Prüfungen auf dem Prüfstand

Prüfungen auf dem Prüfstand

26.04.21

Drei lachende, junge Frauen an einem Tisch mit Laptops

Prüfungen sind spätestens in Zeiten von Corona zu einem „Hot Topic“ der digitalen Hochschulbildung geworden. Um die vielfältigen Erfahrungen und Perspektiven aus der Community sichtbar zu machen und zu systematisieren, hat das Hochschulforum Digitalisierung zum Übergang ins dritte Digitalsemester die Community Working Group „Prüfungsformaten und -szenarien in der digitalen Hochschulbildung“ ins Leben gerufen. Zum Auftakt der Arbeit stellt in diesem Blogbeitrag Community-Mitglied Prof. Dr. Gabi Reinmann die Grundsätzlichkeit von Prüfungen auf den Prüfstand. 

Vom Prüfungspeak zum dauerhaften Prüfungsstress

Prüfungen spielen in der Hochschulbildung eine gewichtige Rolle: Bestandene Prüfungen führen zu akademischen Zertifikaten beziehungsweise Studienabschlüssen und diese sind die Eintrittskarte für das Berufsleben. Prüfungen in diesem Sinne haben Rechtsfolgen, wie das bereits die Bundesassistentenkonferenz (BAK) 1970 in ihrer Programmschrift „Forschendes Lernen und wissenschaftliches Prüfen“ festgehalten hat [1]. Zu dieser Zeit gab es noch die großen Zwischen- und Abschlussprüfungen, an denen sich alles entschied; die Kritik daran war groß. Besser als solche Prüfungspeaks wären, so meinte man damals, studienbegleitende und entzerrte Prüfungen. Die – wenige Ausnahmen umfassende – großflächige Umstellung der damaligen Studiengänge auf das Bachelor- und Mastersystem im Zuge des Bologna-Prozesses hat diese Vorstellung Realität werden lassen, Studierende und Hochschullehrende aber kaum glücklicher gemacht: Heute schließt jedes Modul mit einer Prüfung ab; je kleiner die Module, gemessen an der Bologna-Währung Credit Point, sind, desto mehr Prüfungen fallen an. Die Prüfungslast ist groß und extensiv.

Heute schließt jedes Modul mit einer Prüfung ab; je kleiner die Module, gemessen an der Bologna-Währung Credit Point, sind, desto mehr Prüfungen fallen an. Die Prüfungslast ist groß und extensiv.

Die Macht der Pandemie

Irgendwie aber hat man sich damit in den letzten Jahren arrangiert; bei großen Veranstaltungen behilft man sich unter anderem mit massentauglichen Prüfungsformaten, auch unterstützt durch den Einsatz digitaler Technologien. Und dann kommt die COVID-19-Pandemie: Alle Hochschullehrenden, ungeachtet ihrer Digital-Affinität, stehen seit März 2020 vor der Herausforderung, ihre Lehrveranstaltungen und Prüfungen so zu gestalten, dass sie ohne physischen Kontakt auskommen – online also in allen möglichen Varianten. Zum Erstaunen vieler Beobachter*innenr sind Hochschullehre und Prüfungswesen nicht zusammengebrochen; allen Bedenken, Hürden und Ärgernissen zum Trotz läuft beides weiter und – was noch wichtiger ist: Eine kritische Masse von Hochschullehrenden beschäftigt sich wie noch nie mit der Frage, wie wir lehren, wie wir bisher gelehrt haben, wie wir morgen und in Zukunft lehren werden. Prüfungen, so mein Eindruck, hat man anfangs noch verdrängt. Auch Lehrende, so meine These, lehren lieber als zu prüfen, denn ihr Ziel ist es, Studierenden etwas beizubringen, nicht, sie scheitern zu sehen. Dieser Umstand steht – zumindest grob betrachtet – in einem Missverhältnis zur Relevanz von Prüfungen im Erleben der Studierenden. Schon vor vielen Jahren hat das allseits bekannte Konzept Constructive Alignment [2] diese Erkenntnis aufgegriffen und rät zu einer kohärenten Abstimmung von Zielsetzungen, Lehrtätigkeiten und Prüfungsaktivitäten. Besonders viel geändert hat es an unserer Prüfungskultur allerdings nicht. Die Pandemie aber hat es geschafft, alles auf den Kopf zu stellen.

Auch Lehrende, so meine These, lehren lieber als zu prüfen, denn ihr Ziel ist es, Studierenden etwas beizubringen, nicht, sie scheitern zu sehen.

Denken outside the box

Im Bereich der Lehre, so mein Eindruck, zeigen das (ver-)störende Potenzial der Pandemie und die nach sich ziehende Adhoc-Digitalisierung bereits Wirkung: Vieles, was bisher unhinterfragt die Hochschullehre in Präsenz geprägt hat, kommt auf den Prüfstand im Bewusstsein von Hochschullehrenden. Genau das sollten wir auch beim Thema Prüfungen tun: Neben praktisch wichtigen Fragen nach „Prüfungsformaten und -szenarien für die digitale Hochschullehre“ wäre, so mein Eindruck, jetzt die Chance, auch grundsätzliche Fragen zu stellen – zum Beispiel die, welche Vorstellungen vom wissenschaftlichen Prüfen wir eigentlich haben und ob das wirklich zukunftstauglich ist. Die BAK hat sich 1970 ernsthaft gefragt, ob man Prüfungen mit Rechtsfolgen nicht auch abschaffen könnte. Ich finde diese Frage interessant – nicht, weil ich tatsächlich glaube, dass dies möglich wäre, sondern weil sie uns Routinen und Haltungen hinterfragen lässt, die implizit und unbeweglich geworden sind, und weil sie ein Denken outside the box anstößt.

Digital in alten Bahnen

Wer im deutschsprachigen Raum an Hochschulen das Wort Prüfung hört, denkt in der Regel automatisch an eben diese Prüfungen mit Rechtsfolgen: Prüfungen, die Folgen für die Zertifizierung haben und damit potenziell einen Studienabschluss gefährden. Studienbegleitende Modulprüfungen in Bachelor- und Masterstudiengängen produzieren eine kontinuierliche Abfolge von möglichen Gefährdungen des Studienabschlusses – in der Wahrnehmung von Studierenden allemal. Es kann nicht ernsthaft verwundern, dass nicht wenige Studierende versuchen, diese Gefährdungen mit allen Mitteln – auch via Täuschung und Betrug – klein zu halten. Und prompt steht denn auch genau das Thema ganz oben auf der Agenda der Digitalisierung von Prüfungen. Das ist nachvollziehbar, aber man merkt doch gleich: Wir bewegen uns wieder und wieder in den gleichen Bahnen und verknüpfen es paradoxerweise noch mit einem Innovationsversprechen beispielsweise in Form digitaler Überwachungsszenarien. Das mag technisch sogar innovativ sein, didaktisch und prüfungskulturell betrachtet ist es nicht nur nichts Neues, sondern nur mehr des Gleichen, das wir schon seit langem kennen; es ist auch grundsätzlich fraglich, was wir damit letztlich befördern.

Die Frage nach dem Zweck des Prüfens

Im englischen Sprachraum gibt es den Begriff Assessment, der übrigens auch im Constructive Alignment verwendet und bei uns oft verkürzt mit summativen Prüfungen gleichgesetzt wird. Assessment aber ist semantisch weiter gefasst als das deutsche Wort Prüfung, insbesondere als Prüfung mit Rechtsfolgen. Assessment bedeutet, Leistungen zu erfassen und zu bewerten, einzuschätzen und abzuwägen. Fragt man sich in diesem weiten Sinne, wozu man im Kontext der Hochschullehre Assessment praktizieren kann (unabhängig davon, wie und mit welchem Grad an Digitalisierung), lassen sich mindestens zwei Zwecke ausmachen [3]: Assessment for Certification – das sind unsere Prüfungen mit Rechtsfolgen, auf die wir so fixiert sind, und Assessment for Learning – also Formen des Sich-Prüfens im Prozess des Lernens und Besserwerdens. Und nun stelle man sich nochmal die von der BAK 1970 heute als unerhört empfundene Frage, was wäre, wenn es keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe [4]. In meiner Phantasie kann ich mir da vieles vorstellen: einerseits Bilder chaotischer Zustände, weil alle machen, was sie wollen, mit der Folge, dass es einen Clash verschiedener zum Vorschein kommender Werte gibt; andererseits Bilder interessanter Entwicklungen, weil man sich darauf besinnt, was man eigentlich will, wenn man anderen etwas beibringen möchte, oder umgekehrt, wenn man von anderen etwas beigebracht bekommen möchte.

Drei lachende, junge Frauen an einem Tisch mit Laptops

Was wäre, wenn…

Wir können die Latte auch niedriger hängen und uns vorstellen, was wäre, wenn wir das Assessment for Certification disziplin- und fachspezifisch passend deutlich (nicht nur ein bisschen) reduzieren und die freiwerdende Zeit und Energie in Assessment for Learning stecken würden. Vor meinem geistigen Auge entsteht dann eine neue Form des Umgangs mit dem Prüfen und Sich-Prüfen: Wir bieten den Studierende so viel Assessment for Learning, wie sie brauchen, um so gut zu werden, dass sie sich reif für ein Assessment for Certification fühlen, denn: Es ist nicht unsere Aufgabe als Hochschullehrende, möglichst viele Studierende scheitern zu lassen, ebenso wenig wie es unsere Aufgabe sein darf, möglichst viele Studierende nur aus politischen Gründen zu einem Studienabschluss zu führen. Assessments for Learning, um besser und „zertifizierungsreif“ zu werden, wären in meiner Idealvorstellung integraler Bestandteil eines akademischen Sich-Übens. Solche Assessments wären täuschungs- und betrugssicher, denn wer immer hier täuschen und betrügen will, täuscht und betrügt sich selbst und kommt der Zertifizierungsreife keinen Deut näher. Viel technischer und juristischer Ballast im Zuge der Digitalisierung von Prüfungen könnte unter solchen Bedingungen von uns fallen.

Wir bieten den Studierende so viel Assessment for Learning, wie sie brauchen, um so gut zu werden, dass sie sich reif für ein Assessment for Certification fühlen.

Übend zum echten Erfolg

Je weniger Assessments for Certification wir hätten, desto mehr Aufwand könnten wir uns leisten, diese reliabel, valide, fair und natürlich auch täuschungs- und betrugssicher zu machen. Je mehr Assessment for Learning wir praktizieren würden, desto eher könnten wir den Anschlusssystemen der Hochschulen hohe Qualität der Lernergebnisse in Aussicht stellen. Nebenher würden wir eine elementare, heute völlig zu Unrecht vernachlässigte, Lernform rehabilitieren, nämlich das akademische Üben beziehungsweise das Sich-Üben, ohne dem es kein wirkliches Können geben kann [5]. Wenn diese unsägliche Pandemie für die Hochschullehre irgendeinen Sinn entwickeln kann, dann ist es doch genau das: Die aktuell auf den Kopf gestellte Situation, die Störung höchsten Grades unserer aller Routinen, zu nutzen, um das zu hinterfragen, wovor wir uns seit Jahrzehnten drücken. Bevor die Pandemie (hoffentlich bald) zu Ende ist, sollten wir das zwingend bei den Prüfungen tun und diese ernsthaft auf den Prüfstand stellen.

 

[1] Bundesassistentenkonferenz (Hrsg.) (1970b/2009). Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen. Bielefeld: UniversitätsVerlagWebler.

[2] Biggs, J. (2014). Constructive alignment in university teaching. HERDSA Review of Higher Education 1, 5-22.

[3] Ashwin, P. et al. (2020). Reflective teaching in higher education. London: Bloomsbury Academic.

[4] Vgl. Reinmann, G. (2012). Was wäre, wenn es keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe? Ein Gedankenexperiment. In G. Csanyi, F. Reichl & A. Steiner (Hrsg.), Digitale Medien – Werkzeuge für exzellente Forschung und Lehre (S. 29-40). Münster: Waxmann.

[5] Brinkmann, M. (2012). Pädagogische Übung: Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

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