1 Jahr „Daten Lesen Lernen“ an der Universität Göttingen
1 Jahr „Daten Lesen Lernen“ an der Universität Göttingen
11.11.19Data Literacy für alle Bachelorstudierenden: Dieses Ziel verfolgt Dr. Jana Lasser mit dem Projekt Daten Lesen Lernen an der Universität Göttingen. Im Zwischenbericht zum einjährigen Bestehen teilt sie ihre Erfahrungen mit der HFD-Community.
Alle Bachelorstudierenden der Uni Göttingen sollen „Daten Lesen Lernen“. Seit dem 1.1.2019 verfolgt das gleichnamige Projekt das hehre Ziel, Studierenden aller Fachrichtungen die Grundlagen im Umgang mit Daten zu vermitteln. Die Umsetzung des Projektes wird durch eine Förderung des Stifterverbandes und der Heinz Nixdorf Stiftung ermöglicht. Der erste Pilot einer neu geschaffenen Lehrveranstaltung ist im April gestartet. Das Projekt soll über den Verlauf von drei Jahren Data Literacy nachhaltig in der Ausbildung der Universität Göttingen verankern.
In Anlehnung an unseren Blog-Post In Richtung Lehre 4.0 – Data Literacy an der Uni Göttingen vom April dieses Jahres, ziehen wir nach einem knappen Jahr Projektlaufzeit ein kleines erstes Resumée. Insbesondere berichten wir darüber
- welche Meilensteine wir erreicht haben,
- was Herausforderungen im ersten Jahr waren und vielleicht immer noch sind und
- ob sich bereits Änderungen für die nächste Phase unseres Projektes herauskristallisiert haben.
Lehrveranstaltung: Daten Lesen Lernen
Als erster Meilenstein ist die erfolgreiche Durchführung unserer ersten Vorlesung “Daten Lesen Lernen” zu nennen. Am ersten Durchlauf der Vorlesung nahmen etwa 45 Studierende teil, von denen etwa 30 die Vorlesung mit einer Projektarbeit beendeten. Dabei haben wir erfolgreich viele unserer Konzepte testen können. die Gruppe der Studierenden war sehr divers, von Wirtschaftsinformatiker*innen über Linguist*innen bis hin zu Archäolog*innen hatten wir Studierende mit sehr unterschiedlichen fachlichen Hintergründen und auch sehr unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus in der Programmierung dabei.
Wie geplant sind wir dieser Herausforderung begegnet, indem wir die Tutorien zur Vorlesung fachspezifisch aufgeteilt und mit den Kleingruppen verschiedene Fallstudien bearbeitet haben. Insgesamt wurden drei Fallstudien zu den Themen “Wirtschaft”, “Archäologie” und “Allgemein” ausgearbeitet. Bei der Wirtschafts-Fallstudie ging es um historische Daten zu Produktivität und Arbeitskämpfen, in der Archäologie-Fallstudie haben wir uns mit Keramik-Fundstücken im Mittelmeerraum beschäftigt und in der allgemeinen Fallstudie ging es darum, herauszufinden, ob die Twitter-Nutzung von Donald Trump sich von der von Russischen Trollen unterscheidet. Herauszuheben ist auch, dass alle Datensätze, mit denen wir gearbeitet haben sowie die Lehrmaterialien zu den Fallstudien offen verfügbar und frei nutzbar sind! Durch die Bereitstellung von Lehrvideos sowie die enge Betreuung durch zwei Tutor*innen pro Tutorium haben wir auch Studierenden ohne Programmier-Vorkenntnisse einen möglichst einfachen Einstieg ermöglicht. Auch der Einsatz der technischen Infrastruktur basierend auf einem JupyterHub hat reibungslos funktioniert.
Als “Prüfungsleistung” für die Vorlesung haben wir Projektarbeiten etabliert, die von den Studierenden in Kleingruppen nach Ende der Vorlesung bearbeitet wurden. Dabei waren wir sehr erfolgreich, lokale Unternehmen für die Bereitstellung von Problemstellungen für die Projekte zu gewinnen. Die Firmen Mahr, Schumann, KWS SAAT, Betten Heller und Lotta Karotta haben sich beteiligt und damit rund die Hälfte der 10 Abschlussprojekte gestellt. Die anderen Projekte haben wir in Kollaboration mit Forschungsgruppen am Campus oder aus offen verfügbaren Datensätzen erstellt. Die Rückmeldungen der Studierenden waren insgesamt sehr positiv. Insbesondere die Projektarbeiten und die möglichen Kontakte zu Firmen sowie die Lehrvideos wurden besonders positiv hervorgehoben und es haben sich auch Interessent*innen für weiterführende Abschlussarbeiten gemeldet. Auch die Tutor*innen hatten viel Freude und haben unsere moderne Herangehensweise sehr geschätzt. Viele von Ihnen möchten im nächsten Durchgang wieder dabei sein, was uns besonders freut!
Mit 30 Studierenden sind wir doch deutlich unter der angepeilten Zahl von 200 Studierenden zurückgeblieben. Insbesondere aus den Sozialwissenschaften und den Agrar-und Forstwissenschaften, die wir eigentlich im Vorfeld gezielt angesprochen und zur Teilnahme eingeladen haben, konnten wir keine Studierenden gewinnen. Dafür haben wir zwei Hauptursachen identifiziert:
- Die Verortung unserer Lehrveranstaltung als “allgemeine Schlüsselqualifikation” ist für viele Studierende nicht besonders attraktiv, da sie in diesem Bereich schon genügend andere interessante Lehrveranstaltungen (z.B. Sprachkurse) belegen können.
- Gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften scheinen sich viele Studierende unsere Lehrveranstaltung nicht zuzutrauen, obwohl wir sehr offensiv kommuniziert haben, dass es zur Teilnahme keinerlei Vorkenntnisse braucht.
Diesen Herausforderungen möchten wir im nächsten Durchlauf zum einen mit einer veränderten Verortung im Modulkatalog begegnen. Das ist kein einfaches Unterfangen, da die Anerkennung als Wahl-, Wahlpflicht- oder sogar Pflichtmodul von den jeweiligen Fakultäten für jeden Studiengang genehmigt werden muss. Zum anderen möchten wir Studierende, die am ersten Durchlauf erfolgreich teilgenommen haben, als “Botschafter*innen” einsetzen, um in ihren Fakultäten Werbung für unsere Lehrveranstaltung zu machen. Wir konnten auch schon einige Studierende, die von der Lehrveranstaltung sehr begeistert waren, dafür gewinnen.
Die Anzahl der Studierenden nach oben zu skalieren wird sicherlich die größte Herausforderung im kommenden Durchlauf. Die Infrastruktur dafür (sowohl im Bereich Technik als auch für die Betreuung der Studierenden in den Tutorien) steht bereit, und wir können uns darauf konzentrieren, gezielt größere Gruppen von Studierenden anzusprechen. Insbesondere werden wir im nächsten Durchlauf die Fakultäten für Biologie und Psychologie sowie die Geowissenschaften ansprechen, da diese jeweils große Studiengänge beherbergen. Auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften möchten wir unsere Bemühungen noch einmal intensivieren, auch wenn die Studierenden dort ob der kleinen Studiengänge um einiges schwieriger zu erreichen sind. Darüber ist eine Öffnung unseres Lehrangebots für die Vielzahl an Promovierenden an der Universität angedacht, die ihr Interesse an den Inhalten bekundet haben.
Networking
Insbesondere durch unsere Werbung für die neu geschaffene Lehrveranstaltung in den verschiedenen Fakultäten und die Teilnahme an vielen Workshops, Vorträgen und Abendveranstaltungen konnten wir mit dem Projekt “Daten Lesen Lernen” einen großen Bekanntheitsgrad am Campus und darüber hinaus aufbauen. Um nur ein paar unserer Aktivitäten in dieser Richtung zu nennen:
- Um unsere Erfahrungen auch über die Landesgrenzen hinaus zu tragen, bringen wir sie im Rahmen eines Workshops (Society SciTech Cluster Meeting) in das U4-Netzwerk zusammen mit den Universitäten Gent, Uppsala, Tartu und Groningen ein.
- Aktuell haben wir Abschlussprojekte aus Forschung und Wirtschaft anzubieten. Wir wollen in der nächsten Runde auch die zivilgesellschaftliche Seite der Datenanalyse- und Nutzung beleuchten. Dafür haben wir uns mit der NGO CorrelAid zusammengetan, um Projektarbeiten von lokalen NGOs zu akquirieren.
- Auch die Zusammenarbeit mit den lokalen Unternehmen wollen wir intensivieren, insbesondere auch, um noch mehr Studierenden eine praxisnahe Abschlussarbeit in einem Unternehmen im Anschluss an den Besuch unserer Lehrveranstaltung zu ermöglichen. Dafür arbeiten wir eng mit dem Südniedersachsen Innovationscampus SNIC zusammen.
- Wir wollen auch die breitere Öffentlichkeit an unseren Erkenntnissen im Kontext der digitalen Bildung teilhaben lassen. Deswegen nehmen wir an der Panel-Diskussion Misere, Mangel, Männerberufe des KörberForums zum Thema digitale Bildung und MINT-Studien teil.
- Der natürliche Ansprechpartner für Bildung im Bereich Information und Programmierung ist die Fakultät für Informatik. Um den Bereich der Lehre von Python gemeinsam zu bestreiten und Synergien zu nutzen, haben wir uns vernetzt und werden ab dem Wintersemester gemeinsam Lehrvideos produzieren.
- Eigentlich war unsere Lehrveranstaltung für die Zielgruppe der Bachelorstudierenden gedacht. Trotzdem haben sich einige Promovierende unter den ersten 30 Studierenden gefunden, die uns zurückgemeldet haben, dass die von uns gelehrten Fähigkeiten auch für ihre Promotion sehr hilfreich waren. Deswegen vernetzen wir uns mit der großen Graduiertenschule GGNB, um unser Lehrangebot für Promovierende zu öffnen und auszubauen.
- Aktivitäten im Bereich Forschungsdatenmanagement am Campus koordiniert die eResearch Alliance. Im Bereich Fortbildung und user engagement haben wir dieselben Ziele und Ideen. Deswegen werden wir ab Herbst zusammenarbeiten, um das DataLab gemeinsam auf die Beine zu stellen und zu betreiben.
- Wo wir gerade bei Forschungsdatenmanagement sind: wir nehmen als Partner an der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur für Biodiversity teil. Dort werden wir uns mit auf den von der NFDI kuratierten Daten basierenden Fallstudien in die geplante Ausbildungsplattform einbringen.
Diese Vernetzungsaktivitäten sind enorm wichtig, da sie es uns erlauben, am Campus existierende Ressourcen und Synergien zu nutzen um mehr zu schaffen, als wir das sonst mit unseren begrenzten Projektmitteln könnten und auch über die Projektlaufzeit hinaus zu denken. Durch die Kontakte über die Universität hinaus können wir unsere gesammelten Erfahrungen an die Vielzahl an Universitäten weitergeben, die sich auf einem ähnlichen Weg wie wir befinden und bekommen wichtigen Input für Bereiche, in denen wir noch nicht so weit sind.
Am Campus gibt es bereits einige existierende Initiativen und Lehrveranstaltungen in den Bereichen Datenmanagement, Programmierung und Statistik. Diese aufzuspüren, Synergien zu finden und inhaltliche Abgrenzungen vorzunehmen war aufgrund der Größe der Universität nicht einfach und sehr zeitintensiv. Insbesondere auch die hohe Fluktuation von Mitarbeiter*innen, sowohl in unserem eigenen Projektteam als auch in anderen Projekten macht diese Arbeit schwierig und unübersichtlich. Wir erhalten vielfach die Rückmeldung, dass unsere Anstrengungen sowohl im Bereich der Vernetzung innerhalb der Universität als auch unser Lehrangebot als sehr wichtig wahrgenommen werden. Um diese wichtige Arbeit fortzusetzen und dauerhaft verlässlich entsprechende Angebote vorhalten zu können, wäre ein längerfristiger Planungshorizont hilfreich und wünschenswert. Um mit dieser Herausforderung umzugehen, versuchen wir unsere Zusammenarbeit mit etablierten Strukturen der Universität, wie z.B. dem Bereich für Digitalisierung in Studium und Lehre und der eResearch Alliance zu intensivieren, da dort Informationen zusammenlaufen und etwas mehr personelle Beständigkeit herrscht.
Open Educational Resources und DataLab
Es fiel uns anfangs schwerer als erwartet, eine*n Mitarbeiter*in für den Bereich Open Educational Resources (OER) zu gewinnen. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten konnten wir im Sommer endlich unsere Kollegin Lea Dammann einstellen. Nach umfangreicher Recherche kristallisierte sich heraus, dass deutschsprachige OER zum Thema Data Literacy selten als strukturierter Kurs mit Lernvideos, Übungsaufgaben, Forum, Prüfungsangebot etc. zur Verfügung stehen. Infolgedessen haben wir unsere Ziele angepasst und verfolgen nun zwei Strategien:
Erstens sollen auf einer Homepage einzelne Lehrvideos zu den Themen Datenethik, Datenmanagement etc. verlinkt und mit einer Beschreibung versehen werden. Dies bietet Lehrenden die Möglichkeit, ohne großen Aufwand beispielsweise das Thema Datenethik in ihre Veranstaltungen einzubinden. Für die Studierenden bedeutet eine Einbindung der OER in existierende Veranstaltungen, dass die erworbenen Kenntnisse geprüft werden und somit für ihr Studium anrechenbar sind.
Zweitens soll damit begonnen werden, die Materialien aus der Lehrveranstaltung Daten Lesen Lernen aufzubereiten, um Lehrvideos zu erweitern und als strukturierter Online-Kurs zusammengestellt werden. Eine geeignete Plattform für die Veröffentlichung dieses Kurses wäre die im Aufbau befindliche OER-Plattform des Landes Niedersachsen. Die Aufbereitung als kompletter Online-Kurs würde es sowohl anderen Hochschulen erleichtern, die Materialien wiederzuverwenden, als auch den Studierenden, die an der Lehrveranstaltung Daten Lesen Lernen teilnehmen, zusätzliche zeitliche Flexibilität bieten.
Einzelne Inhalte des DataLab wie die statistische Beratung konnten wir in den vergangenen Monaten umsetzen oder ausbauen: n über 100 Beratungsstunden und bei der von der Bibliothek organisierten “langen Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten” haben wir Studierenden bei ihren Problemen im Umgang mit Daten und ihrer statistischen Interpretation geholfen. Dabei konnten wir uns auch einen Überblick über die häufig auftretenden Probleme und Hürden verschaffen. Darüber hinaus erhalten wir in den statistischen Beratungen eine Vielzahl an Anhaltspunkten für spannende Fragestellungen und Datensätze, aus denen wir Übungsaufgaben und Projektarbeiten für die Lehrveranstaltung generieren.
Bei der Bündelung unserer Angebote in der Arbeit mit Daten gewidmeten Räumlichkeiten sind wir leider etwas im Verzug, da die Baumaßnahmen in den von der Bibliothek zugesagten Räumlichkeiten noch nicht vollendet sind. Dafür haben wir hier mit der eResearch Alliance einen neuen Partner gewonnen, der ein großes Interesse daran hat, diese Idee mit uns gemeinsam umzusetzen. Gemeinsam suchen wir gerade nach alternativen Räumlichkeiten, die wir hoffentlich bis zum Ende des Jahres beziehen können. Dort wollen wir unser Angebot von Programmier- und Statistiksprechstunden sowie gemeinsamem kollaborativem Arbeiten an Daten-Projekten bis zur Fertigstellung der Räume in der Bibliothek anbieten und anfangen, eine Gemeinschaft an dateninteressierten Menschen am Campus aufzubauen. Auch die Tutorien für die zweite Runde der Lehrveranstaltung sollen dann schon größtenteils in diesen Räumlichkeiten stattfinden. Insgesamt haben wir bei unseren Netzwerkaktivitäten am Campus ein großes Interesse am Konzept des Daten-Labors wahrgenommen. Viele Interessent*innen und Akteur*innen stehen in den Startlöchern um das DataLab mit Leben zu füllen.
Zusammenfassend können wir sagen, dass das erste Projektjahr für uns erfolgreich verlaufen ist. Wir konnten viele der gesteckten Ziele erreichen und die Weiterentwicklungen, die sich im Bereich der Zusammenarbeit mit anderen Projekten und Teilen der Universität ergeben haben, sind sehr vielversprechend. Es bleibt noch viel zu tun, insbesondere um unser Projekt wie geplant in die Breite zu tragen, aber ein solider Grundstein ist gelegt. Wir stehen zwar auch aktuell schon allen Studierenden der Universität offen, aber um unser Lehrangebot wirklich in die Breite zu tragen, muss es in den Studienplänen der einzelnen Studiengänge verankert werden. Dies ist eine Aufgabe, die ob der Größe unserer Universität sehr zeitintensiv ist und über den Planungshorizont der Projektförderung hinausgeht. Um dies umzusetzen, werden insbesondere Möglichkeiten der längerfristigen Förderung des Projekts etwa durch Vernetzungsinitiativen des Fördergebers und die Unterstützung der Universität notwendig sein.