn beispielsweise ein traditioneller Hörsaal konstituiert, wird abgelöst von einer Zentrierung auf den Lernenden, bei der die vernetzte und kollaborative Wissenserstellung im Vordergrund steht. Seminarräume, die diesen Anforderungen entsprechen, sind beispielsweise nicht „nach vorne“ ausgerichtet, wo ein Redner spricht oder präsentiert, sondern mit Gruppenarbeitsplätzen ausgestattet, an denen mehrere Arbeitsgruppen gemeinsam lernen und arbeiten können.
HEMMNISSE BEI DER DIGITALISIERUNG ÜBERWINDEN, UM POTENZIALE ZU HEBEN
Hochschulstrukturen
Die strukturellen Voraussetzungen an Hochschulen sind grundsätzlich nicht ungünstig für das Entstehen von Innovationen im Bereich der digitalen Medien. Das hohe Maß an Autonomie kann Innovationen auf der Ebene der dezentralen Institute und Lehrstühle fördern. Auf der anderen Seite erschwert gerade die geringe Verbindung zwischen zentralen Einheiten, Fachbereichen und Instituten die hochschulweite Verbreitung von Innovationen. Ohne zentrale Infrastruktur- und Personalentscheidungen können Innovationen meistens nur lokal begrenzt in einzelnen Subsystemen stattfinden und haben daher häufig nur eine geringe Bedeutung für Studium und Lehre an der gesamten Hochschule. Die Hochschulleitungen müssen der Digitalisierung der Lehre in den zentralen Aktionsfeldern im Prinzip positiv gegenüberstehen, wenn umfassende und tief in die Kompetenz von Lehrenden und Lernenden hineinreichende Digitalisierungsprozesse erfolgreich umgesetzt werden sollen. Hochschulen sind also grundsätzlich Orte der Innovation im Einsatz digitaler Medien in der Lehre. Neben der Bereitstellung ausreichend finanzieller Ressourcen liegt die Herausforderung daher vielmehr in der strukturellen und vor allem strategischen Verbreitung digitaler Lehr- und Lernangebote innerhalb der Hochschule.
Mit den beschriebenen Strukturen sind Hochschulen „besondere“ Organisationen. Die Freiheit von Forschung und Lehre und damit die weitgehende Unabhängigkeit der Lehrenden haben in Deutschland einen einklagbaren verfassungsrechtlichen Stellenwert, den es zu wahren und zu berücksichtigen gilt. Zum einen hängt es stark vom nachhaltigen Engagement der Hochschulleitungen und ihrer Überzeugungskraft gegenüber Dekanen sowie einzelnen Professoren auf der Arbeitsebene ab, ob eine innovative Weiterentwicklung im Bereich digitaler Medien in der Breite umgesetzt werden kann. Zum anderen müssen Hochschulleitungen aber einen Raum zur zielführenden Partizipation der verschiedenen Akteure bieten. Die Einbindung von Studierenden ist dabei von großer Bedeutung für die erfolgreiche Verankerung digitaler Medien in Studium und Lehre, da sie nicht nur zur Verbesserung und Weiterentwicklung digitaler Angebote beitragen, sondern diese auch aktiv einfordern, sofern sie dazu die Möglichkeit erhalten. Darüber hinaus ist es förderlich, auch die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen hochschulinternen Ebenen zu betrachten: der individuellen Ebene der einzelnen Lehrenden, der Studienprogrammebene und der Ebene der Hochschulinstitution in ihrer Gesamtheit. Entscheidend für den Erfolg einer spezifischen Innovation ist die wechselseitige Unterstützung der drei Ebenen untereinander: Nur so kann ein „Momentum“, eine sich selbst tragende Handlungsdynamik, entstehen.
Im Vergleich unterschiedlicher Hochschulen mit ähnlicher Ressourcenausstattung zeigt sich, dass die finanzielle Ausstattung der Hochschule im Allgemeinen zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die erfolgreiche Integration digitaler Medien in Studium und Lehre darstellt. Für Zielbestimmung, Verlauf und Tempo der Einführung digitaler Medien scheint es dagegen von entscheidender Bedeutung zu sein, ob diese zur strategischen Positionierung in Forschung, Lehre, Studium sowie Weiterbildung beitragen sollen oder ob es sich bei ihrer Implementation lediglich um eine „Modernisierung“ von Arbeitsmitteln und Organisation handelt. Nur bei strategisch relevanten Positionierungsversuchen kann erwartet werden, dass die Hochschulleitungen Alleinstellungsmerkmale etablieren oder durchgreifende Strukturveränderungen durchführen und die Lehrenden sowie die Verwaltungsmitarbeiter diesen Prozess eigenständig und mit großem Engagement unterstützen.
Zusätzliche Investitionen sind notwendig und lohnend, weil sie vielfältige Erträge erwarten lassen. Die Digitalisierung stellt eine zusätzliche finanzielle Herausforderung für die Hochschulen dar. Über alle Hochschulen hinweg haben Hochschulleitungen Finanzierungsprobleme bei der Bereitstellung einer entsprechenden technischen Infrastruktur und der personellen Ausstattung zur Erstellung digitaler Lehr- und Lernangebote. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass digitale Lehr- und Lernangebote nach erstmaliger Erstellung kaum beliebig häufig und für beliebig viele Teilnehmende weiterzuverwenden sind, wie es insbesondere für MOOCs und auf dem US-amerikanischen Bildungsmarkt lange als Hoffnung galt. Vielmehr wurde deutlich, dass erstens die Produktion qualitativ hochwertiger digitaler Lehr- und Lernangebote kostspielig ist, dass zweitens selbst reine Online-Lehrformate Menschen im Hintergrund benötigen, die betreuen, prüfen und bewerten, und dass drittens digitale Lehrund Lernangebote regelmäßiger Überarbeitung und Anpassung an unterschiedliche Teilnehmergruppen bedürfen. Ohne nachhaltig adäquate institutionelle, personelle und finanzielle Ressourcen sind digitale Bildungsangebote damit nicht beliebig skalierbar. Investitionen durch die Politik lohnen sich aber in diesem Feld besonders, weil sie Hebelwirkungen für lange vernachlässigte Erneuerungsprozesse der Hochschulen ermöglichen, die zur Exzellenzsicherung jenseits von Spitzenforschung unbedingt erforderlich sind.
Die Finanzierung von Digitalisierungsinitiativen weist einen sehr hohen Anteil an externer Projektfinanzierung auf. Diese stark externe Förderung hat nicht nur Vorteile; sie birgt auch Risiken, wenn damit die Verfolgung vorrangig externer Ziele einhergeht. Dabei entstehen Inselprojekte, die weder in die strategische Hochschulentwicklung eingebettet sind noch diese vorantreiben. Dies ist insbesondere mit Blick auf die stagnierende Grund- und die steigende Drittmittelfinanzierung der Hochschulen eine bedenkliche Entwicklung. Wichtig wäre es deshalb, finanzielle Anreizstrukturen zur nachhaltigen und strukturell-strategischen Verankerung digitaler Lehr- und Lernformate in der Hochschule zu setzen und zum Beispiel Digitalisierungsprojekte in Zielvereinbarungen mit verlässlichen Finanzierungsstrukturen zu koppeln.
In einer alternden und vor allem schnelllebigen digitalen Gesellschaft ist lebenslanges Lernen zu einem zentralen Thema geworden. Die Individualisierung und Flexibilität, die digitale Lehr- und Lernangebote den Teilnehmenden bieten, um weiterbildende Maßnahmen in den Berufsalltag zu integrieren, dürften die Nachfrage weiter steigern. Bei einer gleichzeitig stagnierenden Grundfinanzierung und den Nachteilen einer starken Drittmittelfinanzierung von Digitalisierungsinitiativen ermöglicht es der Aufbau weiterer Geschäftsmodelle den Hochschulen, eine gewisse Unabhängigkeit zu gewinnen. Insbesondere in der Weiterbildung können mit digitalen Lehr- und Lernangeboten zusätzliche Einnahmequellen erschlossen werden, auch wenn es hier in der Praxis mitunter rechtliche und wettbewerbliche Hürden gibt.
Zwar wagen sich einzelne Lehrende und Hochschulen in der Erstellung digitaler Lehr- und Lernangebote bereits vor, jedoch herrscht insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen digitaler Lehre eine große Unsicherheit. Zudem sorgt der deutsche Bildungsföderalismus dafür, dass es große Unterschiede sowohl in den Landeshochschulgesetzen und Lehrverordnungen als auch zwischen einzelnen Hochschulen bezüglich etwaiger Regelungen zur Förderung und Anerkennung von digitaler Hochschulbildung gibt. Die Anrechenbarkeit von digitalen Lehr- und Lernangeboten auf das Lehrdeputat, die Möglichkeit zur Durchführung von digitalen Prüfungen oder die urheberrechtlich relevanten Fragen bei der Erstellung und Nutzung von Lehr- und Lernmaterialien sind häufig unzureichend geregelt und vermittelt. Dies trägt dazu bei, dass an vielen deutschen Hochschulen eine breit angelegte Förderung digitaler Lehr- und Lernangebote sowie eine allgemeine Strategiebildung rund um das Thema digitale Medien in der Breite nicht stattfinden. Einerseits muss für neue Fragestellungen ein entsprechender rechtlicher Rahmen erst noch geschaffen werden. Andererseits sollten Hochschulen aber den bestehenden Rechtsrahmen nutzen. Häufig haben einzelne Hochschulen hier Lösungswege für spezifische Herausforderungen entwickelt und damit aufgezeigt, welche Möglichkeiten im bestehenden Rechtsrahmen existieren. Dies betrifft beispielsweise die Vergabe von ECTS-Punkten für offene und kostenfreie Lehr- und Lernangebote oder die vertragliche Regelung der Nutzungsrechte an digitalen Lehr- und Lernangeboten, sofern diese mit technisch-organisatorischer Unterstützung der Hochschule erstellt wurden. In der Erstellung und Nutzung digitaler Lehr- und Lernangebote im Rahmen bestehender Lehrveranstaltungen und der grundsätzlichen Lehrverpflichtung von Lehrenden für immatrikulierte Studierende gibt es wenig rechtliche Herausforderungen. Neue rechtliche Rahmenbedingungen müssen aber für jene Fälle geschaffen werden, die sich grundlegend von bestehenden Produktionsprozessen der Lehre abheben, beispielsweise die kollaborative Erstellung von offenen und kostenfreien Lehr- und Lernangeboten durch mehrere Lehrende an unterschiedlichen Hochschulen, gegebenenfalls auch auf internationaler Ebene. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Urheberrecht, das Kapazitätsrecht und die Verrechnung von Produktionskosten zwischen mehreren beteiligten Hochschulen, aber auch für die Erstellung sogenannter Open Educational Resources (OER) sowie für die Nutzung von Fremdmaterial („Werken“), die sowohl für eingeschriebene, als auch für nichtimmatrikulierte Studierende zugänglich sind. Nur eine umfangreiche Rechtssicherheit und entsprechende Anreizsysteme für die Lehrenden werden die Digitalisierung der Hochschulbildung auch hochschulstrategisch weiter vorantreiben.
Grundsätzlich besteht an deutschen Hochschulen derzeit nur ein geringes Bewusstsein für die Potenziale der Nutzung umfassender Datenanalysen für die didaktische und institutionelle Weiterentwicklung. Obschon der Zugriff auf viele Daten strengen gesetzlichen und institutionellen Regelungen unterliegt, ist der technische Fortschritt der Gesetzgebung weit voraus. Hinzu kommt, dass die Hochschulen personelle Kapazitäten und professionelle Kompetenz in diesem Bereich überwiegend noch nicht aufgebaut haben und datenschutzrechtliche Fragen entsprechend unterschiedlich behandelt werden können. Ein Datenschutzbeauftragter reicht heute nicht mehr, um den zunehmend komplexer werdenden Sachverhalten gerecht zu werden. Dabei bietet die Nutzung von Learning & Academic Analytics enorme Chancen zur Erforschung des Lehrens und Lernens und zu deren qualitativer und didaktischer Weiterentwicklung. Doch verhindern derzeit einerseits bestehende Vorbehalte und Unsicherheiten auf Seiten der Hochschulangehörigen und andererseits fehlende und vor allem unzureichend transparente Regelungen zur Nutzung von Daten die Verwirklichung dieser Potenziale. Beteiligten muss stets bewusst sein, welche Daten erhoben werden und was mit ihnen geschieht. Einvernehmliche und transparente Regelungen zur Erhebung, Anonymisierung, Auswertung und Löschung individueller Daten müssen getroffen werden. Darüber hinaus müssen erweiterte rechtliche Rahmenbedingungen für die anschließende Nutzung und Wiederverwertung sowie für den Ausschluss von möglichem Datenmissbrauch geschaffen werden. Geschäftsmodelle, wonach Daten zu unbestimmten oder noch nicht absehbaren Zwecken vorgehalten werden, sind angesichts der besonderen Sensibilität für den Bildungsbereich abzulehnen.
Das bestehende Urheberrecht ist nach wie vor im analogen Zeitalter verfangen und erschwert durch lange Schutzfristen und komplexe Regelungen kreative und innovative Nutzungsszenarien frei verfügbarer und zugänglicher Wissens- und Informationsquellen in der Lehre. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zu einer bildungs- und wissenschaftsfreundlichen Urheberrechtsreform bekannt, die einerseits die Interessen von Inhaltsproduzenten schützt und andererseits die Weiterverwendung von Inhalten in Bildung und Forschung ermöglicht. Die Einführung einer allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke, die eine unentgeltliche Nutzung veröffentlichter Werke zum Zwecke der Wissenschaft und Bildung ermöglichen würde, wäre eine wichtige Voraussetzung für eine zeitgemäße Weiterentwicklung digitaler Lehr- und Lernmaterialien.