Kiron könnte das iTunes der universitären Ausbildung werden. Damit meine ich nicht die Aussichten auf Geld oder Bedeutung in der Welt. Es kann gut sein, dass es Kiron in einem Jahr nicht mehr gibt. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es einen Nachfolger geben wird.
Modell Kiron: Sieht so die Universität der Zukunft aus? Kiron ist der erste Vorbote eines disruptiven Geschäftsmodells, welches eine Branche, die ein seit Jahrhunderten tradiertes Vorgehen pflegt, ziemlich durcheinander wirbeln könnte. Insofern steht es in einer Reihe mit Uber oder Airbnb, auch wenn es von deren ökonomischen Möglichkeiten noch weit entfernt ist.
Das Geschäftsmodell von Kiron ist die Aggregation und Koordination von Inhalten Dritter, so wie es Uber mit Autofahrten, Airbnb mit Wohnungen und Facebook mit persönlichen Nachrichten betreibt. Kiron aggregiert Lehrinhalte, die Universitäten weltweit in gutem Glauben und mit guten Absichten (bisher) kostenlos auf dem Netz veröffentlichen. Während Coursera oder Udacity als reine Plattformen gestartet sind, hat Kiron den Anspruch, aus den verfügbaren Materialien neue virtuelle Studiengänge zu bauen, deren Qualität besser ist als die der ursprünglichen Quellen.
Und seien wir ehrlich: wer von uns hätte nicht am liebsten an einer Universität studiert, an der nur die besten Wissenschaftlerinnen lehren? An einer einzigen physischen Universität ist dies nicht möglich, dafür sind exzellente Wissenschaftler zu sehr über die ganze Welt verstreut. Indem ich deren MOOCs aggregiere, kann ich jedoch eine virtuelle Universität bauen. Ich filetiere die Studiengänge realer Universitäten und setze sie in Kiron neu zusammen.
Das ist genau das, was iTunes mit den CDs gemacht hat. Auf einmal hatte jeder die Möglichkeit, aus einer CD nur die Lieder herauszugreifen, die er oder sie gut findet. Jeder Hörer kann sich seine Lieblingsmusik mixen und neu zusammenstellen. Die Komponisten verlieren dadurch aber ein wichtiges Element früherer Zeiten - die Zusammenstellung der Lieder in zeitlicher oder inhaltlicher Reihenfolge. Goodbye Konzeptalbum - Pet Sounds, Sergeant Pepper, Rocky Horror. Einzelne Lieder kennt jeder, aber die Reihenfolge?
Nun muss das ja nichts Schlechtes sein. Immerhin geht es der Musikindustrie dank iTunes jetzt besser als vorher. Aus Nutzersicht ist mehr Flexibilität möglich und es geht wirklich um "Studierendenzufriedenheit". Außerdem belebt Konkurrenz das Geschäft und zwingt starre Universitätsstrukturen vielleicht zu mehr Innovation. Alles richtig. Einen Punkt möchte ich dennoch machen, und der zieht sich am ungeliebten Thema "Akkreditierung" hoch. Es gibt viel Bürokratisches, Unausgegorenes und Überflüssiges einer Akkreditierung von Studiengängen, was jeder nachvollziehen kann, der wie ich als Gutachter oder Studiengangverantwortlicher einen Akkreditierungsvorgang einmal mitgemacht hat.
Es gibt jedoch eine Grundidee bei der Akkreditierung, die (1) jenen nicht so fern sein sollte, die schon einmal eine Marketingvorlesung gehört haben und (2) sich um AACSB, EQUIS oder ähnliche international anerkannte Siegel dreht. Im Prinzip sendet eine erfolgreiche Akkreditierung ein Qualitätssignal aus, welches zeigt: "hier gibt es eine durchdachte Ausbildung von A bis Z, mit zusammenpassenden Modulen, die jemand mit Verstand zu einem Studiengang zusammengesetzt hat". Das umfasst gute und schlechte Vorlesungen und Professoren, online-fähige und nur offline verfügbare. Es bildet eine Marke für das Curriculum, für den Standort, für die Gruppe aller Dozentinnen und Dozenten an diesem Standort. Wer Akkreditierung ernst nimmt, arbeitet genau an dieser Marke und an diesem Selbstverständnis. International werden diese Akkreditierungen als Grundlage für Hochschulkooperationen und Studierendenaustausche manchmal sogar vorausgesetzt.
Und jetzt kommen wir noch einmal zurück zur Rekombination von Lehrinhalten durch "Online-Universitäten". Wer genau setzt denn hier "mit Verstand" den Studiengang zusammen? Der Algorithmus? Der Studierende selbst (der nur bei höchst optimistischer Sichtweise nach Inhalten geht, ansonsten wie an der normalen Uni nach kolportierten Durchschnittsnoten)? Der Dozent, der dadurch in einen Zwiespalt kommt, seine Ressourcen auf die Studierenden seiner eigenen Universität (die vielleicht wegen des Qualitätssignals dorthin gekommen sind) und seine Onlinehörer verteilen zu müssen?
Wenn wir Rekombination a la Kiron ernst nehmen, dann brauchen wir ein neues Geschäftsmodell für die Akkreditierung. Sonst ist sie nicht nur nicht effizient, so wie jetzt, sondern wird auch nie effektiv. Entweder begreifen wir ein Studium als Persönlichkeitsbildung, dann macht es Sinn, am Ganzen zu arbeiten, an einer Folge aus Lehrveranstaltungen, die eben nicht durch den Studierenden selbst kuratiert werden, sondern durch den Lehrer. Das verlangt ein Qualitätssignal durch die Institution selbst. Oder wir Hochschullehrer werden Freelancer, liefern einem Dritten zu, der dann selber eine Marke bildet - ohne unser Zutun. Es liegt in unserer Hand.
Bild: Tekniska museet "Standard Radiofabrik", CC-BY 2.0 via flickr.com
(Disclaimer: Ich arbeite fürs HFD, poste in diesem Fall aber meine private Meinung!)
Ich bin ein großer Freund dessen, was Kiron leistet. Ich glaube und hoffe auf deren Erfolg. Aber: Ich halte den Vergleich mit iTunes für verfehlt. iTunes hat die Musikindustrie grundlegend verändert. Ich glaube nicht, dass das flexiblere Studienmodelle eine grundlegende Änderung auf dem Hochschulmarkt mit sich bringen werden. Ich halte diesen Gedanken für - mit Verlaub - elitär, denn er geht an den Interessen der breiten Masse an Studierenden vorbei.
Warum dies? Ein kurzer Exkurs. Ich arbeite neben meinem Job beim Hochschulforum sehr viel mit Abiturienten und jungen Studierenden. Meine Erfahrung ist: Die große Auswahl an Möglichkeiten überfordert viele. Es gibt eine Minderheit, die diese diese Welle an Möglichkeiten mit Bravour reitet. Das sind diejenigen, für die flexiblere Modelle spannend sind. Die Mehrheit allerdings nimmt nur einen Bruchteil ihrer Optionen wahr - und ist zufrieden damit. Und wieder eine Minderheit wird aus Überforderung in die Arme von häufig qualitativ zweifelhaften Privathochschulen getrieben. Sie bleiben auf der Strecke. Mein Gefühl ist: Die Allermeisten wünschen sich Klarheit. Die Überforderten bräuchten sie sogar. Die Mehrheit wünscht sich ein klares Curriculum. Die allermeisten Studierenden möchten wissen, was sie machen müssen, um erfolgreich zu sein. Klar definierte Leistungsanforderungen, an denen sie sich messen lassen können.
Flexible Studienmodelle verkomplizieren aus Studierendensicht ihr Leben und bringen für die Meisten keinen spürbaren Benefit. Vorlesungen bei den bekanntesten Professoren der Welt sind anders als von vielen gedacht aus Studierendensicht "nice to have", aber aber eben auch nicht allzu wichtig. Die wenigsten sind wirklich so intrinsisch motiviert, dass sie aus Spaß an der Freude ihr Menü erweitern möchten.
Ich glaube allerdings in der Tat, dass es für interessierte Studierende in Zukunft deutlich mehr Optionen geben wird, sich ein Studium individuell zusammen zu stellen. Und das ist gut so. Ich glaube also durchaus an den Erfolg des Modells Kiron. Ich bin aber gleichzeitig überzeugt, dass nur eine relativ kleine Minderheit überhaupt Interesse daran hat. Also kein iTunes. Ich würde eher sagen: Kiron wird das Sushi-Restaurant der universitären Lehre. Eine tolle Ergänzung, für einige Leute super, in der Masse aber kein Gamechanger.
Es ist erstaunlich, wie manche Themen aus der EdTech Welt mit zeitlicher Verzögerung wieder hochgespült werden. Das betrifft hier die Narrative "Disruptive Innovation" und "Unbundling Education", die in den USA seit dem MOOC-"Hype" 2012 diskutiert wurden. Als Vordenker gelten Clayton Christensen und Clay Shirky, der im Nobember 2012 als einer der ersten die Analogie mit MP3 und iTunes vorstellte: "Napster, Udacity, and the Academy".
Die Idee ist sicher sehr verlockend und attraktiv, da sie sehr viel disruptives Potential hat und als Reaktion auf die weitverbreitete Vorstellung, das Bildungssystem ist kaputt, fungiert. Die Argumente werden mit wissenschaftlicher Überzeugungskraft (dafür steht Christensen von der Harvard University) und Verve (Disruption steht für ein neues Lebensgefühl des selbstbstimmten Konsumenten, der sich in iTunes seine eigene Playlist zusammenstellt) vorgetragen. Tatsächlich unterliegen sie jedoch einem falschen Analogieschluss, denn Universität ist mehr als ein Content-Delivery-System. Dieses mehr ist was wir mit Bildungsprozess meinen und ist das, was man (leider) nicht direkt messen kann und daher auch schwer ökonomisch verwerten. Daher sollten wir vorsichtig mit der vorschnellen Zerschlagung einer tradierten Bildungseinrichtung sein.
Auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, weiterzudenken, wie wir mit Hilfe der Digitalisierung die Bildung verbessern können. Dank offener, digitaler Angebote und weltweiter Vernetzung sollte sich die Hochschule nicht länger als heilige Gralshüter von Bildung verstehen, sondern öffnen. Dies kann auf verschiedenen Ebenen passieren, z.B. beim Zugang (wer darf an der Hochschule studieren? Welche Leistungen erkennen wir an?), bei der Didaktik (Arbeiten mit OER als Open Educational Practices) oder bei der Zertifizierung und Akkreditierung. Und hier sollte sich auch ein offeneres Verständnis einspielen, das sich gegenüber digitalen Angebot aus dem Netz öffnet. Das könnte bestenfalls zu einer Revitalisierung der Idee von Hochschule führen.
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