Ausgezeichnet im Essaywettbewerb: Fünf Jahre alt, drei Kilogramm schwer

Ausgezeichnet im Essaywettbewerb: Fünf Jahre alt, drei Kilogramm schwer

20.04.15

Es ist 16:45 Uhr. Mein Atem geht schwer. Wie tollwütige Spatzen flattern meine Augen über die geschriebenen Zeilen. Ich sitze angestrengt vor meinem fünf Jahre alten, drei Kilogramm schweren, mit drei aussagekräftigen Aufklebern verzierten Laptop. Die Tastatur weist starke Abnutzungsspuren auf, besonders bei asdf und jklö (entstanden durch die immer alarmierte Fingerhaltung auf der mittleren Tastenreihe, welche ich damals im Schreibmaschinenkurs lernte).

Mein mittlerweile viertes Ladekabel ist an der Laptop-Ladebuchse elegant – man könnte auch sagen ungesund-verrenkt – nach oben gebogen. Der Akku hält nur etwa 78 Sekunden, sodass ich im Fall, dass sich das Ladekabel aus seiner Verrenkung lösen sollte, noch eine Schonfrist habe, meine Zeilen zu sichern, um dann bis auf Weiteres die Ladekabelakrobatik stattfinden zu lassen.
Ich sitze vor dem Laptop, den mir meine Eltern in meinem zweiten Semester kauften und den ich überglücklich aus einem der – zumindest bis 2009 – noch verbliebenen Elektrofach-geschäfte vor der Vereinsamung rettete. Ohne Mikrofon – was schon zu der Zeit Aufsehen erregte –, dafür mit extra Zahlentasten, rechts neben den Pfeiltasten. Ich studierte ja schließ-lich BWL und da konnten Zahlentasten sicherlich von Vorteil sein. Dachte ich jedenfalls.
Dies ist mein erster (und bisher einziger) Laptop. Doch was gab es davor? Über die ersten Jahre im digitalen Zeitalter denke ich gerne nach, denn es bringt mich immer wieder zum Schmunzeln. Zusammen mit meinem Bruder saß ich im kältesten Raum des Hauses vor einem aus heutiger Sicht überdimensionalen Computerbildschirm. Früher schaute ich ihm nur beim „Prince of Persia“-Spielen zu. Als unser Onkel auch bei uns das Internet installierte, stritten wir uns um die Zeit vor der Flimmerkiste. Wenn ich dann alleine war und das Modem seine Melodie mit einem Schweigen beendete –„dü-dü-dü-dü-dü-dü-chrrrrrrrrr“ –, war ich verschlungen von den unfassbaren Möglichkeiten, die das World Wide Web mir bot.
Ja, ich bin eine digitale Ureinwohnerin: Seit meinem elften Lebensjahr besitze ich meine gmx-E-Mail-Adresse, mit zwölf Jahren „erbte“ ich das alte Handy meiner Schwester, mit 13 Jahren nahm ich an einem Zehn-Finger-Schreibmaschinenkurs teil, mit 14 Jahren perfektionierte ich meine Tippfertigkeiten durch stundenlange ICQ-Chats, mit 15 Jahren entdeckte ich YouTube als Gitarrenlernhilfe, mit 16 Jahren verfügte ich über Profile bei studiVZ und schülerVZ, mit 17 Jahren buchte ich über das Internet eine Sprachreise nach England, mit 18 Jahren trat ich Facebook bei, mit 19 Jahren fuhr ich mit meinem Papa zum besagten Elektronikfachhandel und kaufte diesen drei Kilogramm schweren Laptop.
Den Umgang mit der digitalen Welt lernte ich selbst. Durch wen auch sonst? Erst jetzt, im Nachhinein, reflektiere ich den Einsatz digitaler Medien in der Schule.
Im Gymnasium hatte ich eine super Deutschlehrerin, Frau Schünemann, die ihren Unterricht mit ihrer euphorischen Art sehr lebhaft und interessant gestalten konnte. Sie nutzte nur die Tafel und den Overhead-Projektor. In meinem Erdkunde-Leistungskurs hatte ich wiederum einen Lehrer, der für jede Stunde eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet hatte, jedoch den Inhalt nicht so gut wie meine Deutschlehrerin vermitteln konnte. Dass wir Powerpoint be-fremdlich fanden, lag wohl daran, dass wir es als zu professionell und zu overdressed für die Schule befanden. Gleichzeitig hielten wir die Röhrenfernseher, die in umständlichen, abge-schlossenen Rollschränken für jede Etage ausgeliehen werden konnten, für verstaubt.
Deshalb ist für mich die Frage, welche Medien für den Schulunterricht in Zukunft eingesetzt werden sollten, nicht die zentrale Frage. Die Technologie wird so oder so kommen, um den zunehmend technikaffinen Schülern gerecht zu werden. Ich könnte nun beginnen, darüber zu philosophieren, welches innovative Medium bei welchem Bildungsauftrag wie eingesetzt werden müsste. Doch eins ist klar: Dass in Zukunft Smartboards, Tablets et cetera im Unter-richt aus gutem Grund eingesetzt werden, ist nur eine Frage der Zeit; insbesondere YouTube wird eine große Rolle spielen. Technikschulungen für die neuen Medien sind (theoretisch) leicht durchzuführen: Wie spiele ich einen Film auf dem Smartboard ab, wie erstelle ich Powerpoint-Präsentationen et cetera.
Die Frage ist jedoch eher, wie die Medien angewandt werden. Woher lernen Lehrende, und damit meine ich nicht nur digital immigrants (Menschen, die nach 1980 geboren sind und sich erst im Erwachsenenalter mit dem Internet vertraut machen), wie digitale Medien erfolgreich und für die Schüler ansprechend im Unterricht eingesetzt werden können und sollten? Werden für die Lehrer jemals Didaktikweiterbildungen zum Thema storytelling gegeben? Eine Kompetenz, die in Zukunft immer mehr von den Schülern verlangt werden wird.
Frei nach Albert Einsteins Motto: „Ich denke niemals an die Zukunft. Sie kommt früh genug“, lebe ich, seit ich denken kann, glücklich von Moment zu Moment. Das Konzept „Zukunft“ habe ich schon immer verdrängt und mich von meinem Urvertrauen leiten lassen. Denn es kommt, wie es kommt: Nach meinem Abitur schrieb ich halbherzig zwei Bewerbungen an Unis, von denen aufgrund von Formalien nur eine gültig war. Ich bekam in der zweiten Nach-rückphase einen Studienplatz im Bachelorstudiengang Kulturwirt an der Universität Duisburg-Essen, von dessen Konzeption ich anfangs überhaupt keine Ahnung hatte. Ich gelangte an Praktikumsplätze, Nebenjobs und Auslandssemester durch meine persönlichen Netzwerke, doch allesamt erst kurz vor knapp.
An die Zukunft dachte ich selten. Erst als ich vor Kurzem in meinem Masterstudiengang eine Vorlesung über Innovationen hörte, in der unser Dozent, der Innovationsforscher Dr. Babak Zeini, darüber sprach, dass Computer sich in etwa zehn bis 15 Jahren selbst entwickeln würden, da sie die menschliche Denkfähigkeit überholten, dachte ich über die Zukunft der Menschheit nach und schlitterte in einen nahezu depressiven Zustand.
Ich dachte an den onlinekritischen Poetry-Slammer Sebastian23 und seinen Text „online sein“ und an den 1932 von George Orwell gesagten Satz: „Wer verstehen möchte, wie sehr Maschinen unseren Alltag bestimmen, der möge sich jetzt sofort einmal umschauen.“ Die Optimistin in mir wurde das erste Mal stumm. So stumm, dass man die Vibration einer Whatsapp-Nachricht im Stumm-Modus hätte hören können.
Die Maschinen werden uns verdrängen. Arbeitsplätze sterben aus, Millionen und Abermillio-nen von Menschen werden auf der Straße sitzen, nicht mehr genug zu essen haben. Die Schere zwischen Arm und Reich wird einen 180-Grad-Modus einnehmen. Die Empathie, welche mir meine Eltern – wahrscheinlich eher unbewusst – durch ihre Erziehung mitgegeben hatten, stand vor einem mentalen Zusammenbruch: „Weh mir! Die Menschheit wird da-hindarben wie eine wunderschöne Blume, die des Wassers Fülle entbehren muss. Deren Blüten im Winde verwehen. Deren letzte Stunde geschlagen hat.“ Jetzt weiß ich, wie sich Arbeiterkinder bei der Einführung von Humboldts Schulpflicht gefühlt haben, wie sich die angestellten Landarbeiter von Großbauern beim Kauf von Traktoren fühlten, wie sich fleißige Arbeiter in der Automobilbranche beim Einsatz von Montagerobotern fühlten.
Leer. Überflüssig. Voller Zweifel über die kommenden Jahre.
Bin ich der digitalen Zukunft wehrlos ausgeliefert? Ist mein lieb gewonnener fünf Jahre alter, drei Kilogramm schwerer Laptop mit den drei aussagekräftigen Aufklebern und der abge-nutzten Tastatur ein unverrückbar negatives Siegel für meine Zukunft? Bin ich zu langsam für die neuen Technologien? Und zu kritisch, zu sehr Hippie? Muss ich mehr bei Facebook posten, um am digitalen Ball zu bleiben? Wird es der entscheidende Nachteil sein, dass ich nur bei „Prince of Persia“ zugeschaut habe, doch nie die Muße hatte, selbst zu spielen? Muss ich mir bald vorwerfen, ein günstiges, weniger designgetriebenes Smartphone gekauft und es zwei Jahre lang mit einem Sprung in der Scheibe, der sogenannten Spider-App, mit mir herumgetragen zu haben? Ist es schlimm, dass ich noch kein E-Book habe, weil ich es besser finde, den Leseerfolg – insbesondere bei Uni-Lektüren – haptisch zu betrachten?
Nein. Die Antwort ist schlichtweg: Nein. Ich bin der digitalen Zukunft nicht wehrlos ausgelie-fert. Denn auch diese Fragen sind irreführend und ich sollte eher über die zentrale Frage nachdenken: Welches Menschenbild ist in Zukunft notwendig?
Gunter Dueck behauptet in seinem Buch „Aufbrechen“ von 2010, dass in Zukunft „Ideen, Verhandlungsgeschick, politisches Gespür, Willen, Kreativität, Beharrlichkeit, Überzeugung, Begeisterung, eine gute Persönlichkeit und viel Wissen“ (Seite 55) notwendige Kompetenzen und relevante Werte seien. Ich glaube ihm. Auch mit seinen Aussagen, dass die Dienstleis-tungsgesellschaft vor dem Niedergang steht und wir uns mitten im Wandel des „digitalen Zeitalters“ befinden. Es muss ein Umdenken in Deutschland stattfinden, denn das bisher so wertgeschätzte Bild der wirtschaftlich stabilen Nation bedeutet insbesondere im Jahrhundert des Wandels eine enorme Inflexibilität.
Doch was bedeutet das für mich? Ich, die um 2:35 Uhr immer noch an ihrem lieb gewonne-nen fünf Jahre alten und drei Kilogramm schweren Laptop sitzt.
Ich seufze, fühle mich erleichtert, denn ich weiß: Ich habe eine kommunikative, kritische, empathische Persönlichkeit; trotz fünf Jahre altem und drei Kilogramm schwerem Laptop.
Und ich kann mir nichts Schöneres für meine Zukunft vorstellen, als Eigenschaften wie Krea-tivität, Empathie, Teamgeist und Begeisterung zu lehren. Denn das ist die Basisbildung, auf die es ankommt. Doch wer unterstützt mich? Welche Institutionen unterstützen Leadership-, Empathie- und Kreativitätsprogramme für Jugendliche und Studierende? Wie lange dauert es, bis der Staat versteht, dass die Zukunft digital ist?
Es ist 2:48 Uhr, ich klappe meinen Laptop zu, reibe mir meine Augen und gehe ins Bett.

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