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3. Platz im Essaywettbewerb: Aus Informationen Haltung machen

Profil.
Stefanie Hennig, 11.3.2015
Dieser Beitrag gehört zum Dossier:
Dossier

Studierende

Eine zentrale Rolle in der Hochschule spielen ihre Studierenden. Inhalte zum Thema werden in diesem Dossier zusammengeführt.
Graduiertenfeier.


Als ich noch zur Schule gegangen bin, habe ich jeden Morgen den
gleichen Satz gelesen. Eigentlich waren es zwei Sätze. Sie standen auf
einer Plakatwand, die das städtische Theater gemietet hatte. Auf fünf mal drei
Metern war in schnörkellosen Großbuchstaben gedruckt: „Es kann nicht
jeder werden, was er will. Aber jeder kann werden, was er ist: ein
Mensch.“

Zwei Sätze, 90 Zeichen. Ideale Twitterlänge. Es gab noch keine
Smartphones, als ich auf meinem Schulweg darüber nachdachte, was das
heißt: „... werden, was er ist: ein Mensch", und wie das überhaupt gehen
soll: etwas werden, was man ja schon ist. Auf jeden Fall habe ich
irgendwann verstanden, dass es das eine ist, sich die beruflichen
Wünsche zu erfüllen. Und dass es das andere ist, jemand zu werden, eine
Person zu sein, Persönlichkeit zu haben. Ich habe den Unterschied
zwischen Ausbildung und Bildung verstanden.

Der diesjährige Friedenspreisträger Jaron Lanier hat kürzlich in der
Frankfurter Paulskirche darüber gesprochen, was es bedeutet, in einer
digitalen Zeit zu „werden, was man ist: ein Mensch“. Wenn Lanier recht hat
und die Veränderungen in jedem Lebensbereich so groß sind, dass wir
einen „neuen Humanismus“ brauchen – was bedeutet das für das
„Bildungsideal einer digitalen Zeit“?

Die westliche Zivilgesellschaft der Neuzeit, geboren vor ein paar hundert
Jahren, irgendwo zwischen Kant und dem Sturm auf die Bastille, kennt
genau ein Bildungsideal: das humanistische. Es zielt ab auf den
Menschen, der neben Fachkenntnissen auch ein Verständnis von sich
selbst hat und davon, wie er sich zu anderen ins Verhältnis setzen will und
kann. Es geht um Horizont, Haltung und die Fähigkeit, Situationen zu
meistern, für die wir keine Toolbox haben. Diese Vorstellung von Bildung
ist historisch und ideell geknüpft an die Gesellschaftsform der Demokratie
und stellt den mündigen Menschen in den Mittelpunkt, der ein Interesse
daran hat, selbstbestimmt zu leben und Optionen des Miteinanderlebens
friedlich und nachvollziehbar mit anderen Menschen auszuhandeln.
Im 21. Jahrhundert ändern sich dafür zum ersten Mal seit der Aufklärung
die Bedingungen. Die Digitalisierung bedeutet eine fundamentale
Umwälzung der Art und Weise, wie sich Menschen über ihre Interessen,
Meinungen, Gestaltungsvorstellungen verständigen. Diese Umwälzung
lässt sich auf drei Begriffe bringen. Es sind die Strukturmerkmale der
digitalen Zeit: Verfügbarkeit, Individualisierung, Sichtbarkeit.

Was bedeuten diese drei Strukturmerkmale für das Bildungsideal der
Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts?

Verfügbarkeit meint: entgrenzte Verfügbarkeit. Zur Grunderfahrung in einer
digitalen Zeit gehört, zeitlich und geografisch unabhängig Bücher
bestellen, Partner suchen, Aktien verkaufen zu können. Wir haben
vermeintlich bedingungslosen Zugang zu Waren, Kommunikation,
Information. Es ist alles – immer – da. Diese Verfügbarkeit entwickelt eine
Eigendynamik, im Sinne eines Wirklichkeitszuwachses: Es ist die eine
Sache, beim Stammtisch mit den Nachbarn darüber zu sinnieren, wie das
wohl wäre, wenn man ’mal mit der Transsibirischen Eisenbahn von
Moskau bis nach Peking und so weiter, und so weiter – und es ist das andere, auf den
Bildschirm zu starren, das Wohnzimmer um sicher herum zu vergessen,
im Video durch Taiga und Tundra zu fahren und dann nur noch einen Klick
entfernt zu sein von der Reisebuchung. In einer digitalen Zeit werden wir
der tausendgestaltigen Möglichkeiten, da auf einem abgegrenzten
Bildschirm dargestellt und unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit –
damit auch deren Einschränkungen und Bedingungen – enthoben,
habhafter.
Zum Bildungsideal der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gehört deshalb,
als Erstes, Urteilskraft. Wenn alle Optionen, alle Informationen, Waren,
Kommunikation immer zur gleichen Zeit nebeneinander vorhanden und
zugänglich sind, ist es umso wichtiger, entscheiden zu können: Was
brauche ich zur Beantwortung meiner Frage? Was sind die Konfliktlinien
an einer Sache? Was kann und will eigentlich ich vertreten? Was ist echte
Möglichkeit – und was nur Gelegenheit?

Individualisierung meint: Hyper-Individualisierung. Suchergebnisse werden
auf den Suchenden zugeschnitten, Onlineportale zeigen automatisch das
Wetter der jeweiligen Heimatstadt an und durch „user-generated content“
kann jeder sich mit genau den Themen befassen, die ihn immer schon
interessiert haben. Wer sich online bewegt, muss die Komfortzone selten
verlassen. In einer digitalen Zeit wird jeder Mensch sein eigener
Kulturkreis.
Zum Bildungsideal der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gehört deshalb,
als Zweites neben Urteilskraft, Anschlussfähigkeit. In einer Demokratie
müssen wir Menschen überzeugen, sie mitnehmen, ihren Standpunkt
verstehen, ihn mitdenken. Das wird umso schwerer, je diverser und breiter
gestreut die Lebenswirklichkeiten und -erfahrungen sind. Zwei Menschen,
die einer Generation angehören und aus der gleichen Stadt kommen,
können in einer digitalen Zeit in ganz anderen Welten leben.
Anschlussfähigkeit ist das Vermögen, die eigene Position ins Verhältnis zu
setzen zu anderen, die eigenen Interessen mit denen der anderen in
Kontakt zu bringen, meinen Horizont mit dem der anderen zu vermitteln.

Sichtbarkeit meint: den Zwang zur Sichtbarkeit. Im Internet kann nur
stattfinden, was auch materialisiert wird. Weil nur das auch verlinkt, geteilt
und gepostet werden kann. Was nicht Schrift, Foto, Film oder Sound ist, ist
nicht. Zwischentöne, das Implizite, vielleicht eine unbewusste Geste, die 
viel mehr erzählt als jeder noch so lange Post, werden im
Internet zwar genauso gesendet wie analog – aber viel weniger
empfangen. In einer digitalen Zeit müssen wir explizit sein, um überhaupt
zu sein.
Zum Bildungsideal der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gehört deshalb,
als Drittes neben Urteilskraft und Anschlussfähigkeit, Artikulationsfähigkeit.
Wir brauchen Artikulationsfähigkeit umso stärker, je mehr wir über E-Mails,
Twitter, Facebook und Kurznachrichten miteinander kommunizieren.
Artikulationsfähigkeit heißt, seine Emotionen, Ideen und Vorstellungen von
Gesellschaft, seine Argumente und Impulse ausbuchstabieren zu können, ganz
gleich ob wörtlich, in Form eines Textes, oder im übertragenen Sinne, in
Form einer Bild- oder Audiodatei.

Urteilskraft, Anschlussfähigkeit und Artikulationsfähigkeit – dieser
Dreiklang sichert die Handlungsfähigkeit des mündigen Ich und seine
Teilhabe an einem selbstbestimmten Wir unter den Strukturbedingungen
einer digitalen Zeit. Für das „Bildungsideal einer digitalen Zeit“ gibt dieser
Dreiklang den Ton an.

Was bedeutet das für die Art und Weise, wie die westliche Zivilgesellschaft
Bildung institutionell organisiert, oder kurz: Was bedeutet das für unsere
Universitäten?

Nicht weniger als die Möglichkeit, ihren guten Ruf zu retten. Seit mehreren
Jahren müssen sich die Universitäten den Vorwurf gefallen lassen, zu
reinen Abiturienten-Durchschleusestationen verkommen zu sein:
„Bulimie-Lernen“ statt Bildung, Multiple Choice statt leidenschaftlicher
Diskussion. Die digitale Zeit ist die Chance für die Universitäten, wieder zu
dem Ort zu werden, an dem aus Informationen Haltung wird.

Zum einen, weil die digitale Zeit den Universitäten mit neuer Dringlichkeit
ihre alte Aufgabe diktiert; die besteht nicht etwa darin, Wissen zu
vermitteln, sondern darin, etwas mit Wissen zu machen. Urteilskraft,
Anschlussfähigkeit und Artikulationsfähigkeit sind eine Sache von Trial 'n
Error, von Übung und Erfahrung: Wie fühlt es sich an, eine Position
einzunehmen? Was machen andere mit den gleichen Informationen, die
ich auch habe, und warum kommen sie zu anderen Ergebnissen? Was
passiert, wenn ich meine Position aufgebe und mich überzeugen lasse?
Wie gestalten wir Wirklichkeit in einer digitalen Zeit?
Die Universitäten müssen der gesellschaftliche Ort sein, an dem diesem
Ausprobieren Raum gegeben wird. Keine
Informationsvermittlungsanstalten, sondern Trainingscenter für Urteilskraft,
Anschlussfähigkeit, Artikulationsfähigkeit. Die Botschaft an die Studierenden: 
Ihr seid hier gefragt! Nicht als Signaturautomaten für
Anwesenheitslisten, sondern in Verantwortung: nämlich für die gelingende
Bildung von euch und euren Kommilitoninnen und Kommilitonen.
Denn ohne Austauschende kein Austausch.

Zum anderen, weil die digitale Zeit den Universitäten die Erfüllung dieser
Aufgabe so leicht macht. In einer Zeit der Verfügbarkeit müssen keine
Vorlesungsstunden mehr darauf verwendet werden, dass Professorinnen
und Professoren ihre Bücher nacherzählen, stumpf an ein stummes
Publikum. Wir brauchen auch keine Seminare mehr, in denen
Kommilitoninnen und Kommilitonen Sitzung für Sitzung den Inhalt von
Texten referieren. Das sind Formate aus einer Zeit, in der das notwendig
war, weil Bücher und Informationen schwer zugänglich waren. An ihre
Stelle können echte Bildungsformate treten – und das heißt:
Austauschformate.
Wie könnten wir Urteilskraft besser entwickeln, als sie im Ringen mit
unseren Kommilitoninnen und Kommilitonen immer wieder auf die Probe
zu stellen in der wertvollen Zeit, die wir wirklich miteinander nutzen können
und nicht nur nebeneinander sitzen müssen? Und wie könnten wir besser
Anschlussfähigkeit üben, als einem Kommilitonen, der sich aus der Sonne
Kaliforniens per Video ins international besetzte Seminar zugeschaltet hat,
zu erklären, wie wir Thomas Piketty verstanden haben? Wie könnten wir
besser Artikulationsfähigkeit üben, als unserem Professor in der Chat-
Sprechstunde die Gliederung der Hausarbeit vorzustellen?

Dabei geht es nicht um möglichst viele Onlinekurse. Sondern darum, die
Möglichkeiten einer digitalen Zeit im Sinne eines Bildungsideals wirksam
werden zu lassen, das den Erfordernissen einer digitalen Zeit Rechnung
trägt. Worum es wirklich für die Universitäten der Zivilgesellschaft des 21.
Jahrhunderts geht, ist, einem Studierenden etwas anzubieten, für das es
keine App gibt: den größtmöglichen Spielraum, „zu werden, was er ist: ein
Mensch“.

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Profil.
Stefanie Hennig

Stefanie Hennig ist in der Hochschul- und Vorstandskommunikation tätig. Sie hat Rhetorik, Wirtschaft und Russisch in Tübingen und in den USA studiert. Während und nach ihrem Studium hat sie als freie Hörfunk-Journalistin gearbeitet und bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hospitiert.

Sie belegte mit ihrem Essay "Aus Informationen Haltung machen" den dritten Platz im Essaywettbewerb "Bildung heute"

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