Eigene Entscheidungen, eigene Kontrolle: Die Notwendigkeit Digitaler Souveränität im Zeitalter des Digitalkapitalismus

Eigene Entscheidungen, eigene Kontrolle: Die Notwendigkeit Digitaler Souveränität im Zeitalter des Digitalkapitalismus

30.04.24

Inhaltsverzeichnis

    Zwischen den bekannten großen Technologiekonzernen und uns Nutzer:innen herrscht ein normal gewordener, unausgesprochener Gesellschaftsvertrag: Wir verwenden kostenlose Apps und Dienste im Tausch gegen unsere Daten. Schon lange kritisieren Datenschützer:innen diese Herangehensweise und weisen auf die Risiken hin. Aber nicht nur privat, sondern auch gesellschaftlich verändert sich dadurch unser Verhältnis zu Technologien. Es führt zu Abhängigkeiten. Dr. Felix Sühlmann-Faul, freier Techniksoziologe und Mitglied in der HFD-AG Digitale Souveränität, erläutert anschaulich die Hintergründe und Konsequenzen, die aus digitaler Abhängigkeit entstehen können. Als mögliche Alternative nennt er Open Source-Software und gibt Handlungsempfehlungen, wie diese im Bildungsbereich integriert werden können.

    Der Ausgangspunkt

    Die Bevölkerung der industrialisierten Nationen ist heute von einer nie dagewesenen Menge Technologie – insbesondere digitaler Technologie – umgeben. Das ist eines der drei zentralen Charakteristiken des Zeitalters des Digitalkapitalismus. Dieser lässt sich von vorangegangenen Epochen wie dem Industrie- oder dem Managerkapitalismus der 1980er Jahre durch drei grundlegende Merkmale unterscheiden:

    Zunächst wäre da die neue Bedeutung von Daten – insbesondere personenbezogene und Metadaten – als Produktionsmittel, Kapital als Basis von Geschäftsmodellen oder als Trainingsmaterial für „KI“.

    Dass die Nutzer:innen des Internets und digitaler Endgeräte sich heute im Vergleich zu anderen Epochen des Kapitalismus in einer bizarren Doppelposition befinden, ist Erkennungsmerkmal Nummer 2. Im Rahmen der Industrialisierung wurde Arbeitskraft zu einem Kapital und die Menschen, die diese leisteten, traten damit in den Hintergrund. Heute liefern Menschen gleich zwei Formen von Kapital. Sie sind einerseits Quelle des neuen Kapitals Daten, indem ihre Mitteilungen, ihr Verhalten, Gesundheitsdaten und ihre Wege durch die virtuelle und reale Welt datafiziert werden. Andererseits leisten auch sie Arbeitskraft, allerdings unbezahlt und unfreiwillig (Voß 2020: 106). Das Training von Suchmaschinen, von Bilderkennung bei ReCaptcha-Abfragen, von Stimmerkennung, Content in sozialen Netzwerken und vielem mehr ist Arbeitskraft und essenziell für den Profit, zu dem die Nutzer*innen beitragen.

    Wessen Profit? Das ist das dritte Merkmal. Die dominanten Akteure des Digitalkapitalismus bestehen aus einer kleinen Handvoll mächtiger US-amerikanischer Technologiekonzerne wie Alphabet (Google), Meta (Facebook) oder Microsoft. Diese bieten in der Regel ein digitales Ökosystem von teils kostenlosen Apps und Diensten an, die um eine oder mehrere Plattformen angesiedelt und verbunden sind. Viele der angebotenen Dienste und Apps sind kostenlos und bieten unbestritten eine hohe Konsumentenrente – einen Vorteil für die Nutzer:innen (Brynjolfsson et al. 2019: 155ff). Letztlich dienen aber Google Maps, Instagram oder Amazon Prime Video den Konzernen zur Beobachtung der Nutzer:innen und der Sammlung ihrer Daten.

    Der Zweck von Daten

    Den meisten Nutzer:innen der Dienste ist das mehr oder weniger bewusst, wird aber in Kauf genommen. Durch die inzwischen eingetretene Normalität digitaler Technologie existiert auch eine Art ebenfalls normal gewordener, unausgesprochener Gesellschaftsvertrag zwischen den erwähnten Technologiekonzernen und den Nutzer:innen: Kostenlose Apps und Dienste im Tausch gegen Daten.

    Für die Technologiefirmen ist der wichtigste Zweck der Sammlung und Verarbeitung dieser Daten u. a. die Produktion des lukrativsten Geschäftsmodells des Internets: programmatische Werbung. Die Daten der Nutzer:innen dienen dazu, eine exakte Passung zwischen Werbung und Nutzer:innen zu erzeugen und Zielgruppen genau zu segmentieren. Der Verkauf dieser „passgenauen Online-Werbeflächen“ ist die Haupteinnahmequelle der Konzerne Meta (Facebook) und Alphabet (Google) – nicht etwa Smartphones oder Apps (Richter 2017). Zusätzlich werden die gesammelten Daten auch weiterverkauft. Was ein:e Nutzer:in aktuell im Internet sucht oder betrachtet, wird von Google – der größten Firma im Online-Werbegeschäft – individuell in jeder Minute „Online-Zeit“ einmal erfasst (Irish Council for Civil Liberties/Ryan 2022). Google nutzt die Daten für programmatische Werbung, verkauft aber zusätzlich in jeder Minute 19,6 Millionen Datensätze alleine von deutschen Nutzer:innen an über tausend andere Firmen. Dabei handelt es sich um eine unüberschaubare Zahl kleiner, sog. „Data Broker“, die ausschließlich Daten kaufen und verkaufen.

    Die problematische Rolle von Daten

    Daten sind aber keineswegs „das neue Öl“ oder ein anderer, „harmloser”, natürlicher Rohstoff. Sie sind ein überaus sensibles Gut. Personenbezogene Daten sind sensible Informationen. Daher soll Datenschutz Individuen vor missbräuchlicher Datenverarbeitung schützen und den Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung wahren. Datenschutz schützt folglich keineswegs Daten – sondern die Privatsphäre und die Persönlichkeitsrechte von Menschen (ebd.: 48). Abgesehen von Kriminellen, die die von Unternehmen gesammelten und häufig schlecht geschützten Daten für Identitätsdiebstahl, Kreditkartenbetrug und ähnlichem missbrauchen (Sherman et al. 2018), spielen Daten auch in anderem Kontext zentrale und problematische Rollen:

    Unternehmen verschiedener Branchen kaufen inzwischen Daten von Data Brokern. Zu deren Kundschaft gehören Banken – z. B. Risikoprofile bei Darlehensanfragen zu ermitteln, Versicherungen – z. B. um die Quoten für eine Lebensversicherung anhand des Freizeitverhaltens einer Person zu ermitteln – und Personalabteilungen von Unternehmen – z. B. für einen „Background-Check“ von Bewerber:innen (Sühlmann-Faul 2024: 135). Auf Basis dieser Daten werden zunehmend automatisierte Entscheidungen getroffen, die in aller Regel nicht hinterfragt werden (Pasquale 2016: 23ff.). 

    Die Übernahme des öffentlichen Raums

    Die Zergliederung von Datenschutz und Privatsphäre ist aber lediglich eine Zwischenstation für weitaus größere Pläne der Technologiekonzerne. Zu beobachten sind viele Formen ihres Vordringens, genauer: die Übernahme und die Erzeugung von Abhängigkeit von Kompetenzbereichen, die eigentlich Teil der Daseinsvorsorge öffentlicher Behörden, Gemeinden, Ländern oder der Bundesebene sind. Hinter der Kommodifizierung des öffentlichen Raums steckt eine klare Strategie der Technologiekonzerne: Privatwirtschaftliche Gewinne durch die Erzeugung von Abhängigkeiten und Sabotage an öffentlichen Instanzen, um Regulierung zu verhindern. Es besteht die Gefahr, dass öffentliche Bereiche mehr und mehr nach der technokratischen Ideologie des Silicon Valley gesteuert werden – siehe „Smart Cities“ oder der Einsatz von Predictive Policing-Software (Merz 2016).

    Und notorisch unterfinanzierte Bereiche sind ein besonders einfaches Ziel: Die Situation mancher Schulen ist so prekär, dass selbst die Instandhaltung von Dächern nicht finanziert werden kann (Kahle 2022). Daher fragt es sich, wo das Geld für die notwendige Infrastruktur und Endgeräte für die Einbindung von IT in den Unterricht herkommen soll. Zwar gibt es den „Digitalpakt“ – aber die Beantragung der Mittel ist enorm kompliziert und mit der Anschaffung der Geräte allein ist das Problem nicht gelöst. Der Fachkräftemangel im IT-Bereich macht auch vor den Schulen nicht halt (Grüner 2023). Dadurch sind Schulen gezwungen, auf privatwirtschaftliche Angebote zurückzugreifen. Apple, Microsoft, Google und Samsung bieten ihre Produkte feil, bilden Lehrkräfte fort, da es auch im Bereich der Fortbildung für die Einbindung digitaler Endgeräte in den Unterricht an Angeboten mangelt, und verschenken Software und Geräte – inklusive Support. Die Politik und die Kultusministerien scheinen sich für diese Unterwanderung nicht zu interessieren (Janssen 2020). Aber die „Großzügigkeit“ der Konzerne beinhaltet erwartungsgemäß ökonomisches Kalkül:

    • Schüler:innen, die früh an die digitalen Ökosysteme von Google oder Apple gewöhnt sind, werden diese höchstwahrscheinlich auch später nutzen – nicht zuletzt aufgrund der Logik der „Walled Gardens“: Ein Wechsel aus dem Ökosystem eines Konzerns in das Ökosystem eines anderen ist mit hohen Transaktionskosten verbunden, so dass solche Wechsel gemieden werden.
    • Außerdem geht es darum, auch von den Jüngsten Daten zu sammeln.

    Es fragt sich, wie ein medienkompetenter, kritischer Umgang mit digitalen Geräten und Diensten in der Schule vermittelt werden kann, wenn diese Themen auf schicken Displays mit Apfel-Logo präsentiert werden.

    Fazit und Handlungsempfehlung: Make or buy?

    Sicher liefern die Technologiekonzerne vorgefertigte, effektive und weit verbreitete Lösungen. Der Preis, diese zu nutzen, ist aber immens: Es geht dabei nicht nur um Daten, sondern auch um die Spielräume der öffentlichen Hand und des politischen Apparats. Es läuft auf die Frage „make or buy“ hinaus: Werden vorgefertigte, proprietäre Produkte von Technologiekonzernen gekauft, die neben ihren Datengeschäften auch die Finanzkassen durch „kreative“ Steuersparmodelle schädigen? Oder wird der zunächst anstrengendere, aber souveräne Weg gewählt, ein eigenes System zu bauen? Die USA haben die Antwort auf diese Frage vor ca. 10 Jahren klar beantwortet. Hier nutzt ein Großteil der öffentlichen Behörden – inkl. den Geheimdiensten NSA und CIA – den Cloudservice von Amazon (Konkel 2021; Amazon Web Services 2023). Die Ebene, die hinter der Frage von „make or buy“ steht, scheint unbeachtet: Wer trägt die Souveränität? Wem wird Macht verliehen? Die Macht der Digitalkonzerne steckt darin, Selektionsmöglichkeiten für die Nutzer:innen ihrer Produkte einzuschränken, indem Abhängigkeit erzeugt wird. Wie soll also ein Unternehmen reguliert werden, von dem staatliche Strukturen derart abhängig sind? Die politische Führung unterwirft sich einer nicht legitimierten Herrschaft und Amazon erzeugt privatwirtschaftliche Gewinne durch öffentliche Strukturen und öffentliche Geldern.

    Die Gegenwehr auf technologischer Ebene beinhaltet eine Ablehnung der Konzerne, um die eigene Souveränität zu bewahren: eigene Entscheidungen, eigene Kontrolle und Selbstbestimmung. Für Europa, Deutschland und seine Schulen, Hochschulen und Behörden bedeutet das, dass die Frage „make or buy“ mit einem deutlichen „make“ beantwortet werden muss. Trotz lückenhafter Finanzierung muss ein eigenes, souveränes System auf Basis von Open Source gebaut werden. Die Abkehr von den Produkten der Digitalkonzerne ist zunächst schwer – aber die Vorteile überwiegen:

    • Open Source-Software ist oft kostenlos oder sehr kostengünstig im Vergleich zu proprietärer Software, was eine finanzielle Einsparung bedeuten kann.
    • Flexibilität: Open Source-Software ist oft sehr flexibel und kann an die individuellen Bedürfnisse eines Unternehmens angepasst werden.
    • Community: Open Source-Software wird oft von einer engagierten Community von Entwickler:innen unterstützt, die dazu beitragen kann, Probleme schnell zu lösen und die Software zu verbessern.
    • Sicherheit: Open Source-Software wird oft von einer großen Anzahl von Menschen überprüft, was dazu beitragen kann, Sicherheitslücken schneller zu finden und zu beheben.
    • Nachhaltigkeit: Die Nutzung von Open Source-Software kann ein wichtiger Aspekt der Nachhaltigkeit sein, da sie dazu beitragen kann, Ressourcen zu sparen und Abfall zu reduzieren: Auch ältere Computer lassen sich häufig noch lange problemlos mit einem schlanken Betriebssystem auf Linuxbasis nutzen.

    Es stellt sich für Individuen, aber genauso Organisationen und öffentliche Einrichtungen die Frage, inwieweit sie sich in Abhängigkeit zu diesen mächtigen Konzernen begeben wollen und damit deren Pläne bejahen. 

    Die Nutzung nicht-kommerzieller Software zieht auch weitere Konsequenzen nach sich. Zum Beispiel muss ebenfalls darauf geachtet werden, über welche Kanäle nach außen kommuniziert wird. Augenfällig ist hier die Plattform Twitter (inzwischen „X“). Seit der Übernahme durch den Tech-Milliardär Elon Musk werden zunehmend rechtsradikale Inhalte nicht mehr moderiert und teilweise werden von Musk selbst antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet. Viele große Konzerne wie Disney oder Apple haben aus diesen Gründen bereits ihre Werbeverträge gekündigt. Twitter wird jedoch weiterhin von vielen öffentlichen Institutionen genutzt. Dazu zählt die Hochschulrektorenkonferenz. Aus diesem Grund gibt es bereits einen offiziellen Appell von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Digitalcourage e.V. oder dem Forum für InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung an die HRK, Twitter zu verlassen und bspw. Mastodon oder andere Kurznachrichtenkanäle des Fediverse zu nutzen.

    Amazon Web Services (2023): Cloud für US- Nachrichtendienste | AWS. Amazon Web Services, Inc. https://aws.amazon.com/de/federal/us-intelligence-community/, 26.01.2023

    Brynjolfsson, E., Rock, D., & Syverson, C. (2019). Artificial Intelligence and the Modern Productivity Paradox. The Economics of Artificial Intelligence: An Agenda, 23.

    Goldman, David. 2023. „Elon Musk Agrees with X Post That Claims Jews ‘Push Hatred’ against White People | CNN Business“. CNN. Abgerufen 28. März 2024 (https://www.cnn.com/2023/11/15/media/elon-musk-antisemitism-white-people/index.html).

    Grüner, Sebastian (2023): Digitalpakt: Schulen fehlen offenbar massiv IT-Fachkräfte – Golem.de. https://www.golem.de/news/digitalpakt-schulen-fehlen-offenbar-massiv-it-fachkraefte-2306-175388.html, 10.07.2023

    Irish Council for Civil Liberties/Ryan, Johnny (2022): The biggest data breach. ICCL report on scale of real-time bidding data boradcasts in the US and Europe

    Janssen, Lara (2020): Apple: Warum Tech-Konzerne Einfluss auf Bildung haben. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/bildung/apple-bildung-schule-einfluss-1.4787334, 07.03.2023

    Kahle, Judith (2022): DAN-Schulen bröckeln: undichte Dächer, marode Toiletten. Elbe-Jeetzel-Zeitung. https://www.ejz.de/lokales/lokales/dan-schulen-broeckeln-undichte-daecher-marode-toiletten_50_112185766-28-.html, 07.03.2023

    Konkel, Frank (2021): NSA Awards Secret $10 Billion Contract to Amazon. Nextgov.com. https://www.nextgov.com/it-modernization/2021/08/nsa-awards-secret-10-billion-contract-amazon/184390/, 26.01.2023

    Marx, Karl (2021): Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Ungekürzte Ausgabe nach der 2. Auflage von 1872. Hamburg: Nikol Verlag.

    Merz, Christina (2016): Predictive Policing – Polizeiliche Strafverfolgung in Zeiten von Big Data. ABIDA-DossierInstitut für Technikfolgenabschätzung, Karlsruher Institut für Technologie.

    Pasquale, Frank (2016): The Black Box Society: The Secret Algorithms That Control Money and information. Reprint. Cambridge, Massachusetts London, England: Harvard University Press.

    Sherman, Erik/Maiberg, Emanuel/Franceschi-Bicchierai, Lorenzo (2018): Massive Data Leaks Keep Happening Because Big Companies Can Afford to Lose Your Data. Motherboard. https://motherboard.vice.com/en_us/article/bje8na/massive-data-leaks-keep-happening-because-big-companies-can-afford-to-lose-your-data, 28.02.2019

    Sühlmann-Faul, Felix (2024): Der goldene Käfig des Digitalkapitalismus. Nicht kostet mehr als kostenlos. München: Oekom.

    Voß, G. Günter (2020): Der arbeitende Nutzer: Über den Rohstoff des Überwachungskapitalismus. Campus Verlag.

    Pedition vom Aktionsbündnis Neue Soziale Medien: https://www.openpetition.de/organisation/aktionsbuendnis-neue-soziale-medien

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