Neues Arbeitspapier: „Neue Formen der Koproduktion von Wissen durch Lehrende und Lernende“

Neues Arbeitspapier: „Neue Formen der Koproduktion von Wissen durch Lehrende und Lernende“

15.11.16

Axel Dürkopp

Das Hochschulforum Digitalisierung hat drei Studien zu Schlüsseltrends der Digitalisierung im Hochschulbereich anfertigen lassen. Diese Studien veröffentlichen wir nun im Wochenrhytmus. Den Anfang macht die Studie „Neue Formen der Koproduktion durch Lehrende und Lernende“ von Dr. Tina Ladwig und Axel Dürkop.

Hochschulen haben sich aufgrund verschiedener Einflüsse in den letzten Jahren mehr und mehr geöffnet und vor allem die Barrieren beim Zugang zu Bildung und Wissen gesenkt. Entscheidend zu dieser Öffnung beigetragen hat die Nutzung des Internets, über das neue Formen der Partizipation und Kollaboration möglich geworden sind. Im Fokus des Arbeitspapiers „Neue Formen der Koproduktion durch Lehrende und Lernende“ sind zunächst die damit einher gehenden Veränderungen für Rollen und Anforderungsprofile von Studierenden, Lehrenden und Verwaltungsmitarbeitern durch. Darüber hinaus werden sowohl Konzepte von Online Peer Learning und kollaborativen Lernens im Hochschulbereich als auch konkrete Tools im Hinblick auf Einsatzmöglichkeiten und Nutzenpotenziale, analysiert.

Facetten der Digitalisierung in der Koproduktion von Wissen durch Lehrende und Lernende

Digitalisierung und Öffnung von Hochschulen haben weitreichende Veränderungen in der Lehre zur Folge. Lehr-Lernsituationen können interdisziplinär, institutionsübergreifend und adaptiv gestaltet werden. Der dezentrale Charakter des Netzes lässt Lernende, Lehrende und Forschende näher zusammenrücken, wenn diese bereit sind, einander offen zu begegnen. War das klassische E-Learning lange vom Gedanken der Distribution und Wissensvermittlung geprägt, hat sich der Charakter von Lehren und Lernen durch neue mediengestützte Lernformen und Softwareinstrumente stark verändert. Neue browserbasierte Tools implementieren vernetzte Interaktionen und fordern qua Design zur Änderung von (Lern)verhalten auf. Formate bewähren sich, die ein sinnvolles Verhältnis von Präsenz- und Distanzlernen haben und synchronen wie asynchronen Ansätzen der Kommunikation und Kollaboration Raum geben. Prozesse der Koproduktion von Wissen durch Lehrende und Lernende, denen vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung zukommt, verlaufen, wie jegliche Formen kommunikativer Aushandlung zwischen Akteuren, kontextabhängig. Damit sind sie sowohl in einen hochschulinternen Kontext (Strategie, Struktur und Kultur der Hochschule) als auch in einen hochschulexternen Kontext der Hochschule (Ökosystem der Hochschule) eingebettet.

Um sich dem komplexen, kontextabhängigen Phänomen der Koproduktion von Wissen zwischen Lehrenden und Lernenden zu nähern, dieses zu verstehen und Gestaltungsempfehlungen ableiten zu können, wurden Einschätzungen von Expert_innen eingeholt, die sich bereits viele Jahre mit den Themen Wissen, kollaboratives Arbeiten und der Rolle digitaler Medien auseinandersetzen. Ihre Aussagen wurden mit der systematischen Analyse inspirierender Projekte (div. der Peer 2 Peer University (P2PU), „Gute Apps für Kinder“ am MLAB der Universität Mainz, OER-Booksprint am Beispiel „L3T 2.0“, „Rhizome-Projekt“ der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg sowie „Connected Courses“ der UC Irvine) ergänzt.

Die Peer 2 Peer University (P2PU) beispielsweise wurde 2009 von Philip Schmidt und anderen gegründet und steht in enger Verbindung zum MIT Media Lab in Boston. Ziel ist, die eigene Aktivität und Selbstbestimmung von Lernenden in den Vordergrund, weshalb die P2PU auch keine Plattformen hostet, sondern Anwendungen und Materialien für die Verwendung durch Lernende entwickelt und weitergibt. Grundsätzlich geht es nicht um Vermittlung, sondern darum, Wissen, Erfahrungen und Perspektiven aller Beteiligter zusammenzutragen und gemeinsam den Horizont zu erweitern. Lehrende im klassischen Sinne sind in den Projekten der P2PU zwar häufig beteiligt, inszenieren ihre Autorität als Professoren oder Domänenexperten aber nicht innerhalb von Lernarrangements. Vielmehr drücken die Projekte aus, dass der Erkenntnisgewinn für alle – auch Lehrende – in einem partizipatorischen Setting mit flachen Hierarchien größer ist.

Ein zweites beispielhaftes Projekt, das rhizome.hfbk.net ist im Rahmen der Hamburg Open Online University (HOOU) in einer Kooperation zwischen der TU Hamburg und der HFBK Hamburg entwickelt wurden. Hier werden das Schreiben über Kunst geübt und die Auswirkungen sozialer Medien auf die Kunstkritik untersucht und diskutiert [1]. Dem Lehrbeauftragten kommt innerhalb des Netzwerks die Rolle des Moderators und Impulsgebers zu. Er nimmt nicht mehr die klassische Rolle des Lehrenden ein, sondern mischt sich unter die anderen Stimmen, ohne dass er dem Außenstehenden als besonderer Akteur auffällt, und wird damit auch zum Co-Learner. Technisch bietet die Software Diaspora die Möglichkeit, Themen über Hashtags zu kategorisieren, und auch Beziehungen über das Rhizome der HFBK hinaus herzustellen. So kann der Diskurs interdisziplinäre und transdisziplinäre Impulse erfahren, die allen Beteiligten neue Sichtweisen offenbaren und damit potenziell neues Wissen produzieren können.

Diese aktuellen Projekte im nationalen wie internationalen Hochschulkontext weisen darauf hin, dass Wissen vermehrt team- und gruppenbasiert konstruiert und produziert wird. Verschiedene Modi der Zusammenarbeit werden hierbei sichtbar: Während die Kooperation auf effiziente arbeitsteilige Prozesse setzt, ist die Kollaboration zeitaufwändiger und verändert die Beteiligten. Sie kann Wissen und Artefakte in Prozessen hervorbringen, die Heterogenität, Emergenz und Unfertigkeit begrüßen. In kollaborativen Prozessen der Wissensproduktion kann Neues entstehen, wenn der unterschiedlichen Herkunft und Vorerfahrung aller Beteiligten durch Mitbestimmung und Teilhabe am Lernprozess Rechnung getragen wird und Problemstellungen entsprechend situiert und anpassbar gestaltet werden. Darüber hinaus wurden diverse Tools exemplarisch auf ihren Mehrwert für die Prozesse der Koproduktion von Wissen untersucht und mögliche Einsatzszenarien beschrieben. Dazu zählen Blogs, Wikis und Etherpads sowie Plattformen und Werkzeuge für Learning Communitys wie StackExchange und Discourse. Ferner wurden Git-basierte Kollaborationswerkzeuge wie GitHub, GitBook und Authorea untersucht und diskutiert. Diverse Chattools wie SlackRocketChat/ Mattermost und Diaspora fielen ebenfalls unter die Auswahl.

Auf Akteursebene drückt sich die neue Offenheit der Hochschule in der Zuschreibung neuer Rollen für Lehrende und Lernende aus. So sollen Lernende aktiv im Zentrum der Auseinandersetzung mit Themen und Problemen stehen und dabei von Lehrenden in ihrem Lernen unterstützt und begleitet werden. Verschiedene Ausprägungen von peer-to-peer-Prozessen des Lernens und Bewertens kommen ergänzend zu den Veränderungen der klassischen Studierendenrolle hinzu. Lehrende können zu Ko-Lernenden werden, sofern sie transparente und offene Prozesse aufsetzen und anleiten. Auch auf institutioneller Ebene zeigt das Konzept von Offenheit Bedarfe für Veränderung und Mitgestaltung auf. Hier hinken jedoch tradierte Strukturen aktuellen Entwicklungen, aber vor allem Gestaltungsmöglichkeiten hinterher. So erlaubt der technische Fortschritt besonders im Bereich der Rechnervirtualisierung, schneller und kosteneffizienter technologiegestützte Lehr-Lernszenarien aufzusetzen und zu testen. Die Arbeitsteilung, die für Entwicklung und Betrieb klassischer E-Learning-Angebote sinnvoll war, scheint für die aktuelle Innovationsgeschwindigkeit der Digitalisierung nicht mehr in jedem Fall passend zu sein.

Koproduktion weiter denken

Neben diesen neuen Anforderungen an Lern- und Qualifikationsprozesse auf rein technologischer Ebene ergeben sich auch Gestaltungsmöglichkeiten für das Zusammenspiel von Technik und Didaktik. Hochschule und das Ökosystem Hochschule sind gefragt, Experimenten Raum zu geben und bei der Verstetigung gelungener Praxis zu unterstützen. Um dieser Forderung gerecht zu werden, können drei zentrale Gestaltungsempfehlungen abgeleitet werden:

1. Stakeholderübergreifende Partizipation im Designprozess:
Lernprozesse fangen nicht erst mit dem Veröffentlichungsdatum eines Lernangebots an. Vielmehr zeigt sich, dass Lernprozesse auch schon im Designprozess durch die Partizipation verschiedener Stakeholdern, wie Lehrende, Lernende, Industriepartner, Betriebe und sämtliche Akteure, die in irgendeiner Form einen Anspruch an die Gestaltung des konkreten Lernangebots haben, beginnen. In diesem Zusammenhang wird dem sogenannten „learning engineer“ eine besondere Bedeutung zugesprochen, da dieser in den Rollen des Beraters, Entwicklers und Übersetzers zwischen der fachlichen, didaktischen und technischen Ebene helfen kann, Aushandlungsprozesse zwischen allen Beteiligten anzuleiten und zu koordinieren. Agile Projektmanagementmethoden wie Scrum sowie partizipative Workshops mit diversen repräsentativen Stakeholdern können helfen, ein shared understanding zu erarbeiten und gleichzeitig alle Beteiligten zu informieren und zu qualifizieren.

2. Verankerung von Offenheit als soziale Praktik an Hochschulen:
Um Offenheit als soziale Praktik nachhaltig in Hochschulen zu verankern, bedarf es einer Integration dieser Einstellung in der Strategie, Kultur und Struktur von Hochschulen. Es reicht nicht, dass Offenheit in einzelnen Funktionsbereichen gelebt wird. Vielmehr braucht es ein gemeinsam geteiltes Verständnis aller Organisationsmitglieder. Dies erfordert eine Einbindung interessierter Nutzergruppen in akademische Inhalte, egal ob diese aus dem internen oder externen Umfeld der Hochschulen kommen. Vorteil ist, dass die Öffnung der Hochschule zu einer frühzeitigen Einbindung potenzieller Interessierten an Forschungsergebnissen oder möglichen Ausgründungen führt. Lernende wie Forschende können gleichermaßen Ergebnisse und Produkte früh im Entwicklungsprozess testen und evaluieren. Es zeigt sich jedoch, dass es Zeit braucht, die neue Dimension von Offenheit umzusetzen. Dieser Zeit sollte entsprechend in der Kultur der Hochschule Raum und Wertschätzung entgegen gebracht werden.

3. Stärkung des Commitments durch die Politik:
Die augenblickliche Situation der Hochschulen ist unkomfortabel, da sie sich scheinbar unter Wettbewerbsdruck reagierend zu Strömungen verhalten müssen, die global sichtbar werden. Es ist notwendig, den kulturellen Kontext des deutschen Hochschulsystems nicht aus den Augen zu verlieren und technische wie didaktische Lösungen den regionalen, lokalen und globalen Anforderungen anzupassen. Hierzu braucht es das Bekenntnis der Politik sowie die Anerkennung, Wertschätzung und Unterstützung der Aktivitäten experimentierfreudiger Akteure. Die Politik muss begreifen, dass sich Hochschulen derzeit nicht in einem Implementierungsprozess bewährter Lösungen befinden, sondern Chancen, Potenziale und Sackgassen auf individueller wie institutioneller Ebene erfahren und erforschen müssen. Die Veränderung des deutschen Hochschulsystems im Angesicht von Möglichkeiten und Risiken der Digitalisierung muss von der öffentlichen Hand finanziert und getragen werden.

[1] vgl. „Labor: Kritik im Netz“ und „Soziales Netzwerk der HFBK online

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