Keine Rolle rückwärts bitte

Keine Rolle rückwärts bitte

19.04.22

Links: Foto von Turnmatten und Seiten, Text rechte Seite: Blogbeitrag. Keine Rolle rückwärts bitte von Sebastian Horndasch

Verliert der durch Corona ausgelöste Digitalisierungsschub mit dem Rückkehr zur Präsenzlehre an Schwung? Wie die Sehnsucht nach Normalität an den Hochschulen mit dem weiter so nötigen Mut für Neues versöhnt werden kann. Dieser Artikel wurde zunächst im Blog von Jan-Martin Wiarda veröffentlicht.Links: Foto von Turnmatten und Seiten, Text rechte Seite: Blogbeitrag. Keine Rolle rückwärts bitte von Sebastian Horndasch

Endlich machen die Hochschulen wieder auf. Manche sehen sich nach Jahren des gemeinsamen Studiums zum ersten Mal in Präsenz. Der gemeinsame Kaffee, die unkomplizierte Absprache auf dem Flur, die spontane Begegnung, der direkte Blick ins Gesicht, das gemeinsame abendliche Kaltgetränk – all das wird wieder Alltag. Diese Dinge haben uns allen gefehlt. Der „Sozialraum Hochschule“ kehrt als physischer Ort zurück.

Auch wenn die momentane Inzidenz eine andere Sprache spricht: Hochschulen können wohl im Sommersemester alle Formen der Präsenzlehre uneingeschränkt anbieten. Bei aller folgenden Kritik und Mahnungen: Das ist wirklich gut.
 

Blick zurück: Hochschullehre zwischen 2020 und 2022

Hochschulen haben in den vergangenen Jahren Unglaubliches geleistet, sowohl auf institutioneller als auch auf individueller Ebene. Die Lehre wurde innerhalb kürzester Zeit auf digitale Formate umgestellt. Man erinnere sich, wie es vor der Pandemie aussah: 2016 gaben in einer Studie des Hochschulforums Digitalisierung lediglich 17 Prozent aller Hochschulen an, auch nur punktuell reine Online-Lehre ausprobiert zu haben. In einer Befragung Lehrender an bayerischen Fachhochschulen nach dem Sommersemester 2020 antworteten 49 Prozent, erstmals digitale Lehrerfahrung zu sammeln. An Universitäten und in anderen Bundesländern wird es nicht grundlegend anders ausgesehen haben. Mit großer Experimentierfreude wurden neue Lehr-/Lern- und Prüfungsformate entwickelt. Nicht alles war gut, aber überraschend vieles funktionierte. Viele Lehrende und Lernende haben einen Kompetenzsprung gemacht – zumindest mit Blick auf den Umgang mit Digitalität.

Dennoch ging vieles verloren. Ich selbst habe als Student stark von den Möglichkeiten internationaler Mobilität profitiert; das konnten Studierende in den vergangenen zwei Jahren kaum. Alleine die vielen verpassten Erasmus-Austausche sind ein Jammer. Es gab auch eine Zunahme psychischer Notlagen unter Studierenden. Das lag natürlich nicht allein am rein digitalen Lernen, geholfen hat die Distanz aber sicher nicht.
 

Mit Vollgas zurück?

Vielerorts ist nun die Rede vom „Präsenzsemester“. Lehrende berichten, dass die Mehrheit der Hochschulen nun wieder auf 100 Prozent Anwesenheit setzt. Das weckt bei manchen auch Befürchtungen: Innovationen könnten zurückgedreht werden. Die Didaktikerin Wibke Matthes sorgte im März mit mehreren Beiträgen auf LinkedIn und im Blogartikel „Rolle rückwärts in die Präsenz“ für Aufmerksamkeit, in denen sie von einer „Rolle rückwärts in der Hochschulbildung“ sprach.

Nun ist nach all der Zeit der Distanz der Wunsch verständlich nach möglichst umfassender Präsenzlehre. Und es ist klar, dass es wieder mehr Austausch in der physischen Welt braucht. Eine Rückkehr zur reinen Präsenz würde allerdings zulasten vieler digitaler Lehrinnovationen gehen, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Denn genausowenig wie „digital“ per se besser ist, ist eine reine Präsenz überlegen oder wünschenswert.

Denn digitale Lehre hat entscheidende Vorteile: Sie ist nachhaltiger und inkludierender. Nachhaltig, weil keine langen Anfahrten notwendig sind. Inkludierender, weil sie ein Studium in mehr unterschiedlichen Lebenssituationen zulässt. Studieren mit Kind, pflegebedürftige Angehörige, Nebenjobs, längere Krankheitsphasen, Lernen im eigenen Tempo – all dies ist in digitalen Settings leichter möglich. Barrierefreiheit für Studierende mit Behinderungen ist digital ebenfalls leichter umsetzbar. Wobei in diesem Zusammenhang zur Ehrlichkeit gehört, dass erst 28 Prozent der Online-Lehre barrierefrei ist, so eine Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hörbehinderter Studenten und Absolventen.

Zumindest manche Lernziele lassen sich mit digitalen Methoden besser erreichen. In der öffentlichen Debatte war schon vor Corona viel von so genannten „Future Skills“ die Rede, also Kompetenzen, die in Zukunft wichtiger werden dürften. Dazu zählen unter anderem digitales und kollaboratives Arbeiten und die Fähigkeit zum produktiven Umgang mit digitalen Medien. Kompetenzerwerb funktioniert stets vor allem übers Machen. Wenn Studierende sich Kompetenzen für eine digitaler werdende Welt aneignen sollen, muss das Digitale auch Teil der Lernerfahrung sein.
 

Was es braucht: Mindset und Strukturen

Aber wie groß wird die befürchtete „Rolle rückwärts“ eigentlich wirklich? In einer jüngst veröffentlichten Studie des Hochschulforums Digitalisierung sagten 61 Prozent der Hochschulleitungen, dass auch nach Corona an ihren Institutionen Lehrformate weiter verändert oder grundlegend neu entwickelt werden sollten. Das stimmt zunächst optimistisch.

Klar ist: Digitalisierung kann niemals Selbstzweck sein. Weder flächendeckende digitale Lehre noch reine Präsenz sind wünschenswerte Zustände. Digital ist nicht per se besser oder schlechter. Es öffnet aber neue Möglichkeiten. Hochschulen sollten daher bestehende Innovationen weiterentwickeln und nicht unter dem Vorwand zurückdrehen, die Studierenden wünschten es sich vermeintlich so. Meine Erfahrung aus Gesprächen mit Studierenden: Alle freuen sich über mehr Präsenz. Aber ich habe von niemandem gehört, dass digital nichts mehr gehen solle.

Es wäre sowieso ein Fehler, den eingangs erwähnten „Sozialraum Hochschule“ im Jahr 2022 noch vollständig mit dem physischen Ort Hochschule gleichzusetzen. Es braucht ein offeneres Verständnis von Räumen, das digitale und physische Orte gleichermaßen miteinbezieht.

Ein Sowohl-Als-Auch von Digital- und Präsenzsettings ist in vielen Fällen die vielversprechendste Lösung. Es gilt, Lernziele zu formulieren – und dann nach guten und inklusiven Methoden zu suchen. Übrigens muss eine Weiterentwicklung immer alle relevanten Stakeholder zu Wort kommen lassen. Und damit meine ich vor allem die Studierenden, die zu häufig kaum Gehör finden.

Strukturell braucht die Lehre weiter Unterstützung. Dass die Bundesregierung Hochschulen finanziell bei der Digitalisierung helfen möchte, ist erfreulich. Die Arbeit der Stiftung „Innovation in der Hochschullehre“ stärkt das Standing didaktischer Weiterentwicklungen. Eine grundlegende Reform des Kapazitätsrechts, ein großzügigeres BAföG und klare gesetzliche Vorgaben für digitale Prüfungen wären hilfreich. In diesen Bereichen gibt es auch Bewegung. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass die Notwendigkeit neuer Raumkonzepte, die hybride Lernsettings erfordern, bei den Entscheider:innen flächendeckend angekommen ist.

Zusammengefasst: Eine Rolle Rückwärts zum „alten Normal“ wäre fatal und würde zulasten vieler digitaler Lehrinnovationen gehen, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Das würden viele Lehrende verständlicherweise auch als Mangel an Wertschätzung für ihre Arbeit während der Pandemie verstehen. Die Zukunft des akademischen Lernens ist hybrid. 

 

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