Zwischen Nachhaltigkeit und Ad-hoc Online-Lehre – Digitale Netzwerker*innen notwendiger denn je

Zwischen Nachhaltigkeit und Ad-hoc Online-Lehre – Digitale Netzwerker*innen notwendiger denn je

20.05.20

Jetzt sind digitale Netwerker*innen gefragt.

Welche Rolle haben digitale Netzwerker*innen, um die Bestrebungen der Digitalisierung in der Lehre nachhaltig zu gestalten? Dieser Beitrag stellt das Modell der Kollektiven Veränderung vor und identifiziert vier Akteursgruppen für den Gelingensprozess & Nachhaltigkeit. Ein wichtiges Ergebnis: Beziehungsarbeit ist eine wichtige Ressource für eine erfolgreiche Digitalisierungstrategie, insbesondere in der aktuellen Ad-hoc-Digitialisierung.

Von Ad-hoc zu Nachhaltigkeit lautet das Ziel.

Ad-hoc-Digitalisierung & Nachhaltigkeit

In der aktuellen Situation ist das Thema Digitalisierung mehr im Mittelpunkt denn je. Aufgrund der Corona-Pandemie sind wir dazu angeregt dem Grundsatz des „Social Distancing“ zu folgen und unser Leben weitgehend in den heimischen vier Wänden zu führen. Wer kann überführt seine Arbeit und sein Geschäft ins Internet und ist im Home-Office. In diesem Umfeld finden soziale Kontakte vermehrt über Videokonferenzen statt. Auch die Hochschulen und die Hochschullehre sind davon betroffen. In NRW ebenso wie in den anderen Bundesländern wird nicht mehr in den Hochschulen und Universitäten durch Präsenzveranstaltungen gelernt und gelehrt, sondern der Lehrbetrieb bis auf weiteres durch verschiedene digitale Plattformen und Angebote auf Distanz sichergestellt.

Nun ist das Thema digitale Hochschullehre keinesfalls neu. Seit langem wird die Lehre digitalisiert und jedes Jahr kommen verschiedene, neue digital unterstützte Angebote hinzu. Seit einigen Jahren erfährt das Thema auch zunehmende strategische Relevanz. Die Hochschulen und Universitäten entwickeln Strategien für die Lehre im digitalen Zeitalter und fördern die Bedingungen und den Durchdringungsgrad digitaler Lehrangebote. Und doch hat sich nun auf einen Schlag – fast – alles verändert.

Bisher erfolgten das Lernen und Lehren vorrangig analog und wurden lediglich durch digitale Angebote angereichert und erweitert. Das einzig digitale, das alle Veranstaltungen und Seminare gemein hatten, waren die elektronischen Lernplattformen oder Learning-Management-Systeme, die die Verwaltung und Organisation der Lehre unterstützten.

Digitalisierung nachhaltig gestalten

Modell der Kollektiven VeränderungDas Forschungsprojekt „Qualitätssicherung in der Digitalisierungsstrategie“ (QuaSiD) untersucht seit 2017 die Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Verbreitung und Verankerung von Digitalisierungsinitiativen und -prozessen in einer Digitalisierungsstrategie. Im Zuge der Projektarbeit entwickelten wir das Modell der Kollektiven Veränderung, das die Gelingensbedingungen hierfür, in den drei Komponenten von Kollektiver Veränderungsbereitschaft, Veränderungsmöglichkeit und Veränderungskompetenz beschreibt (siehe Graf-Schlattmann et al. 2020a, 2020b). In unserer Studie stellte sich die Kollektive Bereitschaft zur Veränderung als ein erfolgskritischer Faktor und eine zentrale Gelingensbedingung heraus, die von den beiden weiteren Komponenten im Sinne von Umsetzungsbedingungen gerahmt wird (siehe Abbildung).

Die Bedeutung der Kollektiven Veränderungsbereitschaft, das Commitment des akademischen Personals, zeigt sich darin, dass sämtliche Interviewpartner*innnen unserer Studie diesen Aspekt hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung problematisierten und diejenigen Hochschulen, die im Digitalisierungsprozess bereits weit fortgeschritten sind, viel Energie in förderliche Formate und Rahmenbedingungen investierten (siehe Graf-Schlattmann et al. 2020a).

Die hochschulweite Strategie für die Lehre im digitalen Zeitalter stellt in diesem Zusammenhang lediglich einen strategischen Rahmen im Sinne einer gemeinsamen Vision bzw. einer gemeinsamen Richtung dar. Die Operationalisierung hingegen, also die Art und Weise ebenso wie die Intensität der digitalen Transformation in der Hochschullehre sollte den Fachbereichen und Lehrenden überlassen werden. Diese erhalten die nötigen Freiräume und Autonomien in der Wahl der Tools und werden dabei von den Unterstützungssystemen der Hochschule durch bereitgestellte Infrastrukturen sowie didaktische und technische Weiterbildungen und Beratungen gefördert. Mit Hilfe dieser Rahmenbedingungen wird die Kollektive Veränderungsbereitschaft gefördert und ein nachhaltiger Transformationsprozess ermöglicht. In der Folge entsteht eine Vielzahl kleinteiliger, iterativer Prozesse mit jeweils eigenen Tempi, Zielen und Bedürfnissen, die im strategischen Rahmen der Hochschule von digitalen Netzwerker*innen oder auch Kümmerer*innen zusammengeführt werden.

Auswirkungen der Corona-Pandemie

Doch die Ausgangslage hat sich nun durch die Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung im Zuge der Corona-Pandemie massiv verändert. Aus Präsenzhochschulen sind ganz plötzlich Online-Fernunis geworden. Mit allen Chancen und Risiken eines so kurzfristigen Wandels. Was aus den bisherigen Bemühungen wird, die Präsenzlehre durch Online-Elemente zu unterstützen, ist noch nicht wirklich abzusehen. Die abrupte Veränderung schafft einen Moment, in dem mit einem Mal alle Beteiligten eine digitale Lehre durchführen und möglicherweise die Vorteile erkennen. Diejenigen, die sich bereits frühzeitig mit der digitalen Transformation ihrer eigenen Lehre befasst haben – die sogenannten „Innovators“ und „Early Adopters“ im Adaptionsmodell von Rogers (2003) – könnten als Fachleute anerkannt und geschätzt werden. Dem gegenüber steht jedoch auch eine andere Lesart.

Gerade die Bereitschaft zur Veränderung, die als zentraler Faktor für eine nachhaltige Entwicklung identifiziert wurde, ist durch eine – gezwungenermaßen – überstürzte Veränderung gefährdet. Nicht ohne Grund sollte nicht alles auf einmal geändert, sondern dem Prozess die nötige Zeit eingeräumt werden, um alle Beteiligten mitzunehmen und möglichst wenig Reibungen zu erzeugen. Es kann durchaus befürchtet werden, dass sich viele kritisch eingestellte Lehrenden – „Laggards“ im Adaptionsmodell von Rogers – von der digital unterstützten Lehre abwenden, sobald die Lage es ermöglicht und anschließend auf lange Zeit abgeschreckt sind. Auch das Commitment derjenigen, die der Entwicklung offen gegenüberstanden – die „Late-“, zum Teil auch „Early Majority“ nach Rogers – könnte nach Corona gesunken sein.

 Jetzt sind digitale Netwerker*innen gefragt.

 

Digitale Netzwerker*innen notwendiger denn je

Da in der aktuellen Situation eine fachkulturadäquate und individuelle Transformation erschwert ist und damit die nötigen Freiräume nicht gewährt werden können, ist es umso wichtiger, dass sich die Lehrenden aber auch die Studierenden in ihren Bedürfnissen wahrgenommen und unterstützt fühlen. Um dem drohenden Kippen der Entwicklung entgegenzuwirken und einen nachhaltigen Prozess zu fördern, erscheint in unseren Augen ein verstärkter Einsatz digitaler Netzwerker*innen – oder Kümmerer*innen – entscheidend zu sein. Durch diese werden die Bedürfnisse und Probleme unterschiedlicher Akteur*innen bedarfsgerecht übersetzt und weitergegeben. Dabei handelt es sich nicht nur um verstärkte technische und didaktische Unterstützungsstrukturen. Die digitalen Netzwerker*innen haben im Modell der Kollektiven Veränderung die Aufgabe, auf verschiedene Arten und Weisen den vielfältigen Prozess zu vereinen und dienen als Prozessverantwortliche und Ansprechpartner*innen der unterschiedlichen Akteur*innen (siehe Graf-Schlattmann et al. 2020b).

Nach Seufert (2004), die das Promotorenmodell von Witte (1973) für die Förderung der Innovationsbereitschaft im E-learning aufbereitete, fördern Promotor*innen – wir sprechen von Kümmerer*innen oder digitalen Netzwerker*innen – den Prozess der strategischen Umsetzung. Sie helfen dabei, Ressentiments und Unsicherheiten durch geeignete Vermittlung und Unterstützung zu überwinden. Dabei wird zwischen vier Arten von Promotor*innen unterschieden:

  1. Fachpromotor*innen als Expert*innen für E-Learning bzw. digitale Hochschullehre,
  2. Machtpromotor*innen, die eine hohe hierarchische Stellung an der Hochschule innehaben,
  3. Prozesspromotor*innen, die eine vermittelnde Rolle einnehmen und den strategischen Prozess leiten und
  4. Beziehungspromotor*innen, die eine interorganisationale Zusammenarbeit betreiben.

Die unterschiedlichen Promotor*innenrollen müssen dabei nicht als einzelne Personen auftreten, sondern können durch eine Gruppe gebildet und ausgeführt werden. Fachpromotor*innen sind die didaktischen und technischen Unterstützungsstrukturen sowie engagierte Lehrende – „Innovators“ und „Early Adopters“. Machtpromotor*innen sind in der Hochschullehre auch relevant, spielen aber im Gegensatz zu den anderen Promotor*innen – aufgrund der demokratischen Entscheidungsstrukturen in den Hochschulen und der Freiheit von Forschung und Lehre – eine eher untergeordnete Rolle. Im Zuge unserer Forschung stellten sich jedoch die Prozess- und Beziehungspromotor*innen als erfolgskritisch dar, da sie auf unterschiedliche Weise die Entwicklung und Synchronisation ermöglichen und das Zusammenspiel der verschiedenen Geschwindigkeiten und Entwicklungsrichtungen fördern.

Stellschrauben zur nachhaltigen Entwicklung

Diese beiden Formen der Promotor*innen bzw. digitalen Netzwerker*innen gewinnen durch die aktuelle Situation und den kollektiven Sprint in der digitalen Transformation zusätzlich an Bedeutung und sind unseren Ergebnissen folgend ein zentraler Faktor, um die Entwicklung auch auf langer Strecke zu meistern. Da die Autonomie der Lehrenden eingeschränkt ist, ist es umso wichtiger, auf Dauer die Bedürfnisse zu berücksichtigen und die Entwicklung sowie die Lehrenden zu begleiten. Die fachliche – technisch-didaktische – Unterstützung ist auch ein wichtiger Faktor, der von Seiten der Hochschulen jedoch bereits gut wahrgenommen wird. Die synchronisierende Netzwerkarbeit der Prozess- und Beziehungspromotor*innen scheint jedoch eine Stellschraube einer nachhaltigen Entwicklung zu sein, die bisher noch nicht in voller Kraft gewürdigt wird und für den Erfolg des zukünftigen Prozesses umso bedeutender erscheint.

Dies findet sich auch in den Handlungsvariablen von Transparenz und Sichtbarkeit und Abstimmung und Vernetzung unseres Modells (siehe Abbildung). Beide haben den Zweck, die Akzeptanz zu fördern, aber gleichzeitig auch den Prozess hinsichtlich eines gemeinsamen strategischen Rahmens zu einen. Im Fall von Transparenz und Sichtbarkeit werden die Prozesse, aber auch die einzelnen Akteur*innen sichtbar gemacht. Die Lehrenden nehmen auf diese Weise wahr, dass sie in dieser Situation nicht alleine sind und ihre Bedürfnisse sichtbar sind und wahrgenommen werden. Dies wird durch die Handlungsvariable von Abstimmung und Vernetzung mit den dazugehörigen Austauschformaten noch intensiviert. Dabei sind unterschiedliche Zugänge denkbar. So können bspw. bereits existierende oder neugeschaffene Vernetzungs- und Austauschformate, in denen sich die Lehrenden über ihre Lehre verständigen und neue technisch-didaktische Ansätze und Beratungsangebote kennenlernen, intensiviert werden. Aber auch digitale Vernetzungs- und Informationsformate sind an dieser Stelle denkbar. Wichtig ist in unseren Augen, dass nicht nur die technische Seite der Veränderung bedacht wird, sondern ebenso auch die soziale Facette, um den Bedürfnisse der Lehrenden bestmöglich zu begegnen und auf diesem Wege die Kollektive Veränderungsbereitschaft weiterhin sicherzustellen und zu fördern.

Die aktuelle Situation stellt einen Wendepunkt in der Entwicklung dar. Ob jedoch die digitale Transformation auf lange Sicht gefördert oder abgeschwächt wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Es ist daher allen Hochschulen dringend anzuraten, den Moment zu nutzen und die erfolgreichen Netzwerkstrukturen in der jetzigen Phase zu identifizieren und dauerhaft zu etablieren.

Literatur:

Graf-Schlattmann, M.; Meister D. M.; Oevel G. & Wilde M. (2020a). Kollektive Veränderungsbereitschaft als zentraler Erfolgsfaktor von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen. In: Sandra Hofhues, S. et al. (Hrsg.) Zeitschrift für Hochschulentwicklung. Jg. 15 / Nr. 1 (März 2020), S. 19-39.

Graf-Schlattmann, M.; Thomsen, B.; Wilde M. ; Meister D. M. & Oevel G. (2020b). Gelingensbedingungen für die strategisch gerahmte Digitalisierung der Hochschullehre. Vortrag auf der 15. Jahrestagung der GFHF 2020. Online abrufbar: https://www.gfhf2020.de/vortrag/erfolgsfaktoren-und-gelingensbedingungen-fuer-digitalisierung/.

Rogers, E. M. (2003). Diffusion of innovations (5th ed.). New York, NY: Free Press.

Seufert, S. (2004). Gestaltung von Veränderungen: Förderung von Innovationsbereitschaft durch „Change-Management-Akteure“ In: Euler, D. & Seufert, S. (Hrsg.) E-Learning in Hochschulen und Bildungszentren. Oldenburg: De Gruyter, S. 541-560.

Witte, E. (1973). Organisation für Innovationsentscheidungen. Das Promotorenmodell. Göttingen: Schwarz.

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