MOOCs in Hochschule und Betrieb – sieht so das Lernen der Zukunft aus?

MOOCs in Hochschule und Betrieb – sieht so das Lernen der Zukunft aus?

13.04.18

Das Online-Magazin von Verdi und IG Metall widmen sich in ihrer Ausgabe 02/18 dem Thema „(Berufliches) Lernen in digitalen Zeiten“. In diesem Rahmen stellt Jörn Loviscach das Format der MOOCs vor, analysiert den aktuellen Markt der MOOC-Plattformen und bilanziert den Mehrwert der Onlinekurse. Der Artikel erschien zuerst im Online-Magazin „Denk doch mal“ unter diesem Link

Jede und jeder kann gratis, von überall aus und zu beliebiger Zeit bei und mit den Besten der Welt studieren – mit dieser Verheißung sind die Massiven Offenen Online-Kurse (MOOCs) um das Jahr 2012 herum angetreten. Seitdem haben Erfolge und Pleiten deutlich gemacht, was von dieser Verheißung in der beruflichen Wirklichkeit bleibt.

Ein Tsunami, der durch die Hochschullandschaft fegen wird – mit diesem Begriff hat John L. Hennessy, seinerzeit der Präsident der Stanford-Universität, im Jahr 2012 genau getroffen, was bei ihm im Silicon Valley vor den Toren von San Francisco praktisch jeder erwartet hat: „Massive offene Online-Kurse“ (MOOCs, gesprochen „muhks“) werden das für träge und überteuert gehaltenes Bildungssystem umwälzen.

Elektronische Kurse für die Welt

Wer schon eine Weiterbildung im Web belegt hat, hat eine gute Vorstellung davon, wie ein MOOC aus der Sicht der/des Lernenden aussieht: Die Hauptbestandteile sind Folienvorträge, Testaufgaben, Diskussionsforen, vielleicht auch Diskussionen per Videokonferenz und Abschlussprüfungen – alles per Internet. Liegt der Schwerpunkt auf eher vorbereiteten Materialien, spricht man von einem xMOOC. Liegt der Schwerpunkt eher auf Diskussion und gemeinsamer Arbeit, handelt es sich um einen cMOOC. Das „x“ stammt dabei von den „extension classes“, den Abendkursen der Universitäten; das „c“ stammt vom ersten derartigen MOOC zum „konnektivistischen Lernen“, Lernen durch Vernetzung.

Der Begriff „MOOC“ ist zwar nicht scharf umrissen, aber einige Kriterien lassen sich festmachen: Es geht um einen Kurs, also um mehr als einen Vortrag, aber weniger als einen Studiengang, eher etwas in der Art einer Vorlesung über ein Semester. „Online“ soll bedeuten, dass der Kurs ganz oder zu wesentlichen Teilen im Internet stattfindet. „Massiv“ soll die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sein. Es hat bereits Kurse mit mehreren hunderttausend Anmeldungen gegeben. Auch bei einigen hundert Anmeldungen sprechen manche schon von „massiv“; dann wäre eine klassische Anfangsvorlesung in Betriebswirtschaftslehre allerdings auch massiv.

Noch diffuser ist das Wort „offen“, für welches das erste „O“ in der Abkürzung „MOOC“ steht. Der Kurs ist „offen“ für alle, die sich anmelden wollen, unabhängig von Alter, Bildungsabschluss und Herkunft (wenn nicht ein Embargo greift, wie das der USA gegen Kuba und Iran). Wenn es um MOOCs geht, versteht man unter „offen“ üblicherweise auch „gratis“ – zumindest in der Grundversion (mehr zu den Details im Folgenden). Das „offen“ von MOOCs wird aber meist nicht als „offen“ im Sinne von „offenen Lehr-/Lernmaterialien“ (OER) verstanden: Etwa dürfen die Videos und Quizze eines MOOCs  typischerweise nur persönlich genutzt und nicht weiterverbreitet werden.

Die Umsetzung des „jederzeit“ ist auf zwei Arten eingeschränkt: Erstens verschwinden lizenzrechtlich geschützte MOOCs oft wieder aus dem Netz. Zweitens laufen die meisten MOOCs getaktet ab, mit vorgegebenem Start- und Enddatum. Oft werden die Materialien erst im Laufe des Kurses freigeschaltet. Dies schmälert die Zeitunabhängigkeit, hilft aber gegen Aufschieberitis, sorgt in den Diskussionsforen und bei anderen gemeinsamen Arbeiten für Fokussierung und bringt eine punktuell höhere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Viele Kurse bleiben nach dem Abschluss zunächst zu freien Bearbeitung offen. Bei einigen sehr populären, nicht getakteten Kursen wird auch mit automatischen Kohorten experimentiert: Jede(r) Teilnehmer(in) wird eine Gruppe von anderen zugeteilt, die zur selben Zeit angefangen haben.

Mittler der Bildung

Sofort in den Anfangstagen der MOOCs ist klargeworden: Die Kursmaterialien zu produzieren und zig- bis hunderttausende an Teilnehmenden zu erreichen und zu managen verlangt organisatorische und technische Unterstützung sowie massives Marketing. So ist die Institution oder das Geschäftsmodell „MOOC-Plattform“ entstanden – aus dem Dunstkreis der Stanford-Universität die Plattformen Coursera und Udacity, aus dem Dunstkreis des MIT und der Harvard-Universität die Plattform edX.

Im deutschsprachigen Raum sind mooin[vii] (aus dem Umfeld der FH Lübeck), iMooX (von TU und Universität Graz) und openHPI (vom Hasso-Plattner-Institut Potsdam) derzeit am sichtbarsten. Die hochschulunabhängige Plattform iversity hat nach ihrer Insolvenz 2016 eine Ausrichtung auf Angebote für Unternehmen angekündigt. Die Hamburg Open Online University (HOOU) zeigt derzeit als „Beta-Version“ noch eher kleinteilige Angebote.

Im europäischen Rahmen sind die Plattform „European Multiple MOOC Aggregator“ (EMMA) zu nennen, aber vor allem die Aktivitäten des europäischen Fernhochschulverbands EADTU: OpenupEd als übergreifendes Sammelbecken von Angeboten und das European MOOC Consortium als konkreter Zusammenschluss von Plattformen.

Suche nach einem Markt

Die Gratis-Kurse für Hundertausende von Menschen haben zwar zu Beginn für Medienrummel gesorgt, aber den kommerziellen MOOC-Plattformen wie Coursera und Udacity noch keine Einnahmen beschert. Für Coursera, das hauptsächlich von Hochschulen auf deren Kosten produzierte Kurse anbietet, wurde das nicht so schnell ein Problem wie für Udacity mit seinen meist selbst produzierten Kursen. Und so wurden diverse Geschäftsmodelle ausprobiert und oft auch wieder verworfen.

Ein erster Gedanke bestand darin, die besten Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Unternehmen zu vermitteln – gegen Gebühr von den Unternehmen. Dieses scheint im Laufe der Zeit im Sande verlaufen zu sein. Dauerhaft gehalten hat sich die zweite Idee: Den reinen Kurs kann man gratis besuchen, aber ein elektronisch erworbenes Zertifikate kostet Geld. Inzwischen findet sich dies auch als Abo-Modell und mit tutorieller (Fern-)Betreuung und von Menschen nachgesehenen Aufgaben.

Udacity war der Vorreiter darin, nicht nur Hochschuldozenten, sondern auch Unternehmen wie Google oder Autodesk Kurse veranstalten zu lassen. Coursera hat hier nachgezogen, mit anderen Kursen, ebenfalls von Google. Selbst auf der formal „nichtkommerziellen“ Plattform edX finden sich inzwischen nicht nur die Elite-Universitäten der Welt, sondern auch Amazon Web Services und Microsoft. In Deutschland betreibt das Unternehmen SAP (dessen Mitgründer und derzeitiger Aufsichtsratsvorsitzender der Namensgeber und Initiator des Hasso-Plattner-Instituts ist), mit openSAP einen Klon der Plattform openHPI – mit Kursen zur Entwicklung mit der SAP-Unternehmenssoftware.

Die MOOCs dienen als kostenlose Angebote auch dazu, Menschen zu kostenpflichtigen Kursen auf derselben Plattform zu leiten, so nicht nur bei den US-Anbietern, sondern auch beim mooin-Mutterunternehmen oncampus. Die Plattform Udemy (nicht zu verwechseln mit Udacity) hat sich darauf spezialisiert, jede und jeden zum Dozenten eines selbstgestalteten Kurses zu machen, der dann für einen Preis von zum Beispiel 20 Euro vermarktet wird oder auch gratis zugänglich sein kann.

Fernhochschulen des 21. Jahrhunderts

Alle drei großen US-Plattformen bieten Zusammenstellungen von Kursen an – als „Specialization“, „Nanodegree“ oder „XSeries“. Coursera und Udacity sind darüber hinaus in das Geschäft mit vollständigen Studiengängen eingestiegen: Coursera mit Masterprogrammen etwa in Informatik oder Rechnungswesen für Gebühren von etwa 20.000 bis 30.000 US-Dollar, jüngst auch mit einem Bachelorprogramm in Informatik für 10.000 bis 17.000 britische Pfund, Udacity mit dem Computer-Science-Master des angesehenen Georgia Tech für etwa 7000 US-Dollar. Als Partner sitzt bei letzterem der Telekommunikationsriese AT&T mit im Boot, aus dessen Belegschaft auch viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammen. Selbstredend verlangen diese über Coursera und Udacity vermittelten Studiengänge einen entsprechenden (Hoch-)Schulabschluss, sind also weder vom Finanziellen noch von den Voraussetzungen her „offen“, sondern benutzen die Technik der MOOC-Plattformen und profitieren beim Marketing von den benachbarten MOOCs.

Zu Beginn des MOOC-Zeitalters waren die Universitäten darauf bedacht, den Wert ihrer traditionellen Abschlüsse nicht durch damit verwechselbare MOOC-Abschlüsse zu verwässern. Diese Haltung bröckelt allmählich. Selbst das MIT bietet größere Teile von Studiengängen als „MicroMaster Credentials“ relative günstig online an. Hier könnte sich vielleicht wirklich bewahrheiten, dass die MOOCs einen Einschnitt in die hohen US-Studiengebühren bringen – auch wenn Betreuung und Zeugnis Geld kosten, allerdings deutlich weniger als gewohnt.

Im europäischen Raum entwickeln sich die MOOC-Plattformen nur viel zögerlicher in die Richtung formal anerkannter Fernhochschulen: Es besteht ein viel geringerer Druck durch anderswo hohe Studiengebühren. So hatte iversity als ein Geschäftsmodell verfolgt, zu seinen MOOCs Klausuren an den veranstaltenden Hochschulen gegen Bezahlung anzubieten, mit akkreditierten ECTS-Kreditpunkten und damit in vielen Studiengängen anrechenbar. Offensichtlich hat sich dieses Modell nicht gerechnet.

Deutsche Hochschulen müssen auch „außerhalb des Hochschulwesens erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten“ prüfen und anerkennen. Dieser Weg, MOOCs in einem traditionellen Studium zu nutzen, scheint bisher aber höchst selten von Studierenden eingeschlagen zu werden – vielleicht aus Angst vor Missstimmungen mit ihrem lokalen Prüfungsausschuss.

Druck zur Anerkennung von Leistungen in MOOCs auf reguläre Studiengänge kommt seit 2015 aus einer ganz anderen Richtung: Das mit mehreren Millionen Euro Projektmitteln vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und privaten Stiftungen geförderte deutsche Unternehmen Kiron Open Higher Education will Geflüchtete mit Hilfe der Online-Kurse an deutsche Hochschulen bringen.

Themen für Millionen

Zu welchen Themen MOOCs veranstaltet werden, wird mit klarem Blick auf maximale Wirkung entschieden: Das Bild bestimmen konkrete Aufgaben der Softwareentwicklung – insbesondere praxisbezogene Einführungen in die künstliche Intelligenz –, Themen der ersten Studiensemester, rein Praktisches über Office-Programme, viel Populärwissenschaftliches und – gerade in Form von cMOOCs – Kurse über Bildungsfragen.

Die Listen an Kursthemen lesen sich wie ein wilder Mix aus einem Eliteuni-Vorlesungsverzeichnis für Studienanfänger und dem Kurskatalog der lokalen Volkshochschule. Mit einiger Berechtigung könnte man auch offene Mathematik-Brückenkurse wie VE&MINT als MOOCs bezeichnen. Und der Lübecker Plattform mooin gebührt das Verdienst, solche Themen wie „Volleyball-Trainer“ (mehr als 2100 Anmeldungen) und „Erotik“ (etwa 70 Anmeldungen) anzufassen.

Übungen zur Programmierung und zum Rechnungswesen gelingen per Internet relativ problemlos. In der Elektrotechnik hilft auf edX ein Schaltungssimulator, mit dem man seine Basteleien zumindest virtuell testen kann. Bei Themen wie Mechanik oder Chemie hängen die Plattformen einem realen Versuchspraktikum im Labor aber (noch?) deutlich hinterher. Diskussionen und Zusammenarbeit geraten in jedem Fall online zäher – wenn auch flexibler – als von Angesicht zu Angesicht.

Welcher Produktionsaufwand getrieben wird, unterscheidet sich drastisch von Plattform zu Plattform, aber auch von MOOC zu MOOC. Billigstproduktionen bestehen aus Videos von Wort für Wort vorgelesenen Vortragsfolien. Üblich ist es, weitgehend Videos zu haben, in denen Anmerkungen auf PowerPoint-Folien geschrieben werden oder in denen der Stoff auf dem Bildschirm in Handschrift wie auf einer Tafel entwickelt wird. Einige Kurse streben dagegen das geschliffene Aussehen an, wie man es vom Fernsehen gewohnt ist, zu Produktionskosten von mehreren 100.000 Euro.

Schaulaufen der Universitäten

Um die MOOCs herrschte zu Beginn ein inzwischen weitgehend abgeflauter Wettbewerb. Insbesondere Coursera und edX hatten es geschickt verstanden, sich den weltweiten Elite-Universitäten als unverzichtbar darzustellen: Jede Institution von Weltrang muss dabei sein, so die Botschaft, sonst ist sie von gestern. So haben die Plattformen nicht nur von den Universitäten massive Geldbeträge für deren Mitmachendürfen kassiert, sondern einen Sog erzeugt, den sich zum Schluss kaum jemand widersetzen konnte. Selbst die ETH Zürich und die Universität Oxford sind nach langem Zögern bei edX gelandet, die Universität Cambridge auf der britischen Plattform FutureLearn.

So wie jede Universität, die etwas auf sich hält, anfangs dabei sein musste, so gab es auch einen Wettlauf von Lehrenden darum, in diesem Spiel dabei zu sein. Dieser Wettlauf hat dazu geführt, dass zu viele Kurse viel zu günstig produziert worden sind: Professorinnen und Professoren und vor allem ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben unbezahlte Sonderschichten gefahren, um die Massen zu erreichen – aber auch, um ein bisschen vom Medienrummel abzubekommen.

Die MOOC-Produktion ist ein „teures Signal“: So wie der Pfau mit seinem nichtfunktionalen riesigen farbenprächtigem Federschwanz dem Weibchen zeigt, wie gesund er ist, so zeigt eine Universität mit einer aufwändigen MOOC-Produktion, dass sie es sich locker leisten kann, mehr als die lokalen Studierenden zu versorgen – und zwar gratis.

Selbstdisziplin und mehr verlangt

Ähnliche Signal-Phänomene gibt es auch auf Seite der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Wer ein Dutzend MOOCs mit Zertifikat belegt, beweist damit einem Arbeitgeber vielleicht Können, auf jeden Fall aber eiserne Selbstdisziplin – und Sprachkenntnisse, denn die Auswahl an deutschsprachigen MOOCs ist überschaubar. So finden sich aktuell nur drei deutschsprachige Kurse auf Coursera und nur zwei auf edX. Auch das Angebot an wirklich akademischen Fächern auf den deutschsprachigen MOOC-Plattformen gerät überschaubar.

Die Mehrheit der angemeldeten Teilnehmerinnen und Teilnehmer schaut allenfalls wenige Male in den Kurs hinein. Bis zum Abschlusszertifikat gelangen oft nur wenige Prozent. Bei einem populären Kurs auf einer der US-Plattformen sind einige Prozent von mehreren hunderttausend Menschen immer noch ein Vielfaches des Publikums einer großen traditionellen Vorlesung. Bei einem deutschsprachigen Kurs mit 500 Anmeldungen beginnt man aber angesichts solcher Zahlen an der Effizienz zu zweifeln.

Schon im Jahr 2013 hat ein Experiment für Ernüchterung gesorgt: Studierende der San Jose State University sowie Schülerinnen und Schüler sollten ihre Mathematik-Defizite mit Hilfe der Mathematik-MOOCs von Udacity und Online-Tutoren lindern. Das Resultat fiel deutlich schlechter aus als bei den vorherigen traditionellen Kursen – ein erstes Beispiel dafür, dass auch in den MOOCs der sogenannten Matthäus-Effekt (benannt nach einem Passus aus dem Matthäus-Evangelium) auftritt, wie er allgemein in der Soziologie bekannt ist: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ In einer Studie über edX hat sich beispielsweise gezeigt, dass etwa ein Drittel der Teilnehmenden lehrend tätig sind oder waren. Etwa drei Viertel verfügen bereits mindestens über einen Bachelor-Abschluss.

Chancen für Berufstätige

Insgesamt stellt sich das Bild zwiespältig dar: MOOCs eröffnen im Prinzip jeder und jedem den Zugang zu je nach Thema höherer oder grundständiger Bildung. Ein anerkanntes Zertifikat darüber ist meist kostenpflichtig – wenn auch oft günstiger als bei traditionellen Anbietern. Betreuung und Beratung sind typischerweise ebenfalls zu bezahlen. Gute Englisch-Kenntnisse sind sehr hilfreich, eine perfekte Selbstorganisation ist Pflicht.

Vor dem Eintritt oder einem Wiedereintritt ins Berufsleben helfen MOOCs, wieder auf den aktuellen Stand eines Gebiets zu kommen oder sich neu zu orientieren. Arbeitgeber werden an Zertifikaten in der Bewerbungsmappe nicht nur die nachgewiesenen Kenntnisse schätzen, sondern zwischen den Zeilen auch die Ausdauer und Gewissenhaftigkeit lesen.

Zur Fort- oder Weiterbildung parallel zur Berufstätigkeit eignen sich MOOCs ebenso. Hier besteht vielleicht auch eine Chance, lokale Arbeitsgruppen von Gleichgesinnten zu bilden, mit denen man Kurse gemeinsam bearbeitet, möglichst mit Anrechnung auf die Arbeitszeit. Sehr große Unternehmen, aber vielleicht auch Unternehmensverbünde oder Gewerkschaften könnten eigene MOOCs anbieten, wie etwa Google, Microsoft und SAP das bereits tun.

Unklare Wirkungen auf die Arbeitswelt

Durch die niederschwellige Verfügbarkeit von MOOCs (im Vergleich zu den langatmigeren traditionellen Studiengängen) besteht allerdings die Gefahr, dass sich Bildungsbestrebungen verselbständigen und aus dem Ruder laufen. Schon heute sammelt man Zertifikate, damit das Bewerbungsschreiben besser aussieht. Je mehr MOOC-Zertifikate man beiliegen kann, desto mehr persönlichen Einsatz, Selbstorganisation, Sprachkenntnisse und Ähnliches belegt die Bewerbung in Form „teurer Signale“. Dies könnte in ein Wettrüsten ausarten, das die Einzelne und den Einzelnen viel Zeit und Geld kostet.

Die Wirkung von MOOCs auf die Gesellschaft ist derzeit zwar keinesfalls so dramatisch wie 2012 von vielen prognostiziert, dennoch passen die MOOCs in ein Bild einer virtualisierten und prekarisierten Arbeitswelt:

  • Bildung und Ausbildung werden privatisiert, finden auf persönliche Kosten außerhalb der Arbeitszeit statt. Je mehr diese Möglichkeit genutzt wird, desto mehr wird sie zum faktischen Zwang, um einem Arbeitsplatz zu erhalten oder zu behalten. Die Hürde dazu war mit den bisherigen Angeboten deutlich höher.
  • Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen in einem globalen und gesichtslosen Wettbewerb um die Spitzenplätze, die einen Job versprechen. Dabei geben sie bereitwillig Daten preis, zum Beispiel darüber, wie oft sie welche Frage falsch beantworten.
  • Der Chef ist ein Algorithmus.

MOOCs sind hier ein weiterer Mosaikstein neben der digitalen Tageslohnarbeit in Form von Crowdworking (Arbeit wird in kleinen Stücken per Internet verteilt) und in Form der sogenannten „Sharing Economy“, wie sie sich etwa in der Vermittlung von Fahrerinnen und Fahrern durch Uber oder von Übernachtungsmöglichkeiten durch Airbnb zeigt.

Statt „Tageslohn“ wäre im Internet vielleicht der Begriff „Minutenlohn“ treffender: Er bringt Flexibilität für Nutzerinnen und Nutzer, vielleicht auch für einige Anbieterinnen und Anbieter, aber destabilisiert die Gesellschaft heutiger Art. Auch die unsicheren Startups mit hypermotivierter Arbeit für die Unternehmensvision passen in dieses Bild.

Und nicht nur die MOOCs können in Selbstausbeutung ausarten, mit der man die Aufmerksamkeit potenzieller Arbeitgeber auf sich ziehen will: Auf „Hackathons“ – oft von Unternehmen ausgerichtet – wird Software unter Hochdruck über Tage und Nächte entwickelt. In Programmier-Wettbewerben kann sich jeder mit der Welt messen, aus Unternehmenssicht das perfekte Assessment-Center. Auch die Beiträge, die man (in seiner Freizeit?) zur Entwicklung von offener Software geleistet hat, sind inzwischen selbstverständlicher Teil der Bewerbung.

Das Lernen der Zukunft

Hin und wieder werden Kinder oder Jugendliche aus Entwicklungsländern, die MOOCs mit Bravour absolviert haben, der Weltöffentlichkeit vorgeführt. Dennoch stellen MOOCs zumindest derzeit keinen Weg für die Breite dar: Die erste digitale Spaltung („digital divide“) besteht darin, dass viele Menschen keinen technisch ausreichenden Zugang zum Netz haben. Die zweite digitale Spaltung besteht darin, dass viele Menschen – trotz technischen Zugangs – das Netz nicht produktiv nutzen.

Für die Einzelne und den Einzelnen mit den richtigen Voraussetzungen sind MOOCs eine Chance. Allerdings muss man die Auswirkungen auf Arbeitswelt und Gesellschaft im Auge behalten. Dass MOOCs das formale Lernen mit einem Abschlusszertifikat betonen, wirkt seltsam, weil im Netz Materialien und Diskussionsformen zu Genüge bereitstehen – informell, ohne die Anmeldung zu Kursen. Warum sollten Arbeitgeber Bewerberinnen und Bewerber bevorzugen, die Kurse belegen, statt ohne einen vorgegebenen Kurs selbstständig lernen? Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Signalwirkung von MOOC-Zertifikaten ein Übergewicht gegenüber dem Inhaltlichen gewinnen kann.

 

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