Der Artikel "Eine Vision für die Zukunft digitaler Bildung" von Christoph Meinel, den wir am 25.04.2017 bei uns im Blog veröffentlicht haben, rief auf Twitter einige Resonanz hervor. Markus Deimann geht in seiner Replik auf das Ideal der Humboldtschen Bildung ein und fragt, ob dessen Anwendung auf die digitale Bildung überhaupt sinnvoll ist. Der Text ist zuerst in der gedruckten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.
In seiner „Vision für die Zukunft digitaler Bildung” sieht Christoph Meinel, Direktor des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam, eine Bildungscloud, wie sie hierzulande gegenwärtig viel diskutiert wird, als Vollendung des humboldtschen Bildungsideals. Er offenbart ein kolossales Missverständnis von Bildungsphilosophie und Bildungstechnologie und gibt Zeugnis über einen irreführenden Diskurs.
Beim überwinden. Bild: [https://unsplash.com/collections/385501/symbolbilder_generell?photo=zqnuy4vb-NM Darius Soodmand] Warum berufen sich Fürsprecher der Digitalisierung der Bildung wie Meinel oder Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, immer wieder auf Humboldt? Diese Frage ist nicht so trivial, wie man zunächst annehmen könnte, denn Wilhelm von Humboldt steht wie kaum ein anderer Denker für ein Bildungsideal, das einerseits sperrig und schwer verständlich wirkt und andererseits für eine Blüte deutscher Geistesgeschichte steht, auf die man nur stolz sein kann.
Entsprechend geflissentlich bemüht sich Meinel, die bildungswissenschaftlichen und -politischen Leistungen Humboldts auszubuchstabieren, um diese zu einem augenscheinlich überzeugenden Argument zusammenzuführen. Das gelingt ihm jedoch nur auf einen ersten, schnellen Blick. Bei näherer Betrachtung mangelt es seinem Rückgriff an theoretischer Fundierung. Sein historischer Exkurs in die Zeit von Humboldts Reformbemühungen kommt zunächst zum korrekten Schluss, dass dessen ambitionierte bildungspolitische Ziele nicht erreicht wurden. Warum dies so war, hatte vielschichtige kulturelle und technische Ursachen.
Im Folgenden schlicht zu konstatieren, dass sich die Zeiten seit dem frühen 19. Jahrhundert stark geändert haben, ist trivial, und es ist unzulässig zu behaupten, dass wir heute erstmals technisch in der Lage wären, das Bildungsideal Humboldts überhaupt zu realisieren. Meinel präsentiert diese Behauptung unhinterfragt als Bedingung für seine weitere Argumentation – und zeigt eine Denkart, die tief vom technologischen Instrumentalismus geprägt ist, von der Idee, dass sich bildungsphilosophische Prinzipien im Stile von Blaupausen technisch aufbereiten und realisieren lassen.
Dass es nun die vielbeschworene Bildungscloud ist, die in den Segen des manifestierten Bildungsideals kommt, spielt eigentlich keine Rolle. Problematisch ist der tiefsitzende Glaube einer technischen Umsetzbarkeit, der verkennt, dass es bei der Bildungsphilosophie nicht um ein algorithmenähnliches Regelwerk geht, sondern um Vorstellungen, Werte und Ziele, die in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs zu Richtlinien von Bildungspraxis entwickelt werden können. Genau diese breite Basis fehlt dann in der von Meinel skizzierten Version, da es hier wie so oft in der Diskussion um die Digitalisierung der Bildung Softwareentwickler sind, die als Übersetzer abstrakter Prinzipien fungieren.
Meinel maskiert sozio-technologische Implikationen durch das pure Gewicht Humboldts, das bis zu einer letztlich unbegründbaren Parteinahme für technische Innovationen führt: „Heute wäre Humboldt ein Verfechter der Digitalisierung”. Doch wer Humboldts Bildungsbegriff und seinen humanistischen Rahmen in den aktuellen Entwicklungen wiederfinden will, sieht am ehesten die Open Educational Resources (OER) in der Tradition des preußischen Bildungsreformers, eine konstitutive Bedingung für „digitale Bildung“ und Ausprägungen wie die Bildungscloud. Auch Meinel skizziert die Vision, dass „sämtliche existierenden und zukünftigen Weiter- und Fortbildungsinhalte frei und jederzeit verfügbar sind“, lässt aber die konkrete rechtliche Umsetzung offen. Das ist bedauerlich, schließlich kommen OER nach über 15 Jahren langsam auch in Deutschland an. Sie erleichtern Bildung im digitalen Zeitalter, indem sie die Veränderung und Wiederverwertung von Materialien ermöglichen, ohne dass jedesmal der Urheber um Erlaubnis gefragt werden müsste.
Doch selbst die Einordnung von Open Educational Ressources in einen „digitalen Humanismus“ wirkt konstruiert. Hilft der Rückgriff auf Humboldt im aktuellen Diskurs zur Zukunft „digitaler Bildung” überhaupt weiter? Einerseits ist die Debatte überfrachtet mit Zuschreibungen, die sich mehr oder weniger direkt auf die Religion des Silicon Valleys beziehen und die gut von einem bildungsphilosophischen Korrektiv profitieren könnten. Andererseits stellen gerade vielfältige strukturelle Veränderungen und Umbrüche die Reichweite und Potenz der klassischen Bildungstheorie in Frage.
Traumvorstellung: Technik als Allheilmittel. Bild: [https://unsplash.com/photos/0VGG7cqTwCo Rodion Kutsaev] Der Schweizer Medienwissenschaftler Felix Stalder benennt Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität als zentrale Merkmale einer entstehenden „Kultur der Digitalität“, da sie Einfluss auf die Art der Wissensgenerierung, -verarbeitung und -vermittlung nehmen. Gleichzeitig erweitern sie den Rahmen für Bildungsprozesse und fordern bisherige pädagogische Praktiken heraus. Die nun stattfindende Auseinandersetzung ist jedoch zu sehr geprägt vom Bild einer „digitalen Bildungsrevolution”, das auf einen Aktionismus abzielt – rasche digitale Aufrüstung an Schulen und Universitäten – und keine Zeit lässt, vernünftige didaktische Konzepte zu entwickeln. Stattdessen werden mit einer appellativen Rhetorik die segensreichen Wirkungen der software-gestützten Lösungen von Learning Analytics und Künstlicher Intelligenz verkauft: Sie tut, als sei gewissermaßen selbstverständlich, dass es dadurch zu Verbesserungen des Lernens und Lehrens komme, offen sei lediglich noch, wann es endlich losgehe.
Letztlich führt der aufgeheizte Digitalisierungsdiskurs zu einer grassierenden Sinnentleerung des Bildungsbegriffs. Es ist höchste Zeit für eine doppelte Rückbesinnung: Wir müssen uns zum einen über Inhalt, Reichweite und Ziele von Bildung im digitalen Zeitalter verständigen, ohne uns durch die Marktschreierei technischer „Lösungen“ ablenken zu lassen. Hier ist die Stimme der Bildungswissenschaft gefragt. Zum anderen sollten sich Bildungswissenschaftler und Informatiker in einer solchen Diskussion neugierig und lernbereit begegnen und nicht so tun, als gäbe es die jeweils andere Seite nicht. So könnten die ins Spiel gebrachten Thesen – wie im Fall von Meinel die Bildungscloud – kritisch diskutiert werden und sich perspektivisch zu einem revitalisierten Bildungsideal entwickeln.
Lieber Markus,
leider muss ich mich in meiner Antwort (aus Zeitgründen) begrenzen, aber diese Bestärkung wollte ich kurz loswerden...
Den Bildungsbegriff nach Humboldt kritisch unter die Lupe zu nehmen, halte ich für unbedingt wichtig, auch mit Blick darauf, was umsetzbar war, umgesetzt wurde und umgesetzt werden kann. Besonders aufschlussreich fand ich dazu bspw.
Schimank, Uwe (2010): Humboldt in Bologna – falscher Mann am falschen Ort? In Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) (Hrsg.): Perspektive Studienqualität. Themen und Forschungsergebnisse der HIS-Fachtagung Studienqualität. (S. S. 44–61). Bielefeld: Bertelsmann.
Das aber nur am Rande. Was ich weiterführen wollte: Du schreibst: "Genau diese breite Basis fehlt dann in der von Meinel skizzierten Vision, da es hier wie so oft in der Diskussion um die Digitalisierung der Bildung Softwareentwickler sind, die als Übersetzer abstrakter Prinzipien fungieren." Den Punkt möchte ich betonen und habe es auch schon mal in einem Kommentar auf Andreas Beitrag hier getan, bei dem er mir sogar "Recht gegeben" (eine Antwort hab ich noch versprochen) hat. Kurz gesagt: Wer entwickelt die technische Basis oder technische Gestaltung der Digitalisierung gemeinsam (?) (!). Die Entwicklungen sollten m.E. immer Softwarentwickler*innen, Pädagog*innen/Didaktiker*innen sowie Usability-Designer*innen (das habe ich von Andreas gelernt) einbeziehen. Die Studierenden-Perspektive fehlt auch noch in der Liste. Vermutlich sind das noch nicht alle.
Für den Hochschulraum, um den es ja hier geht, muss es immer um Bildung und Wissenschaft gehen (oder um Bildung in der Wissenschaft). Ich nehme es so wahr, dass im Bezug auf Humboldt immer wieder das zumindest als Schlagwort gemeint ist (Forschung und Lehre). Hier kommt dann unvermeidlich die Hochschuldidaktik ins Spiel, bei der Gabi Reinmann m.E. hier gut dargestellt hat, dass es Kernelemente gibt, die von diesen Akteuren bearbeitet werden sollten und andere bei denen sie vor allem kooperieren sollte. Die Bildungsfrage trifft den Kern der Arbeit, die Entwicklung würde ich unbedingt als notwendige kluge Kooperation ansehen.
LG
Timo
Lieber geschätzter Kollege Deimann :-)
Ich denke, die Diskussion geht wieder mal in die falsche Richtung. Wie Herr Meinel versucht auch die Erzeihungswissenschaft den alten Humboldt zu intrumentalisieren und legen ihm Worte wie OER, Digitalierung etc in den Mund. Auch die sogenannte Technikgläubigkeit, von Learning Analytics oder Künstlicher Intelligenz gibt es weder bei Herrn Meinel, noch bei irgendeinem anderen Techniker. Das sind inzwischen schon fast Verschwörungstheorien, die ähnlich dem deutschen E-Learning Leitmotiv "Die Technik muss der Didaktik folgen" mantrahaft wiederholt werden, bis alle es glauben.
Im Grunde jedoch geht es um verschiedene Arbeitsweisen. Da ist zum einen die alte geisteswissensschaftliche geprägte Erziehungswissenschaft, die alles erstmal diskutieren und definieren will um dann erstmal das Fundament zu schaffen, auf das eine weitere Diskussion basieren könnte. Um dann später das zu erforschen, was vorher definiert wurde. Also ein klassischer Top-Down-Prozess.
Dem gegenüber steht jedoch die Digitalisierung und mittendrin der inzwischen agil arbeitende Ingenieur. Hier gilt das allgegenwärtige Agilitätsgesetz, man probiert erstmal aus, da man nicht weiss, was herauskommt. Strukturen werden durch Fakten geschaffen und wer zuerst da ist, gewinnt. Das ist der klassische Bottom-Up-Prozess.
Es geht also weder um eine Cloud oder um Künstliche Intelligenz und erst recht nicht um Humboldt. Die Diskussion ist auf einer anderen Ebene und wie auch die Politik, hat die Erziehungswissenschaft, einfach nicht die Geschwindigkeit um mit der technologischen Entwicklung mitzuhalten.
Natürlich ist es wichtig miteinander zu reden, was wir in Lübeck ja machen, sonst wärst du nicht bei uns :-) Die Technik wird aber 10 rekursive Schleifen drehen, bevor auch nur ein fundiertes evaluiertes didaktische Konzept steht, was man sehr gut im Flipped Classroom sehen kann. Das Konzept gibt es seit Ewigkeiten und erst jetzt, erhält es die gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die es verdient hat. Das bedeutet nicht, dass die Technik eine Führerschaft beansprucht, sie ist aus der Natur heraus schneller. Die nächsten Schleifen werden sich um BigData, KI und Learning Analytics drehen und irgendwann, werden sie einen Status haben, den FlippedClassroom heute schon hat.
Wenn sich die Erziehungswissenschaft nicht langsam reformiert, was sie ja kann, und die Geschwindigkeit anerkennt und lebt, wird sie wie viele andere Wissenschaften von der Digitalisierung überollt. Ich glaube immer mehr, dass viele noch nicht begriffen haben, was Digitalierung bedeutet.
Liebe Grüße
Andreas Wittke
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