Musikhochschulen im Meinungsstreit: Einstellungen von Lehrenden und Studierenden zur digitalen Lehre im Corona-Semester 2020

Musikhochschulen im Meinungsstreit: Einstellungen von Lehrenden und Studierenden zur digitalen Lehre im Corona-Semester 2020

20.01.21

Ergebnisse aus der Studierendenbefragung (19.06.2020 bis 15.08.2020). Daten: Hochschule für Musik und Theater Rostock.

Im Sommersemester 2020 mussten Universitäten in Deutschland ihre Lehre im Eiltempo digitalisieren. Doch wie funktioniert das an künstlerischen Universitäten, an denen naturgemäß der praktische Unterricht im Zentrum steht? In diesem Blog-Beitrag geht es um Studienergebnisse zu den Erfahrungen von Studierenden und Lehrenden aus diesem Bereich – die Meinungen gehen dabei stark auseinander.

Kontext

Die durch die Corona-Pandemie bedingten Veränderungen der Lehre an künstlerischen Hochschulen betreffen besonders stark solche Studienfächer, für die der physische Kontakt und die unmittelbare personale Begegnung im Zentrum der hochschulpädagogischen Arbeit stehen (z. B. den Gesangs- und Instrumentalunterricht ebenso wie das gemeinsame Musizieren und das Schauspiel). Die vorübergehenden Hochschulschließungen im Frühjahr 2020 trafen diese Fächer, die meist in Einzel- oder Gruppenunterrichtsformaten organisiert sind, weitgehend unvorbereitet. Formen des Distanzunterrichts via Skype, Zoom o.ä. waren in diesem Bereich bislang eine eher seltene Ausnahme und fanden wenn, dann vor allem als Notbehelf und Ergänzung zum Präsenzunterricht statt.

Zwar liegen in der Instrumentalpädagogik bereits seit etwa zwei Jahrzehnten Überblicksbeiträge und Studien aus dem angloamerikanischen Raum zu Vor- und Nachteilen musikalisch-künstlerischer Distanzlehre vor (Deverich, 1998), und ähnlich lang schon gibt es in den USA Studienprogramme, die international ausgerichtet und wesentlich auf Distanzlehre im künstlerischen Bereich aufgebaut sind (vgl. die Studiengänge der Manhattan School of Music). An deutschen Musikhochschulen finden sich bislang jedoch keine vergleichbaren Studienangebote. Die künstlerisch spezialisierten Studiengänge hierzulande setzen stattdessen auf personale Präsenz als wesentlichen Faktor künstlerischen Unterrichts mit der entsprechenden Dichte und Differenziertheit sinnlicher Erfahrung.

Wie groß ist vor diesem Hintergrund die Bereitschaft von Lehrenden an deutschen Musikhochschulen, in der aktuellen Krise auf digitale Lehrformate umzusteigen? Welche Einstellungsunterschiede zeigen sich zwischen wissenschaftlich und künstlerisch Lehrenden an Musikhochschulen? Und welche besonderen Schwierigkeiten und Möglichkeiten ergeben sich für den künstlerischen Unterricht durch die corona-bedingte Notwendigkeit von Distanzlehre?

Schlüsselergebnisse

An vier norddeutschen Musikhochschulen (Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Hochschule für Musik und Theater Rostock, Universität der Künste Berlin) wurden im vergangenen Sommersemester im Rahmen unserer Studie sowohl Lehrende als auch Studierende zu ihrer Einschätzung der veränderten Studiensituation befragt. Dabei zeigte sich in den Freitextkommentaren ein breites Meinungsspektrum, das von rigoroser Ablehnung („digitale Lehre tötet die Musik“) bis hin zur uneingeschränkten Akzeptanz digitaler Lehrformate reicht („Online-Lehre sehe ich als vollwertigen Ersatz zum Einzelunterricht“).

Die Lehrendenbefragung wurde zweimal durchgeführt: zunächst bereits drei Wochen nach dem verschobenen Semesterbeginn (n = 327) und ein weiteres Mal zum Ende des Sommersemesters (n = 233), um eine vergleichende Perspektive zur Einschätzung der Daten zu haben und langfristig stabile Effekte ebenso benennen zu können wie Einstellungsveränderungen über den Semesterverlauf hinweg (z. B. aufgrund von wachsender Expertise oder aufgrund von Gewöhnung). 

Ergebnisse aus zwei Lehrendenbefragungen. Daten: Hochschule für Musik und Theater Rostock.

Im Zuge dieser zweiten Datenerhebung wurden nun auch die Studierenden zu ihren Erfahrungen mit der Distanzlehre befragt (n = 555).

Ergebnisse aus der Studierendenbefragung (19.06.2020 bis 15.08.2020). Daten: Hochschule für Musik und Theater Rostock.

Die Studie selbst umfasst verschiedene Fragenkomplexe zur persönlichen Situation (im Hinblick auf die psychische Belastung und den aktuellen Workload), zur sozialen Situation (im Hinblick auf die Aufrechterhaltung und Gestaltung von Kontakten), zur institutionellen Situation (technische Ausstattung der Hochschulen und institutionelle Unterstützung) und zu den veränderten Lehrformaten mit ihren Chancen und Grenzen.

Aufrechterhaltung von Kontakt als zentrales Anliegen

Auf der Beziehungs- und Kontaktebene zeigen die Befragungsergebnisse, dass die Lehrenden an den Musikhochschulen auch in der Corona-Krise generell in gutem Kontakt zu ihrer meist internationalen Studierendenschaft stehen. Dabei geben 78 % (bzw. 79 %) der Lehrenden an, mit (fast) allen ihrer Studierenden regelmäßigen mediengestützten Kontakt zu haben, und nur 4 % (bzw. 0 %) der Befragten geben an, mit lediglich sehr wenigen ihrer Studierenden in regelmäßigem Austausch zu stehen. Bevorzugte Kommunikationswege zwischen Lehrenden und Studierenden sind der Kontakt per E-Mail (90 %), dicht gefolgt von Videocalls und Videokonferenzen (85 %).

Dennoch gehört für die Lehrenden (70 % bzw. 76 %) und die Studierenden (73 %) die fehlende Präsenz im Unterricht und der fehlende persönliche Kontakt zur größten Herausforderung des Distanzsemesters. 73 % (bzw. 81 %) der Lehrenden empfinden den fehlenden unmittelbaren Umgang mit den Studierenden als große Belastung, und 63 % der Studierenden bestätigen, dass die fehlenden persönlichen Kontakte zu Lehrenden und Kommiliton*innen auch für sie eine große Belastung darstellt.

Institutionelle Unterstützung in der Krise

Im Hinblick auf die institutionellen Rahmenbedingungen wird der Kontakt zur Hochschulleitung und -verwaltung auch in der Corona-Krise als gut eingeschätzt. Hier wünschen sich lediglich weniger als ein Drittel der Lehrenden (29 %) und etwas mehr als ein Drittel der Studierenden (36 %) mehr Unterstützung durch Hochschulleitung und -verwaltung. Etwas anders sehen die Ergebnisse aus, wenn nach der Unterstützung durch die Politik in der Pandemie-Situation gefragt wird. Von mehr als der Hälfte der Studierenden (57 %) wird die politische Unterstützung als nicht ausreichend angesehen. 43 % (bzw. 46 %) der künstlerisch Lehrenden wünschen sich hier ebenfalls mehr Unterstützung vonseiten der Politik.

In Bezug auf die technische Ausstattung lässt sich festhalten: Besonders verbesserungsbedürftig ist aus Sicht der Lehrenden die technische Ausstattung der Studierenden (59 %) und der Hochschulen (50 % bzw. 58 %). Auch für die Studierenden spielt die eigene technische Ausstattung eine bedeutende Rolle im Hinblick auf den aktuellen Verbesserungsbedarf (50 %). Die Ausstattung der Hochschulen wird dagegen lediglich von 40 % der Studierenden als verbesserungswürdig eingestuft. Von größerer Bedeutung ist aus Studierendensicht hingegen, dass die Hochschulen ein gemeinsames Verständnis im Hinblick auf den sinnvollen Einsatz digitaler Formate in der Hochschullehre entwickeln (49 %). Diese Notwendigkeit sieht auch etwa die Hälfte der Lehrenden (45 % bzw. 47 %).

Chancen und Grenzen digitaler Lehrformate

Die Lehrenden an den Musikhochschulen sind mehrheitlich der Ansicht (72 % bzw. 69 %), dass im Hinblick auf digitale Lernformate und Kommunikation im Zuge der Corona-Krise Maßnahmen umgesetzt wurden, die ohne die vorübergehenden Hochschulschließungen deutlich später oder gar nicht umgesetzt worden wären. Die Studierenden teilen weitgehend diese Ansicht (61 %) und wünschen sich mit 63 % mehrheitlich die Möglichkeit, auch nach Aufhebung der Hochschulschließung, Online-Lehrangebote parallel zur Präsenzlehre wahrnehmen zu können. Als bevorzugte Unterrichtsformate in der Hochschullehre werden von Lehrendenseite die Videokonferenz (89 %) und die Versendung schriftlicher Aufgaben per E‑Mail (51 %) genannt.

Methodische Einschränkungen aufgrund der digitalen Formate empfinden Lehrende vor allem im Hinblick auf die Flexibilität und Spontanität ihres methodischen Handelns, die methodische Vielfalt und den Abwechslungsreichtum ihrer Lehre sowie die Organisation von Gruppenarbeitsphasen der Studierenden. Fachliche Einschränkungen werden in der wissenschaftlichen Lehre vor allem im Hinblick auf praktische Erprobungen und Experimente, fachliche Diskussionen unter den Studierenden und kreatives Arbeiten benannt. In der künstlerischen Lehre sind es hingegen das kammermusikalische Zusammenspiel, das lebendige Musizieren sowie Vorspielsituationen, die als besonders eingeschränkt wahrgenommen werden.

Bild: Orchester

Unterschiede zwischen künstlerisch und wissenschaftlich Lehrenden

Was die Studie insbesondere offenlegt, sind deutliche Unterschiede im Antwortverhalten von künstlerisch und wissenschaftlich Lehrenden. Diese zeigen sich vor allem im Hinblick auf den Arbeitsaufwand und die Bewertung digitaler Lehrformate.

So gibt der überwiegende Teil der wissenschaftlich Lehrenden an, dass die Umstellung auf Distanzlehre und digitale Lehrformate in Vorlesungen und Seminaren mit einem deutlich höheren Arbeitsaufwand verbunden ist (83 %). Dieser Wert vergrößert sich sogar noch einmal in der zweiten Befragungsrunde zum Semesterende (87 %). Demgegenüber reklamieren nur etwas mehr als die Hälfte der künstlerisch Lehrenden ebenfalls einen erhöhten Arbeitsaufwand im Einzel- und Kleingruppenunterricht (56 % bzw. 60 %).

Insgesamt etwas mehr als die Hälfte der Lehrenden (53 % bzw. 52 %) kann sich vorstellen, auch über die Krise hinaus digitale Formate in der Lehre einzusetzen. Allerdings ist auch in dieser Frage die Meinung innerhalb der Kollegien deutlich gespalten. Während mehr als zwei Drittel der wissenschaftlich Lehrenden auch weiterhin digitale Lehrformate als Teil ihres Lehrangebots verwenden wollen (71 %), ist bei den künstlerisch Lehrenden nur weniger als die Hälfte der Befragten dazu bereit (42 %). Und auch innerhalb der Gruppe der künstlerisch Lehrenden gehen die Meinungen über die Eignung digitaler Lehrformate im Rahmen künstlerischer Studiengänge noch einmal deutlich auseinander: Lediglich 2 % der künstlerisch Lehrenden erachten digitale Lehrformate als vollwertige Ersatzform zum herkömmlichen Präsenzunterricht; 41 % (bzw. 28 %) sehen darin zumindest noch eine praktikable Ergänzungsform; wohingegen 16 % (bzw. 22 %) der künstlerisch Lehrenden digitale Formate als gänzlich ungeeignete Vermittlungsform im Rahmen des künstlerischen Studiums ablehnen. Zudem zeigt sich hier eine gewisse Dynamik im Vergleich der beiden Erhebungszeiträume: Die Akzeptanz digitaler Lehrformate unter den künstlerisch Lehrenden ist über den Semesterverlauf hinweg deutlich rückläufig.

Ausblick

Die durch die Corona-Pandemie bedingte Notwendigkeit der digitalen Lehre hat im Sommersemester 2020 dazu geführt, dass sich die Lehrenden an den deutschen Musikhochschulen sowohl im wissenschaftlichen als auch im künstlerischen Bereich nolens volens mit digitalen Lehrformaten auseinandersetzen mussten. Für viele von ihnen war das eine große organisatorische, psychische und hochschuldidaktische Herausforderung – von Fragen der technischen Nachrüstung und mangelnder Medienkompetenz bis hin zur Umstellung der Lehre und der Entwicklung neuer digitaler Lehrkonzepte. Während unter den Befragten weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass die krisenbedingten Einschränkungen allgemein zu einem großen Innovations- und Digitalisierungsschub geführt haben, sind die konkreten Erfahrungen mit digitaler Lehre geteilt.

Zwar will eine Mehrheit der Lehrenden digitale Lehre als Ergänzungsformat weiterhin beibehalten. Und auch die Studierenden betonen die Chancen dieser Mischformen beispielsweise im Hinblick auf flexiblere Studiengestaltungsmöglichkeiten. Dennoch gehen in dieser Frage die Meinungen zwischen künstlerisch und wissenschaftlich Lehrenden deutlich auseinander. Aus Sicht der Hochschulleitungen ist es wichtig, sich dieser Tatsache der gespaltenen Kollegien bewusst zu sein. Denn hier liegt sicher eine der wesentlichen Herausforderungen für die Zukunft, dieser zunehmenden Spaltung im Hinblick auf die Digitalisierungsfrage durch kollegialen Austausch, gezielte Fortbildung und durch die gemeinsame Entwicklung eines Leitbilds zur digitalen Lehre an künstlerischen Hochschulen entgegenzuwirken. In welcher Form dies möglich und sinnvoll ist, muss an den Hochschulen selbst im engen Austausch mit den Beteiligten und unter Anerkennung ihrer besonderen Bedürfnisse diskutiert werden.

Besonders auffällig im Gesamtergebnis der Studie ist zudem die hohe Arbeitsbelastung sowohl der Studierenden als auch der Lehrenden. Ob sich diese Mehrbelastung hauptsächlich aufgrund der Einarbeitung und der Neugestaltung von Lehrformaten ergibt und ob sich dieser Faktor im Laufe der Zeit möglicherweise wieder normalisiert, bleibt zu untersuchen. Darüber hinaus sollten die konkreten Gründe für die geringe Bereitschaft der künstlerisch Lehrenden, digitale Formate zu nutzen, an den jeweiligen Hochschulstandorten herausgearbeitet werden, um gegebenenfalls entsprechend unterstützende Investitionen wie die technische Ausrüstung passender Räumlichkeiten mit qualitativ hochauflösendem Video- und Audio-Equipment und weitgehend latenzfreien Übertragungsmöglichkeiten vornehmen zu können.

Die Studienergebnisse im Einzelnen können auf der Website der Hochschule für Musik und Theater Rostock eingesehen werden.

Literatur

  • Deverich, R. K. (1998). Distance education strategies for strings: A framework of violin instruction for adult amateurs. Doctoral dissertation, University of Southern California.

 

 

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