Ich will keine Punkte sammeln Gib mir nur ein neues Leben Ich will keine Treueherzen Kannst du mir Liebe geben? Flucht und Himmelfahren Sind uns're Koordinaten Check dich mit mir ein Kannst du mich befreien?
(Rebel Boy, Tocotronic)
Open Education ist zu einem „Rebel Boy“ für die Netzwerkgesellschaft geworden, was eine erstaunliche Renaissance für ein Konzept ist, das in den 1970er Jahren noch als versponnene Hippie-Bewegung galt und aufgrund wenig positiver empirischer Befunde zur Wirksamkeit in den Bildungsplänen seit den 1980er Jahren keine Rolle mehr spielte. Mit dem Übergang in die digitale Gesellschaft und dem Siegeszug moderner Informations- und Kommunikationstechnologien änderte sich dies wieder.
Es waren nun auch keine pädagogischen Konzepte wie der offene Unterricht, die den Takt vorgaben, sondern rechtliche Rahmenbedingungen. Als 2001 das offene Lizenzmodell der Creative Commons vorgestellt wurden, stand dies gleichbedeutend mit dem Start einer neuen (digitalen) Kultur des Teilens. Was in der Kunst schon lange eine bewährte Technik ist, sollte nun auch in der Bildung möglich sein: Das Remixen von Ressourcen, zusammengesetzt aus Bestehende, um daraus etwas Neues zu erstellen. Plötzlich schien auf legalem Weg möglich, wovon bislang nur Cyber-Utopisten wie John Perry Barlow träumten. Allerdings wurden mit den Open Educational Resources (OER) auch deutlich, dass nicht alle in den immer lauter werdenden Chor der Beglückten einstimmten und der Idee von kostenloser Bildung für alle eher grimmig gegenüberstanden. Doch was als Anlass, sich dialogisch mit diesen Bedenken auseinanderzusetzen zu setzen hätten dienen können, wurde stattdessen zum Anlass genommen mit großer finanzieller Wucht zurückzuschlagen. Noch eine Stufe höher drehte die Open Education Gemeinde als 2012 das Jahr der MOOCs ausgerufen wurde, garniert mit einem zum Teil schwer erträglichem Pathos. In einem bislang kaum gekannten Hype schossen offene Kurse auf rasch gegründeten Plattformen aus dem Boden. Auch hier traten schnell Spannungen ans Licht, wenn etwa kommerzielle Anbieter die Nutzung der Materialien im Sinne der OER-Prinzipien untersagten. Ist das noch Open Education fragten sich viele der Aktivist/innen, die lange vor dem Hype an offenen digitalen Angeboten arbeiteten.
Bild: [https://unsplash.com/search/open?photo=FQgI8AD-BSg Finn Hackshaw] Was aber ist Open Education? Ungeachtet der später noch zu diskutierenden Bedeutungsdimensionen von Openness lässt sich Open Education als Assemblage verstehen, im Sinne des von Deleuze und Guattari eingeführten philosophischen Konzepts zur Bezeichnung ganz verschiedenartiger, zum Teil auch sich widersprechender Elemente (Wise, 2005). Es meint damit weniger ein exakt fest gelegtes Korsett von Bedingungen, sondern weist auf ein sich im Werden befindendes Konstrukt hin. Tatsächlich sind es sehr unterschiedliche Ideen, Konzepte und Ansätze, die als Spielarten von Open Education gelten:
Mit diesen heterogenen Verwendungsweisen wird deutlich, dass nicht von der offenen Bildung bzw. Open Education als Ganzes gesprochen werden kann, sondern es sich eher um ausgehandelte Manifestationen auf Grundlage bestimmter sozio-technologischer und politischer Kräfteverhältnisse sind. Diese sind in dauerndem Wandel begriffen und so kommen auch ständig neue Spielarten hinzu, als Variation älterer Konzepte und als Re-Artikulation zentraler Argumentationsfiguren.
Was im vorherigen Abschnitt anhand der MOOCs angedeutet wurde, soll nun etwas genauer beleuchtet werden als eine bestimmende Form, wie über Open Education verhandelt wird, das großes Sprechen. Es geht dabei nicht nur um die Hoffnungen und Wünsche zur Öffnung von Zugang im Hinblick auf die Erhöhung von Bildungschancen, sondern um die Digitalisierung insgesamt. Diese wird als strategisches Ziel auf Bundes- (Hochschulforum Digitalisierung) und Landesebene (z.B. Bildung 4.0 in Nordrhein-Westfalen) aktuell intensiv bearbeitet. Dieser enorme Aktionismus konstruiert einen Narrativ, dem sich nur schwer zu entziehen ist. Gesellschaft und Hochschule stehen vor einem fundamentalen Wandel, gerne auch als Paradigmenwechsel bezeichnet und mit aufsteigender Versionierung gekennzeichnet (E-Learning 1.0, Web 2.0, Internet 3.0, Bildung/Arbeit/Industrie 4.0). Damit auch keiner zurückbleibt oder mit trotziger Verweigerungshaltung reagiert, braucht es einen umfassenden, systematischen Changemanagement-Prozess (u.a. als Themengruppe beim Hochschulforum Digitalisierung installiert), der Strategien entwickelt, wie Hochschulen die Potentiale der Digitalisierung nutzen, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Dabei spielen nicht nur digitale Medien eine wichtige Rolle, sondern insbesondere auch der Mindset, d.h. Denkmodelle mit ihren Normen und Werten.
Verstärkt wird der digitale Transformationsnarrativ durch die Figur des Keynote Speakers, der medien- und öffentlichkeitswirksam eine mahnende Aufbruchstimmung verbreitet. Als durch hohes kulturelles Kapital legitimierter Angehöriger der analogen Welt, ist er/sie auserkoren, über die Segnungen der kommenden Digitalisierung zu berichten, die paradoxerweise darauf abzielen, viele der Privilegien, die zur herausragenden Stellung des Sprechers/der Sprecherin führten, in Frage zu stellen. Auch scheint es eine Art kulturelles Residuum zu geben und so werden die Reden gerne mit Verweis auf das Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts garniert, das doch eigentlich schon im 19. Jahrhundert als nicht durchsetzbar galt.
Mit einer appellativen Rhetorik werden stufenweise Stationen in der Argumentationskette durchlaufen. Zunächst erfolgt in einem Akt der Selbstvergewisserung die Einsicht, dass wir schon mitten im Prozess der digitalen Transformation sind, der Rubikon ist überschritten. Als sichtbarer Indikator gilt der MOOC-Hype, der alle Hochschulen erfasst hat und ihre Funktion, ja ihre Daseinsberechtigung herausfordert. Unmittelbar hinterhergeschoben wird dann der Einwand, MOOCs sind aber nicht das, was wir uns unter digitaler Bildung vorstellen, vielmehr verengen sie die Debatte. Dass es auch anders geht bzw. gehen muss – MOOCs als Schmuddelkinder, mit denen eine Hochschule nicht spielen sollte – ist Thema der nächsten Station. Es gilt, das vielfältige Engagement von Hochschullehrer/innen in Strukturen und Strategien zu überführen. Hier ist dann wiederum die (Bildungs-)Politik aufgefordert, mit entsprechenden Rahmenbedingungen und Finanzierungformen diesen Prozess zu begleiten. Als vorläufiges Ende der Argumentation steht die Erkenntnis, dass Technik alleine nicht ausreicht. Es geht schließlich nicht um die bloße digitale Überführung von Präsenzformaten in Online-Szenarien, sondern um die Entwicklung kluger didaktischer Konzepte, mit denen das, was bereits jetzt außerhalb der Hochschulen an digitalen Kooperationsprozessen vorhanden ist, aufgegriffen und für die Lehre ausgenutzt wird.
Das große Sprechen vereinfacht die Wahrnehmung von Digitalisierung und konstruiert sie als unumkehrbares Großprojekt zur Transformation von Bildung und Gesellschaft. Dadurch werden auch die Ambivalenzen von Openness ausgeblendet, gewissermaßen geglättet. So ist Openness zu einer Leitkategorie bei der Digitalisierung von Hochschule geworden, wird in der Debatte jedoch meist unterkomplex behandelt. Am Beispiel der Open Educational Practices wird dies deutlich. Zumeist sind es drei zentrale Aspekte, die OEP ausmachen: (1) die Produktion und (Wieder-)Verwendung von OER, (2) die Entwicklung innovativer pädagogischer Modelle und (3) die Emanzipation Lernender als Ko-Produzent/innen ihres lebenslangen Lernens. Was als plausibler Ausdruck einer Vision demokratischer Digitalbildung in der Netzwerkgesellschaft daherkommt, beruht tatsächlich auf einer Reihe von Spannungen im Hinblick auf den Bedeutungen von Openness (Friedrich, Shah, Haydeyan, & Watolla 2016). So fehlt es etwa an vielen deutschen Hochschulen noch an politischer Regulation von Openness, mit der die vielen Graswurzelaktivitäten [1] im Bereich OER gerahmt werden.
Auch steht der politisch protegierte Wunsch, mehr OER zu produzieren, da dadurch besser mit den Herausforderungen einer zunehmend heterogenen Studierendenschaft umgegangen werden kann, der normativen Forderung, OER vor Veröffentlichung didaktisch und inhaltlich qualitätszusichern [2], gegenüber. Was passiert mit OERs, die den politisch (damit aber nicht per se pädagogisch) legitimierten Qualitätsansprüchen nicht genügen? Dass in der Diskussion bisweilen ernsthaft über einen „OER-TÜV-Siegel“ nachgedacht wird, zeigt die Uneinigkeit der Akteur/innen auf der praktischen Ebene, die unterhalb des ideologisierten Diskurses liegt.
Ziel dieses Beitrags ist es, der in öffentlichen Debatten unterkomplexen Verwendungsweise des Konzepts Open Education eine differenzierte Betrachtung, die den politischen und kulturellen Implikationen mehr Beachtung schenkt, entgegenzustellen. Hierzu wichtig ist, Openness nicht als natürliche Eigenschaft von pädagogischen Prozessen, sondern als unter den beteiligten Akteur/innen auszuhandelnder Prozess, zu begreifen. Der Aushandlungsprozess ist auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, die wiederum bestimmte Dimensionen widerspiegeln (Friedrich, Shah, Haydeyan, & Watolla 2016). Auf der obersten Ebene geht es um politische Regulierung und Administration und wird durch (supra-)nationale Initiativen wie OpeningUp Education von der EU oder der BMBF-Ausschreibung zu OER (Maßnahmen zur Sensibilisierung und zentrale OER-Infostelle) ausgestaltet. Für die konkrete Umsetzung werden dann andere Dimensionen tangiert, wie etwa die technische Infrastruktur oder die Produktion. Werden beispielsweise OER mit proprietärer Software erstellt und auf einer kommerziellen Plattform angeboten, so kann das die auf anderer Ebene proklamierten Openness-Prinzipien konterkarieren. Weiterhin gibt es eine pädagogische Dimension von Openness, die es zu berücksichtigen gilt. Wie im Zusammenhang mit den Open Educational Practices gezeigt wurde, gibt es hier noch erheblichen Reflexionsbedarf.
Eine solche, multi-dimensionale Betrachtungsweise von Open Education bietet die Chance, die Ambivalenzen und Spannungen aufzulösen und zu abgestimmten Ansätzen zu kommen.
Chafkin, M. (2013, November 14). Udacity ’s Sebastian Thrun, godfather of free online education, changes course. Abgerufen von http://www.fastcompany.com/3021473/udacity-sebastian-thrun-uphill-climb.
Friedrich, C., Shah, N., Haydeayan, M., & Watolla, A.-K. (2016). Are we Openness Ready? – Towards an Open Learning Scale. Paper presented at the OER16 Conference, https://oer16.oerconf.org/sessions/are-we-openness-ready-towards-an-open...
Weller, M. (2014). The battle for open: How openness won and why it doesn’t feel like victory. London: Ubiquity Press.
Wise, M. J. (2005). Assemblage. In C. J. Stivale (Hrsg.), Gilles Deleuze key concepts (S. 91–102). Montreal: McGill-Queen’s University Press.
[1] Siehe dazu den Online Talk „OER – Graswurzelbewegung trifft Bildungspolitik“, verfügbar unter: http://open-educational-resources.de/oer013-graswurzelbewegung-trifft-bi...
[2] Als Beispiel hierfür siehe den Bericht der Arbeitsgruppe aus Vertreterinnen und Vertretern der Länder und des Bundes zu Open Educational Resources (OER), verfügbar unter: http://open-educational-resources.de/bmbf-und-kmk-veroeffentlichen-papie...
Der Artikel erschien ursprünglich in: "Synergie. Fachmagazin für Digitalisierung in der Lehre" und steht unter der Lizenz CC-BY 4.0.
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